Erich Mühsam - Wider die Zensur!

Wo die Kultur des Geistes frei, stark, um kein Reglement bekümmert Werte schafft, da weckt sie zugleich mit der Freude zukunftsfroher Menschen das Mißtrauen aller, die in der Versteinung der Gewohnheiten die Gewähr für die Ungestörtheit ihrer Bequemlichkeit ehren. Das sind die Spießbürger, die (mögen sie politisch wählen, wen sie wollen) die Kerntruppe aller Reaktion bilden, weil sie sich in der Stagnation ihres eigenen Lebensinhaltes nur sicher fühlen, wenn auch außerhalb ihrer persönlichen Gehirnsphäre jede Emotion gebremst ist. Es läßt sich leider nicht in Abrede stellen, daß der dem Geiste widerstrebende Rumpf der Unkultur aus der gewaltigen Überzahl aller Mitmenschen besteht. Die einzige, aber furchtbare Waffe dieses Heeres gegen den Geist ist Indolenz und Passivi­tät. Die völlige Teilnahmslosigkeit der Meisten, die gänzliche Abwesenheit von Initiative, Produktivität und Kritik bei ihnen, die die letzte Ursache aller Regierung ist, hat sich unbewußt und ohne Ahnung von solchen Zusammenhängen das aktive Werkzeug gegen die vitalen Mächte schaffender Geistigkeit selbst geboren.

Der dumpfe Haß der Bequemlichkeit gegen das Leben ist Behörde geworden. Das gähnende Maul träger Geschäftlichkeit schnaubt Paragraphen aus. Die Polizei, ihrem ursprünglichen Wesen nach die Dienst­magd der Allgemeinheit, hat sich, da sie ihren Auftraggeber willenlos und zur Abwehr unlustig fand, zu ihrer Herrin ge ­macht. Die nahezu unumschränkte Macht, die die Polizei sich nach und nach und ohne bei ihrem Brotherrn Widerstand zu finden, erobert hat, und die heute schon weit größer ist, als die Macht von Fürsten und Gesetzgebern, mußte ganz natür­lich eine unbändige Herrschsucht mit sich großziehen, eine Herrschsucht, die — ebenso natürlich — ihre Spitze hauptsäch­lich gegen die Wenigen richtet, die sich nicht gottergeben in jede Laune fügen mögen.

Man mag sagen, Polizei ist ein Abstraktum, etwas Unper­sönliches also, das persönliche Eigenschaften nicht haben und nur in einzelnen Beamten betätigen kann. Aber das ist falsch. Es gibt Abstrakta, die in ihren Daseinsäußerungen völlig aus­ geprägte Charakteristika zeigen, als wenn ein leibhaft funktio­nierendes Gehirn in ihnen arbeitete. Das gilt für den Staat, für die Polizei, für Ministerien, Redaktionen, Gerichtsbarkeiten etc. Das einzelne Individuum, das als Beamter oder Teilnehmer Sub­strat des abstrakten Wesens ist, denkt, fühlt und handelt ganz anders als der Organismus, dessen Teil er ist. Der einzelne Polizeibeamte kann ein ganz prächtiger Mensch sein, ja, alle Polizeibeamte können vortreffliche Menschen sein, die in ihrem privaten Charakter niemanden wehtun möchten und ganz frei­heitlich empfinden. Aber zur Behörde vereinigt, streifen sie ihre persönliche Wesenheit ab, und es entsteht ein unsichtbares abstraktes Ungeheuer, es entsteht eine korporative Seele, die selbständige Persönlichkeit in sich entwickelt, selbständig denkt und selbständig fühlt, die sogar ausgeprägter Affekte fähig ist, aber, weil sie keinen Horizont hat, in all ihren Maß­nahmen lähmend und lebenerstickend wirkt.

Wenn diese fast metaphysische Erklärung richtig ist, kann ich, ohne einzelnen Personen nahezutreten, die ihre Funk­tionäre sind, von der Polizei behaupten, daß sie herrsch- und rachsüchtig ist, und daß ihren Sinn gegen alles, was sich ge­gen ihre Tyrannei auflehnt, ein unversöhnlicher und ungebändigter Haß beseelt.

Wesen und Zweck der Polizei ist, die Abwicklung alles öf­fentlichen Geschehens zu regulieren, einzuschachteln und zu nummerieren. Das Recht zu verbieten und zu stra­fen hilft ihr zur Erfüllung ihrer Aufgabe und das indifferente Allesdulden der Spießbürger erleichtert ihr die Tätigkeit. Aus­serhalb der paragraphierten Geschäftsordnung steht der Mensch des geistigen Lebens, der Forscher und der Künstler. Die Po­lizei hat einen Instinkt dafür, daß auch hier ein Korporativwille waltet und zwar ein solcher, der der Beschaffenheit der amt­lichen Seele diametral entgegensteht. Auf diesen Willen rea­giert die Polizei mit Haß, und dieser Haß ist gemeingefährlich, weil er sich auf physische Machtmittel stützt.

Am unerfreulichsten ist der Polizei das Phänomen der Kunst. Denn — auch hier ist sie von richtigem Instinkt gelei­tet — Kunst als individuellster Ausdruck seelischer Beweglich­keit duldet kein Reglementieren und widersetzt sich seiner Natur gemäß gegen den Zwang einer schematischen Ordnung. Um diesen Widerstand zu beugen hat sich die Polizei wenig­stens gegen die Art Kunst, die zur Vermittlung an den Genießer fest organisierter Anstalten bedarf, eine Handhabe der Ober­aufsicht geschaffen: die Zensur.

Durch die Hintertür der Verordnung, da ein Staatsgesetz ihr den Weg nicht freigab, hat sich die Polizei die Möglichkeit gesichert, Kunst zu verhindern. Den Vorwand aber, Theater, Dichter und kunstwilliges Publikum zu schädigen, bietet ihr die Sittlichkeit, diese von Priestern eingeführte Institution, die der Kirche ihr Lebenselement, die Sünde, liefert. Damit trifft die Polizei die Kunst an ihrem wichtigsten Nerv, damit durch­sticht sie ihr die Schlagader. Denn die Achse, um die alles Le­ben kreist, ist die Sinnlichkeit, und der stärkste Antrieb aller Kunst ist die Erotik. Das abstrakte Gehirn der Polizei aber ist unsinnlich, unerotisch, daher verfolgt sie alles, was vom Geschlechtlichen weiß, was das Geschlechtliche im Menschen bejaht, mit ihrem Haß.

Wieder einmal hat sich der Haß der Münchner Polizei, die in ihrer sittlichen Beschränktheit jede Schwesterbehörde in den Schatten stellt, gegen ein Kunstwerk von Weltbedeutung ent­laden. Wedekinds dramatisches Gedicht „Simson oder Scham und Eifersucht“ ist ihrer Moral zum Opfer gefallen. Unter den Gratulanten zum fünfzigsten Geburtstage durfte der nicht feh­len, der dem Dichter das Leben seit Jahrzehnten vergällt, und der doch nicht hindern konnte, daß sein Werk den Geist un­serer Zeit reicher befruchtet hat als der jedes anderen Dichters. Seit Monaten war das Stück vom Schauspielhaus angenommen und der Zensur eingereicht, seit Wochen hatten die Proben ge­währt, zu denen Künstler von der Bedeutung Friedrich Kayßlers und Helene Fehdmers hergekommen waren, aber erst we­nige Tage vor der Aufführung kam, wie aus hämischer Absicht, das Verbot.

Es scheint, als wollte nun endlich auch der Münchener Zen­sur und ihrem lieblichen Beirat die Hybris kommen. Ich tue mir etwas darauf zugute, daß es meine Initiative, mein Entschluß und meine Tat war, eine öffentliche Versammlung zu veranstalten, um der Macht des Säbels die Macht des Geistes entge­genzustellen. Am 6. Juli sprach ich im vollbesetzten Saale der Schwabinger Brauerei über das Thema: „Die Bevormundung des Geistes durch den Säbel.“ Die Tagespresse („Münchn. Neueste Nachrichten“, „Münchner Ztg.“ und „Münchner Post“) hat dies­mal ihre Pflicht getan und ausführlich und korrekt über den Hergang der Versammlung referiert. Ich kann mir daher eine Wiederholung sparen. Der vorläufige Erfolg der Veranstaltung war der mit überwältigender Majorität angenommene Beschluß, folgender von mir vorgelegten Resolution zuzustimmen:

„Die am 6. Juli in der Schwabinger Brauerei tagende Ver­sammlung beschließt folgende Kundgebung: Die polizeiliche Theaterzensur ist ein Rudiment vormärz­licher politischer Zustände. Sie bewirkt die Unterbindung einer Verständigung zwischen den geistig Schaffenden und dem Volk. Sie bedeutet eine Bevormundung des kunstfreundlichen Publikums, die die Versammlung als überflüssig, schädlich und unwürdig bezeichnen muß.

Die Münchener Zensurbehörde insbesondere handhabt ihr Amt in einer Weise, die unausgesetzt Mißtrauen und Verbit­terung erregt. Das Verbot des dramatischen Gedichts „Simson“ von Frank Wedekind muß, nachdem das Werk in Wien und Berlin ohne Beanstandung aufgeführt worden ist, wie be­absichtigte Schikane wirken. Die Versammlung protestiert nachdrücklich gegen dieses Verbot und verurteilt gleichzeitig das Verhalten des Zensurbeirates in der Angelegenheit.

Die Versammlung erwartet, daß die dem Zensurbeirat an­ gehörenden Herren angesichts des subalternen Charakters und der Einflußlosigkeit ihrer Tätigkeit unverzüglich auf ihr Ehren­amt verzichten und sich solidarisch den gegen die Zensur gerichteten Bestrebungen ihrer Standes- und Bildungsgenos­sen anschließen werden.

Die Versammlung hält eine starke Volksbewegung für zeitgemäß und geboten, die die völlige Abschaffung der als überlebt und kulturwidrig erwiesenen Polizeizensur zum Ziele hat.“

Der Erfolg dieser Willensäußerung ist, wie gesagt, nur ein vorläufiger. Es wird gar keiner sein, wenn nicht starke Gegenmaßregeln gegen die kunstfeindlichen Handlungen der Zensur schleunigst ergriffen werden. Ob die Herren vom Zensurbeirat der Aufforderung von über 700 Akademikern und Künstlern folgen und ihr Amt niederlegen werden, ist dabei am wenigsten belangvoll. Tun sie es nicht, so wird man wissen, daß man sie allesamt neben Herrn v. Possart (dem in der Versammlung, nicht nur von mir, übel zugesetzt wurde) aus der Reihe der Kulturförderer streichen und in die Liste der Polizeifunktionäre einzureihen hat. Wenn sie sich in der Rolle von Amtsbe­ratern, deren Stimme nur gehört wird, wenn sie gegen die Kunst spricht, wohl fühlen, — dann verlieren wir anderen nicht viel mit diesen Kollegen.

Meine Vorschläge, praktische Mittel gegen die Zensur an­zuwenden, mußten sich auf platonische Anregungen beschrän­ken, die ich gleich bat, cum grano salis aufzufassen. Erstens stellte ich zur Erwägung, ob nicht die Theaterdirektoren, nach dem Beispiel der Berliner Filmfabrikanten, sich fortan weigern sollten, Stücke zur Zensur einzureichen. Wenn so etwas aus ideellen Gründen geschieht und das Publikum eine Zeit lang nur Rekapitulationen alter Reportoirestücke zu sehen bekommt, würde das doch vielleicht einen Druck auf die Regierung aus­ üben und mindestens die Zusicherung eines weniger rigorosen Verfahrens bewirken können. Als zweites Mittel deutete ich eine Möglichkeit an, wie man gegen jedes Zensurverbot durch Schädigung der kgl. bayerischen Staatskasse demonstrieren könnte, da ja die Münchner Polizei jeden Protest der kommu­nalen Behörden damit beantwortet, daß sie eine königliche Ein­richtung sei, die Stadt ihr also nichts zu sagen habe.

Man sollte deshalb versuchen, meinte ich, nach jedem Zensur­verbot einen vierwöchigen Demonstrationsboykott über das staatliche Institut zu verhängen, das am meisten auf das Wohl­wollen des Publikums angewiesen ist: über das Hofbräuhaus. Meine Bedenken gegen diesen Vorschlag habe ich gleich selbst geäußert, deshalb hätten die „Münchner Neuesten Nachrichten“ nicht garso schweres Geschütz dagegen aufzufahren brauchen. Dieser Passus war ja auch wirklich nicht der wichtigste in meiner Rede. Da das Blatt indessen auffordert, ernste Vorschläge zu machen, wie dem Mißstande der Polizeizensur zu begegnen sei, will ich eine weitere Anregung zur Diskussion stel­len, die ich auf ihre Durchführbarkeit juristisch zu prüfen bitte. Bekanntlich hat die Münchner Polizei für geschlossene Auf­führungen ganz bestimmte Normen aufgestellt, die sehr streng sind, aber wenn sie strikt innegehalten werden, die Zensur der Möglichkeit einer Einmischung berauben. Danach kann ein Verein für seine Mitglieder und deren Angehörige, falls auf öffentliche Voranzeigen und auf Billetenverkauf an der Abendkasse verzichtet wird, zensurfreie Aufführungen veranstalten.

Die Bestimmung, daß auch im redaktionellen Teil der Zeitungen keine Mitteilungen erfolgen dürfen, halte ich für ungesetzlich. Das ist ein Versuch, auf Umwegen wieder eine Zeitungszensur einzurichten, gegen den die Presse sich energisch wehren sollte. — Um nun die Verbote der Polizeizensur dauernd un­wirksam zu machen, schlage ich folgendes Mittel vor: Nach jedem Verbot konstituiert sich ein besonderer Verein mit dem Zwecke, seinen Mitgliedern und deren Angehörigen die betref­fende Vorstellung zugänglich zu machen.

Zum Beispiel: Es konstituiert sich der Verein „Simson.“

Statuten:
§ 1 . Zweck des Vereins ist, seinen Mitgliedern und deren Angehörigen die Vorstellung von Frank Wedekinds dramatischem Gedicht „Simson“ in München zugänglich zu machen.
§ 2. Der einmalige Beitrag beträgt 1 Mark.
§ 3. Jedes Mitglied hat das Recht, den vom Verein zu ver­anstaltenden geschlossenen Aufführungen des „Simson“ beizu­wohnen und seine Familienmitglieder mit einzuführen.
§ 4. Als Entgelt für jede Vorstellung hat das Mitglied den jeweils gültigen Preis für seine Plätze im Theater zu bezahlen. Das erste Mal erhält das Mitglied für seine Person 1 Mark Er­mäßigung.
§ 5. Geschlossene Vorstellungen werden veranstaltet, so oft eine genügend große Zahl Mitglieder vorhanden ist, die noch an keiner Aufführung teilgenommen haben, oder sobald von einer genügend großen Zahl alter Mitglieder eine Wiederholung gewünscht wird.
§ 6. Der Verein löst sich auf, falls das Drama von der Zensur freigegeben wird, oder falls sein Zweck mangels Beteiligung neuer Mitglieder gegenstandslos geworden ist.
§ 7. Im Falle der Auflösung des Vereins wird das Vereins­vermögen unter denjenigen Mitgliedern aufgeteilt, die an keiner der vom Verein veranstalteten Aufführungen teilgenommen haben.

Ich bin nicht Jurist genug, um beurteilen zu können, ob die Polizei irgendwelche rechtliche Möglichkeiten hätte, solchen Vereinen ihren Zweck zu unterbinden. Daher bitte ich die Ta­geszeitungen, soweit sie die Abschaffung der Zensur zu ihrer eigenen Forderung gemacht haben, sich mit meiner Anregung zu beschäftigen. Falls der Vorschlag gut ist, bitte ich interessierte Persönlichkeiten fofort zwecks Konstituierung des Ver­eins mit mir in Verbindung zu treten. Vielleicht spielt dann Kayßler doch noch bei uns den Simson.

Natürlich dürfen wir uns nicht mit solchem Katz- und Mausspielen mit der Polizei zufrieden geben. Die Forderung, die im letzten Absatz der Resolution zum Ausdruck kommt, muß mit allem Nachdruck in ganz Deutschland erhoben werden. Die Polizeizensur muß rasch und dauernd aus dem geistigen Leben des deutschen Volkes verschwinden.

Ich wiederhole deshalb hier den Aufruf, mit dem ich meine Rede in der Versammlung schloß, und den ich auch in der von Friedenthal besorgten Wedekind-Anthologie, die in diesen Ta­gen bei Georg Müller erscheint, zur Geltung brachte:

Alle Organisationen, die künstlerische und kulturelle Ten­denzen verfolgen, mögen sich in der Forderung vereinigen: fort mix der Zensur! Mit diesem Streben möge der Goethebund zu neuem Leben erwachen! Diesen Schlachtruf mögen alle künst­lerischen Vereine erheben, alle Organisationen der Schriftstel­ler, Schauspieler, Theaterdirektoren, bildenden Künstler und Musiker. In Schriften und Volksversammlungen mögen sie Stimmung machen gegen die Einrichtung, die den Geist unter die Willkür ungeistiger und kulturfeindlicher Mächte beugt. Was die Polizei treibt, mit der Macht des Gewalthabers ge­gen den Geist und die Kunst zu arbeiten, das ist Haß. Wir, die wir die große Liebe zum Geist und zur Kunst haben, wir wol­len gegen Gewalt und Bevormundung auch in uns den gro­ßen Haß züchten. — Und ihn betätigen!

Nachtrag: Inzwischen ist die Beschwerde des Direktors Stollberg gegen das Verbot des „Simson“ von der Regierung zurückgewiesen worden. Wer lacht da? Der Ministerialrat ist Vorgesetzter des Polizeipräsidenten, über beiden steht der Minister. Kein Verbot erfolgt ohne Zustimmung aller dieser Leute, die nachher mit ernster Miene das Verbot bestätigen. Die Staatsbürger aber lassen sich diese Instanzenkomödie ge­fallen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 4. Jahrgang, Nr. 4/1914. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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