Errico Malatesta - Bolschewismus und Anarchismus (1923)

Zum Buch Luigi Fabbris: „Diktatur und Revolution“ (Vorwort zur spanischen Ausgabe)  (Libero Accordo, 7. November 1923)

Das Buch Luigi Fabbris zur russischen Revolution behält auch jetzt noch, ungefähr zwei Jahre nach seinem Erscheinen, seine ganze Aktualität und bleibt die vollständigste und wesentlichste Arbeit, die ich zu diesem Thema kenne. Die späteren Ereignisse in Rußland haben den Wert dieser Analyse sogar noch bekräftigt und die Schlüsse, die Fabbri aus den damals bekannten Tatsachen und den allgemeinen anarchistischen Grundsätzen zog, wurden durch die Erfahrung ausdrücklich bestätigt.

Gegenstand des Buches ist jener alte, ewige Konflikt zwischen Autorität und Freiheit, der die ganze vergangene Geschiebe geprägt hat, der die Welt der Gegenwart mehr als zuvor kennzeichnet und von dessen Wechselfällen das Schicksal der gegenwärtigen und der kommenden Revolutionen abhängen wird.

Die russische Revolution lief mit dem Rhythmus aller bereits vergangenen Revolutionen ab. Nach einer aufsteigenden, größere Gerechtigkeit und größere Freiheit anstrebenden Periode, die solange dauerte, wie das Volk die bestehende Macht angriff und zerschlug, erfolgte, sobald es einer neuen Regierung gelungen war, sich zu konsolidieren, die Periode der Reaktion. Die Tätigkeit der neuen Regierung - bisweilen langsam und schrittweise, bisweilen rasch und gewaltsam vorgehend - war darauf ausgerichtet, die Errungenschaften der Revolution so weit wie möglich zu zerstören und eine Ordnung zu errichten, die die Fortdauer der neuen regierenden Klasse an der Macht garantieren und die Interessen sowohl der neuen als auch der alten Privilegierten schützen sollte, denen es gelungen war, den Sturm zu überstehen.

Dank außergewöhnlicher Bedingungen konnte das Volk in Rußland das Zarenregime zerschlagen, baute es aus freier und spontaner Initiative seine Sowjets auf (lokale Arbeiter- und Bauernkomitees, direkte Vertreter des arbeitenden Volkes und der unmittelbaren Kontrolle der Betroffenen unterstellt), enteignete es die Industriellen und Großgrundbesitzer und begann, auf der Grundlage von Gleichheit, Freiheit und - wenn auch relativer - Gerechtigkeit das neue gesellschaftliche Leben zu organisieren.

So schritt die Revolution voran und schickte sich unter Vollbringung der gewaltigsten sozialen Erfahrung der Geschichte an, der Welt das Beispiel eines großen Volkes zu geben, das aus eigener Kraft und unter Aufbietung all seiner Fähigkeiten seine Befreiung verwirklicht und sein Leben entsprechend seinen Bedürfnissen, seinen Neigungen und seinem Willen organisiert, ohne den Druck einer äußeren Gewalt, die es hemmt und zwingt, den Interessen einer privilegierten Kaste dienstbar zu sein.

Unglücklicherweise gab es jedoch unter denen, die am meisten dazu beigetragen hatten, dem alten Regime den entscheidenden Schlag zu versetzen, doktrinäre Fanatiker, voll verbissener Autorität, da sie fest davon überzeugt waren, im Besitz der „Wahrheit“ zu sein und die Aufgabe zu haben, das Volk zu retten, das sich ihrer Meinung nach nur auf den von ihnen angegebenen Wegen retten konnte. Sie profitierten von dem Ansehen, das ihnen ihre Beteiligung an der Revolution verlieh und insbesondere von der Stärke, die ihnen ihre eigene Organisation vermittelte, und so gelang es ihnen, die Macht zu erobern und die anderen zur Ohnmacht zu verurteilen, darunter besonders die Anarchisten, die nach Kräften zur Revolution beigetragen hatten, sich jedoch ihrer Machtergreifung nicht wirksam widersetzen konnten, weil ihre Reihen aufgelöst waren, es keine vorherigen Verständigungen gegeben hatte, sie nahezu ohne jede Organisation waren.

Von diesem Zeitpunkt ab war die Revolution zum Tode verurteilt.

Die neue Macht wollte - wie es in der Natur aller Regierungen liegt - in ihren Händen das gesamte Leben des Landes konzentrieren und jede Initiative, jede Bewegung unterdrücken, die innerhalb des Volkes entstehen sollte. Sie schuf zu ihrer Verteidigung zunächst ein Korps von Leibwächtern und dann eine reguläre Armee und eine mächtige Polizei, die an Grausamkeit und freiheitstötendem Wahn noch die des zaristischen Regimes übertraf. Sie ließ eine unüberschaubare Bürokratie entstehen, verwandelte die Sowjets in bloße Werkzeuge der Zentralmacht oder löste sie mit der Gewalt der Bajonette auf. Sie unterdrückte mit - oft blutiger - Gewalt jeden Widerstand; sie versuchte, den widerstrebenden Bauern und Arbeitern ihr soziales Programm aufzuzwingen und entmutigte und lahmte so die Produktion. Zwar verteidigte sie das russische Territorium mit Erfolg gegen die Angriffe der europäischen Reaktion, doch gelang es ihr damit nicht, die Revolution zu retten, denn sie hatte sie selbst abgewürgt obwohl sie versuchte, ihren formalen Schein zu wahren. Und jetzt bemüht sie sich um die Anerkennung der bürgerlichen Regierungen, versucht sie mit ihnen freundschaftliche Beziehungen anzuknüpfen, das kapitalistische System wiederherzustellen, kurz, die Revolution endgültig zu begraben So wurden alle Hoffnungen verraten, die die russische Revolution beim Proletariat der ganzen Welt hervorgerufen hatte. Sicher wird Rußland nicht zum vorherigen Zustand zurückkehren, denn eine große Revolution geht nicht vorüber, ohne tiefgehende Spuren zu hinterlassen, ohne den Geist des Volkes wachzurütteln und ihn zu erheben und ohne neue Möglichkeiten für die Zukunft zu schaffen Doch werden die erreichten Ergebnisse weit hinter dem zurückbleiben was hätte sein können und was man erhofft hatte, und in keinerlei Verhältnis zu den erlittenen Leiden und den Mengen vergossenen Blutes stehen.

Wir wollen hier die Suche nach den Verantwortlichen nicht zu sehr vertiefen. Sicher trifft große Schuld an der Niederlage die autoritäre Richtung, die man der Revolution gab; große Schuld trifft auch die eigenartige Psychologie der regierenden Bolschewisten, die sich zwar irrten und ihre Irrtümer erkannten und zugaben, aber dennoch von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt blieben und nach wie vor mit Gewalt ihren wankelmütigen und widersprüchlichen Willen durchsetzen wollten. Genauso oder noch mehr trifft es jedoch zu, daß sich diese Menschen mit noch nie dagewesenen Schwierigkeiten konfrontiert sahen und daß vielleicht vieles von dem, was uns Irrtum und böser Wille zu sein scheint, unausweichliche Folge der Notwendigkeit war.

Und daher werden wir uns gerne eines Urteils enthalten und es der objektiven und unparteiischen Geschichte überlassen, später ihr Urteil darüber zu sprechen - sofern es eine objektive und unparteiische Geschichte überhaupt gibt Doch gibt es in Europa eine ganze Partei, die vom russischen Mythos geblendet ist und den bevorstehenden Revolutionen gerade die bolschewistischen Methoden aufzwingen will, die die russische Revolution abgewürgt haben Daher ist es dringend notwendig, die Massen im allgemeinen und die Revolutionäre im besonderen vor der Gefahr diktatorischer Bestrebungen der Parteien mit bolschewistischen Tendenzen zu warnen. Und Fabbri hat der Sache einen außerordentlich großen Dienst erwiesen, indem er deutlich den Widerspruch zwischen Diktatur und Revolution aufgezeigt hat.

Das hauptsächliche Argument, dessen sich die Verteidiger der Diktatur bedienen die man weiterhin Diktatur des Proletariats nennt, in Wirklichkeit jedoch - darin stimmen nunmehr alle überein - Diktatur der Führer einer Partei über die ganze Bevölkerung ist, dieses hauptsächliche Argument ist die Notwendigkeit, die Revolution gegen die inneren Versuche bürgerlicher Restauration und gegen die etwaigen Angriffe der ausländischen Mächte zu schützen.

Es besteht kein Zweifel daran, daß man sich verteidigen muß, doch von dem System der Verteidigung hängt zum großen Teil das Schicksal der Revolution ab. Müßte man nämlich, um zu leben, auf die Gründe und Ziele des Lebens verzichten, müßte man zur Verteidigung der Revolution auf die Errungenschaften verzichten, die erstes Ziel der Revolution sind, dann wäre es besser, ehrlich zu unterliegen und das Recht der Zukunft zu retten, anstatt durch den Verrat an der eigenen Sache zu siegen.

Die innere Verteidigung muß gesichert werden, indem man radikal alle bürgerlichen Institutionen zerstört und jede Rückkehr zur Vergangenheit unmöglich macht.

Es ist vergebens, das Proletariat gegen die Bourgeoisie zu verteidigen, indem man letztere zu politischer Machtlosigkeit verurteilt. Solange es Leute gibt, die besitzen und Leute, die nichts besitzen, werden sich die Besitzenden stets über die Gesetze lustig machen, ja sie werden es sein, die wieder an die Macht gelangen und die Gesetze machen werden, wenn das erste Feuer des Volkes erst einmal erloschen ist.

Polizeimaßnahmen sind nutzlos: sie können der Unterdrückung, niemals jedoch der Befreiung dienen.

Fruchtlos, noch schlimmer: tödlich ist der sogenannte revolutionäre Terror. Sicher ist der Haß, der gerechte Haß, den die Unterdrückten in ihrem Herzen nähren, äußerst groß, sicher sind die Schandtaten der Regierungen und der Herren mehr als zahlreich, sicher sind der Beispiele der Grausamkeit von oben viele, ist die Verachtung des Lebens und der menschlichen Leiden, die die herrschenden Klassen an den Tag legen, unendlich, so daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn am Tage der Revolution die Rache des Volkes erbarmungslos und unvermeidlich ausbricht. Wir würden uns nicht darüber empören und auch nicht versuchen, sie einzudämmen, es sei denn durch Propaganda, denn dies mit anderen Mitteln tun wollen, hieße die Reaktion wachrütteln. Sicher ist jedoch unserer Meinung nach, daß der Terror für die Revolution eine Gefahr und nicht etwa eine Garantie für ihr Gelingen ist. Terror trifft im allgemeinen die am wenigsten Verantwortlichen; er ruft die schlimmsten Elemente auf den Plan, nämlich diejenigen, die unter dem alten Regime zu Schergen und Henkern geworden wären und nun glücklich sind, daß sie im Namen der Revolution ihren schlechten Trieben und finsteren Interessen freien Lauf lassen können.

Und das gilt auch dann, wenn es sich um den Terror des Volkes handelt, der direkt von den Massen gegen ihre Unterdrücker ausgeübt wird. Sollte nämlich der Terror dann von einem Zentrum organisiert und auf Befehl der Regierung mittels Polizei und sogenannten Revolutionsgerichten ausgeübt werden, dann wäre er das sicherste Mittel zur Zerstörung der Revolution und würde nicht so sehr gegen die Reaktionäre als gegen die Freiheitsliebenden ausgeübt werden, die sich den Befehlen der neuen Regierung widersetzen und die Interessen der neuen Privilegierten verletzen würden.

Für die Verteidigung, für den Sieg der Revolution wird Sorge getragen, indem alle an ihrem Gelingen beteiligt werden, die Freiheit aller geachtet wird und jedem nicht nur das Recht, sondern auch die Möglichkeit genommen wird, die Arbeit anderer auszubeuten. Es gilt nicht, die Bourgeoisie dem Proletariat zu unterwerfen, sondern Bourgeoisie und Proletariat abzuschaffen, indem jedem die Möglichkeit garantiert wird, zu arbeiten, wie er will und allen arbeitsfähigen Menschen unmöglich gemacht wird, zu leben, ohne zu arbeiten.

Eine soziale Revolution, die sich nach ihrem Sieg immer noch der Gefahr ausgesetzt sieht, von der enteigneten Klasse überwältigt zu werden, ist eine Revolution, die auf halbem Wege stehen geblieben ist: um sich den Sieg zu sichern, braucht sie nur ständig vorwärtszuschreiten, immer mehr ihrem Ziel entgegen.

Bleibt die Frage der Verteidigung gegen den äußeren Feind.

Eine Revolution, die nicht unter den Stiefelabsätzen eines fremden Soldaten enden will, kann sich nur mit Hilfe freiwilliger Milizen verteidigen, die versuchen, jeden Schritt, den die ausländischen Kräfte auf dem rebellierenden Territorium machen, in einen Hinterhalt zu locken, die versuchen, dem wider seinen Willen entsandten Soldaten jeden möglichen Vorteil zu bieten und die offiziellen Feinde, die freiwillig kommen, ohne Mitleid behandeln. Man muß die kriegerischen Handlungen so gut wie nur möglich organisieren, dabei jedoch zu vermeiden suchen, daß diejenigen, die sich im militärischen Kampf spezialisieren, in ihrer Eigenschaft als Militärangehörige irgendeinen Einfluß auf das zivile Leben der Bevölkerung ausüben können.

Wir leugnen nicht, daß vom technischen Standpunkt aus gesehen eine Armee umso mehr Siegeschancen hat, je autoritärer sie geführt wird und daß die Konzentration aller Befugnisse in den Händen eines Einzelnen - noch dazu, wenn dieser ein militärisches Genie wäre - großen Anteil am Erfolg haben würde. Doch ist die technische Frage nur von zweitrangiger Bedeutung und wenn wir, um keine Niederlage zu riskieren, uns der Gefahr aussetzen müßten, selbst die Revolution zum Stillstand zu bringen, dann würden wir der Sache einen sehr schlechten Dienst erweisen.

Das Beispiel Rußland möge allen dienen.

Läßt man der Hoffnung, besser geführt zu werden, Zügel anlegen, dann kann dies nur zur Sklaverei führen.

Alle Revolutionäre mögen das Buch Fabbris gründlich lesen. Dies ist notwendig, um gut vorbereitet zu sein und nicht in die gleichen Irrtümer wie die Russen zu verfallen.

Aus:
Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980

Gescannt von anarchismus.at


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