Augustin Souchy - Zweiter internationaler Anarchistenkongreß (1971)

Vor wenigen Jahren war das Wort Anarchismus in aller Munde. Studentenunruhen von Mexico bis Warschau, Straßendemonstrationen mit Gewalttaten aller Art, Attentate in Italien, alles sollte das Werk von Anarchisten sein. Als 1968, wenige Monate nach den Pariser Maiunruhen, in Oarracas der erste internationale Anarchistenkongreß der Nachkriegszeit stattfand, schrieb die gesamte Weltpresse darüber, inzwischen hat sich der Anarchistenschreck gelegt. Vom II. internationalen Kongreß anarchistischer Föderationen, der vom 1. bis 4. August dieses Jahres in Paris stattfand, nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz. Nur die Tageszeitung „Le Monde" brachte einen Bericht hierüber.

Auf dem Kongreß waren Anarchisten aus einundzwanzig Ländern anwesend, was immerhin beachtlich ist für eine Bewegung, die für Abschaffung jeglicher Beherrschung von Menschen durch Menschen kämpft. Unter den Delegierten sah man Vertreter der Anarchistischen iberischen Föderation (F.A.I.), die sich als Inspiratoren der spanischen Syndikalisten verstehen und ihre Ziele mit Hilfe anarchosyndikalistischer Gewerkschaften (CNT) erreichen wollen.

Die französischen Anarchisten waren durch drei selbständige Landesorganisationen vertreten. Die stärkste dürfte die Anarchistische Föderation (F.A.) mit ihrer Zeitung „Monde Libertaire" sein. Danach folgt die Organisation Revolutionärer Anarchisten (O.R.A.), deren Publikationsorgan den Namen „Front Libertaire" trägt, während die Union Föderierter Anarchisten (U.F.A.) keine periodische Schrift herausgibt. In allen größeren und den meisten kleineren Städten Frankreichs gibt es anarchistische Gruppen, die an allen sozialen Bewegungen aktiv Anteil nehmen. Obwohl sich die französischen Anarchisten im Grundsätzlichen einig sind, gibt es unter ihnen doch gewisse Nuancen. Die Organisation Revolutionäre Anarchisten (O.R.A.) hält zwar an Bakunin fest, neigt aber gleichzeitig zu den ökonomischen Theorien von Karl Marx. Marxistische Klischeebegriffe wie „Kapitalismus", „Klassenkampf", „Imperialismus" etc. findet man immer wieder in ihren Publikationen. Dagegen bekennen sich die italienischen Anarchisten (FAI) nach wie vor zu den Grundsätzen des klassischen Anarchismus, besonders zu den Lehren von Kropotkin und Malatesta.

Die Delegierten aus Deutschland, Holland, den anglosächsischen Ländern und Skandinavien (Dänemark und Norwegen) waren Jugendliche, Vertreter von Gruppen ohne organisatorischen Zusammenhang mit der älteren anarchistischen Bewegung. Der holländische Delegierte erklärte in seinem schriftlichen Bericht, daß seine Gruppe aus den Provos, den jungen Nonkonformisten der sechziger Jahre hervorgegangen sei, die sich gegen die Konsumgesellschaft auflehnten und ihr eigenes Leben sozusagen außerhalb der etablierten Gesellschaft führen wollten. Ihre Ablehnung des „Establishments" brachte sie in Konflikt mit den bestehenden Autoritäten und führte sie zur antiautoritären Ideologie und schließlich ins Lager der Anarchisten. Ähnlich ist die Entstehungsgeschichte der junganarchistischen Bewegung in anderen Ländern. Zu den klassischen anarchistischen Theorien hat sie keine historische Kontinuität.

Auch unter den lateinamerikanischen Delegationen zeigten sich Divergenzen, die nicht zuletzt auf den Generationsunterschied zurückzuführen sind. Unstimmigkeiten begannen mit einem Vorstoß der spanischen FAI-Delegation gegen die Kubaner, ein Angriff, der von den Delegierten Costa Ricas und Uruguays unterstützt wurde, und neben einer sachlichen auch eine persönliche Note hatte. Anlaß dazu gab unter anderem ein Schriftstück der Kubanischen Freiheitlichen Bewegung (M.L.C.), in dem es heißt: „Wir müssen uns hüten, erneut in die Fehler wirklichkeitsfremder Verallgemeinerungen zu fallen und uns mit aller Entschiedenheit gegen jedes Totalitätsregime wenden, das die Menschenrechte mit Füßen tritt. Wir müssen unterscheiden zwischen einem Totalitätsregime und jenen Regierungssystemen, die die Menschenrechte anerkennen und anarchistische Organisationen zulassen. Wir müssen dafür kämpfen, daß der technische Fortschritt allen Menschen zugute kommt. Das kann durch Gründung von Produktions- und Konsumgenossenschaften und durch freiwillige Zusammenschlüsse aller Art gefördert werden. Wir sind der Auffassung, daß die Periode der heroischen Revolutionen der Vergangenheit angehört. Man muß sich endgültig freimachen von der Idee, die Revolution 'aufzwingen' und dadurch die 'Anarchie einführen' zu wollen. Dagegen sollten wir alle Bewegungen unterstützen, die sich für mehr Freiheiten und für die soziale Gerechtigkeit einsetzen und gleichzeitig alle Regierungsformen und Bewegungen bekämpfen, die Völker und Menschen versklaven, wie die Totalitätsregime es tun. Unsere Militanten sollten sich in der Arbeiter, Bauern- und Studentenbewegung sowie in allen Volksgruppierungen betätigen, um bei jeder Gelegenheit die Freiheiten und die soziale Gerechtigkeit zu verteidigen. Alle Völker, ob groß oder klein, haben das Recht, in Freiheit zu leben. Wir sollten uns aber auch nicht scheuen, offen auszusprechen, daß die Länder der sogenannten Dritten Welt diktatorischer sind als die von ihnen bekämpften Länder."

Die Verlesung dieser Erklärung rief eine heftige Reaktion hervor. Die Diskussion hierüber dauerte volle zwei Tage. Als im Verlauf der Debatte die Beobachter das gleiche Recht zur Mitsprache forderten wie die Delegierten es hatten, kam es zu tumultartigen Szenen. Schließlich wurde mit 14 gegen 4 Stimmen bei 4 Enthaltungen der Standpunkt der Kubaner als „bürgerlicher Liberalismus" verworfen. In Wirklichkeit sind die Gedankengänge der freiheitlichen Bewegung Kubas in voller Übereinstimmung mit den Ideen Kropotkins, der in seiner Schrift „Der moderne Staat" sagt: „Die Anarchisten machen sich die ausgesprochene Tendenz unserer Zeit zunutze, Tausende verschiedener Gruppierungen zu gründen, die darauf ausgehen, für alle Aufgaben, die der Staat an sich gerissen hat, an die Stelle „des Staates zu treten".

Angesichts der grundsätzlichen Unvereinbarkeit, zu der noch eine gewisse hostile Stimmung kam, hielt die kubanische Delegation ihr Verbleiben auf dem Kongreß für zwecklos. Bei dem Verlassen des Kongresses erklärten sie: „Die freiheitliche Bewegung Kubas (M.L.C.), die in den sozialen Freiheitskämpfen traditionell verwurzelt ist und im Kampf gegen die Batistadiktatur in den vordersten Reihen gestanden hat, ließ sich auf dem II. Internationalen Anarchistenkongress vertreten in der Absicht, die Tragödie der kubanischen Revolution zu klären, die in die blutige castrokommunistische Totalitätsdiktatur stalinistischen Typs ausartete. In Anbetracht, daß die schriftlich niedergelegten Gesichtspunkte unserer Bewegung verworfen und unsere ideologischen und taktischen Konzepte feindselig aufgenommen wurden, halten wir die weitere Teilnahme an den Arbeiten des Kongresses für nutzlos."

Der weitere Verlauf des Kongresses brachte nichts Erregendes. Der Gedankenaustausch der Delegierten hatte keine sozialrevolutionäre Relevanz. Mit den nationalrevolutionären Guerillas haben sich die Anarchisten nicht identifiziert, dagegen zeigten der kostarikanische und uruguayische Delegierte für die Tupamaros Sympathien. Ein Vorschlag, das Wort Anarchismus durch die Vokabel „freiheitlicher Kommunismus" zu ersetzen, wurde als Einengung der anarchistischen Ideologie empfunden und abgelehnt. Auch der Gedanke einer gemeinsamen Kampf- oder Revolutionsstrategie, die die anarchistischen Gruppen der ganzen Welt zu einer synchronisierten Taktik verpflichten würde, fand keine Zustimmung. Bindende Beschlüsse wurden nicht gefaßt. Die Frage über Ort und Zeit des nächsten Kongresses wurde offen gelassen.

Der Kongreß war ein Treffen von an den Sozialproblemen unserer Zeit engagierten Menschen, von Freiheitskämpfern, die sich durch Gegenüberstellung ihrer Ansichten und Austausch ihrer Erfahrungen in ihrem Glauben an die Notwendigkeit zukünftiger Freiheitskämpfe bestärken wollten. Mehr konnte er nicht sein, mehr hatten seine Teilnehmer nicht erwartet.

Originaltext: Zeitgeist Nr. 13/1971 (13. Jahrgang). Digitalisiert von www.anarchismus.at


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