Errico Malatesta - Individualismus und Kommunismus im Anarchismus

Saverio Merlino schrieb in der ersten Nummer dieser Zeitschrift: "Die Anarchisten wurden durch den Zwist zwischen Individualisten und Kommunisten belastet und gelähmt, der niemals aufgehört hat, unter ihnen zu schwelen. Die einen sind von den anderen genauso weit entfernt wie der Nordpol vom Südpol und treffen sich nur in einem einzigen Punkt : dem Abscheu vor dem Parlamentarismus."

Meiner Meinung nach übertreibt Merlino, wenn er die Ohnmacht der Anarchisten auf den Zwist zwischen Kommunisten und Individualisten zurückführt. Wenn die Gelegenheiten zum Handeln günstig waren und man etwas Praktisches tun wollte und konnte, dann wurde der Zwist vergessen und Kommunisten und Individualisten (ich spreche natürlich von denen, die wirkliche Anarchisten waren und somit dem Grundsatz anhingen: weder Unterdruckte noch Unterdrücker) standen stets Seite an Seite. Die Ohnmacht der Anarchisten hatte ganz andere Gründe, insbesondere war es das Nichtvorhandensein eines sofort durchführbaren, praktischen Programms, sowie natürlich die allgemeinen Bedingungen, unter denen sie zu handeln gezwungen waren. Mit anderen Worten, sie hing von der Tatsache ab, daß sie in ihren Idealen die Zeiten vorwegnahmen und sich daher mehr als um die Verwirklichung ihrer Ideen darum kümmern mußten, durch Propaganda die Entwicklung dorthin zu beschleunigen.

Merlino übertreibt ebenfalls, wenn er meint, daß die Ideen der Kommunisten denen der Individualisten (ich spreche natürlich stets von aufrichtigen und bewußten Anarchisten) diametral entgegensetzt sind: sie mögen den Anschein haben, wenn man die literarischen und "philosophischen" Verirrungen einiger weniger ernst nimmt, doch in Wirklichkeit handelt es sich sehr oft einfach um sprachliche Mißverständnisse.

Der anarchistische Individualismus wurde leider oft von Personen vertreten, denen jegliche anarchistische Gesinnung fehlte: es waren dies bürgerliche Literaten, die durch paradoxe Äußerungen die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten, um dann mit der Hoffnung auf Erfolg in den Schoß der offiziellen Literatur zurückzukehren; junge Halbgebildete und Halbanalphabeten, die auffallen wollten; Wirrköpfe, die die Lektüre obskurer Bücher durcheinander gebracht hatte und schließlich, am schlimmsten von allen, Übeltäter, die - offengestanden - klüger als die gewöhnlichen Übeltäter sind und das Bedürfnis verspürten, ihre Übeltaten durch eine Theorie zu rechtfertigen und dann in Italien zum Beispiel im allgemeinen in den Reihen der Faschisten gelandet sind. Bourgeoisie, Regierung und gegnerische Parteien haben von diesen Abweichungen profitiert, um den Anarchismus zu verleumden und es ist ihnen auch gelungen, ihn vor der Masse herabzusetzen. Mißverständnisse und personelle Fragen haben die Diskussion getrübt und die Gemüter auch der Anarchisten oft verbittert. Doch all dies hindert nicht, daß individualistischer Anarchismus und kommunistischer Anarchismus ihrem Wesen nach, das heißt in ihren moralischen Beweggründen und Endzielen gleich oder fast gleich sind.

Ich möchte hier wärmstens die Lektüre des Buches "Einführung in den individualistischen Anarchismus" von Armand empfehlen, das bald in der Übersetzung des Genossen Meniconi in Italien herauskommen wird. Es ist ein sehr gewissenhaftes Buch, das von einem der qualifiziertesten individualistischen Anarchisten verfaßt wurde und die allgemeine Billigung der individualistischen Anarchisten gefunden hat. Allerdings fragt man sich beim Lesen dieses Buches, warum Armand beständig vom "anarchistischen Individualismus" als einer abgeschlossenen, unterschiedenen Theorie spricht, während er im allgemeinen doch nichts anderes tut, als die allen Anarchisten jedweder Tendenz gemeinsamen Grundsätze darzulegen. In Wirklichkeit hat Armand, der sich gerne als Amoralisten bezeichnet, nur eine Art Handbuch der anarchistischen Moral - nicht einer anarchistisch-individualistischen, sondern allgemein anarchistischen, wenn nicht sogar allgemein menschlichen Moral - verfaßt, denn sie gründet sich auf jene menschlichen Gefühle, die die Anarchie wünschenswert und möglich machen.

Mag man auch die Äußerungen Merlinos nicht allzu sehr für bare Münze nehmen, so trifft es doch zu, daß die Existenz einer Minderheit unter den Anarchisten, die sich als individualistisch bezeichnet, eine ständige Ursache für Unstimmigkeiten und Schwäche ist. Es ist daher der Mühe wert - jetzt, da unter den Anarchisten die künftige Vorbereitung für zukünftige Taten eifrig im Gange ist, diese Frage mit Gelassenheit und ohne absolute Vorurteile nochmals anzugehen. Ich werde dies kurz von meinem Standpunkt eines Kommunisten oder Verfechters der Assoziation (associazionista) aus tun; andere mögen es, sofern sie wollen, aus ihrer Sicht tun.

(Ich werde den Begriff "Verfechter der Assoziation" als Alternative für das Wort Kommunist verwenden, und zwar nicht aus dem Wunsch unnötiger Neuheiten heraus, sondern weil ich die Möglichkeit voraussehe, daß die kommunistischen Anarchisten nach und nach die Bezeichnung Kommunist aufgeben werden infolge des Mißkredits und der Zweideutigkeit, in die der Begriff durch den russischen "kommunistischen" Despotismus zu geraten im Begriff ist. Sollte dies wirklich eintreten, dann würde sich wiederholen, was bereits mit dem Wort Sozialist geschah. So wie wir, die wir zumindest in Italien die ersten Verfechter des Sozialismus waren und uns als die wahrhaftesten Sozialisten im umfassenden, menschlichen Sinne des Wortes betrachteten und immer noch betrachten, diese Bezeichnung schließlich aufgegeben haben, um jede Verwechselung mit den zahlreichen und unterschiedlichen autoritären und bürgerlichen Entartungen des Sozialismus zu vermeiden, so könnten wir jetzt das Adjektiv kommunistisch aus der Angst heraus aufgeben, unser Ideal freier, menschlicher Brüderlichkeit mit dem verhaßten Despotismus verwechselt zu sehen, der in Rußland eine gewisse Zeitlang siegreich war und den eine Partei, die sich vom Beispiel Rußlands leiten läßt, allen Ländern aufzwingen möchte. Dann hätte man vielleicht das Bedürfnis nach einem anderen Adjektiv, das uns unterscheiden soll, und das könnte assoziationistisch oder sozietär oder etwas ähnliches sein, obwohl mir scheint, daß die einfache Bezeichnung Anarchist genügen müßte.)

Zunächst einmal wollen wir einen allgemeinen Irrtum ausräumen, der dem ganzen Mißverständnis zugrunde liegt. Die Individualisten gehen davon aus - oder reden, als wenn es so wäre - , daß die (anarchistischen) Kommunisten den Kommunismus aufzwingen wollen, was sie natürlich gänzlich außerhalb des Anarchismus stellen würde. Die Kommunisten gehen davon aus - oder reden, als wenn es so wäre - , daß die (anarchistischen) Individualisten jede Idee der Assoziation ablehnen, den Kampf zwischen Mensch und Mensch, die Herrschaft des Stärkeren (es gab einige, die im Namen des Individualismus diese und noch schlimmere Ideen vertraten, doch kann man sie nicht als Anarchisten bezeichnen) wollen - und dies würde sie nicht nur außerhalb des Anarchismus, sondern auch außerhalb der Menschheit überhaupt stellen.

In Wirklichkeit sind die Kommunisten Kommunisten, weil sie im frei gewollten Kommunismus die konsequente Folge der Brüderlichkeit und die beste Garantie der individuellen Freiheit sehen. Und die Individualisten - das heißt die wirklich Anarchisten sind - sind antikommunistisch, weil sie befürchten, daß der Kommunismus die Menschen nominell dem Befehl des Kollektivs und in Wirklichkeit dem der Partei oder der Kaste unterwirft, der es unter dem Vorwand der Verwaltung schließlich gelingen würde, Macht über die Dinge und damit über die Menschen, die diese Dinge benötigen, zu erlangen. Und daher wollen sie, daß jedes Individuum oder jede Gruppe frei die eigene Tätigkeit ausüben und frei und gleich mit den anderen Individuen und Gruppen, mit denen es gerechte und gleichberechtigte Beziehungen unterhält, die Früchte seiner Arbeit genießen kann. Wenn es so ist, dann ist klar, daß es einen wesentlichen Unterschied nicht gibt.

Nur sind, nach Meinung der Kommunisten, Gerechtigkeit und Gleichheit naturgemäß in einem individualistischen System nicht zu verwirklichen und das gleiche würde auch für die Freiheit gelten. Ebenso unmöglich wäre die beschworene Gleichheit von Anbeginn an, das heißt ein Zustand, in dem jeder Mensch bei seiner Geburt gleiche Entwicklungsbedingungen und gleichwertige Produktionsmittel vorfinden würde, um dann entsprechend seinen eigenen, angeborenen Fähigkeiten und seiner Tätigkeit mehr oder weniger emporzusteigen und ein mehr oder weniger reiches und glückliches Leben zu genießen.

Würden auf der ganzen Erde die gleichen klimatischen Verhältnisse herrschen, wäre der Boden überall gleich fruchtbar, wären die Rohstoffe überall gleich verteilt und jedem, der sie braucht, gleich zugänglich, wäre die Zivilisation überall verbreitet und gleich, hätte die Arbeit der vergangenen Generationen allen Ländern die gleichen Bedingungen gebracht, wäre die Bevölkerung gleich auf die gesamte bewohnbare Fläche verteilt, dann wäre es vorstellbar, daß jeder (Individuum oder Gruppe) Land, Arbeitswerkzeuge und Rohstoffe finden könnte, um arbeiten zu können und unabhängig zu produzieren, ohne auszubeuten und ausgebeutet zu werden. Doch wie soll man, unter den natürlichen und historischen Verhältnissen, die nun einmal bestehen, Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen demjenigen herstellen, dem durch die Fügung des Schicksals ein Stück dürren Bodens zuteil wird, das viel Arbeit erfordert, um ein karges Produkt abzuwerfen und demjenigen, der ein Stück fruchtbares Land in guter Lage erhält? Oder zwischen dem Bewohner eines in den Bergen oder in den Sümpfen verlorenen Dorfes und dem Bewohner einer Stadt, die Hunderte von Generationen mit allen Früchten menschlichen Verstandes und menschlicher Arbeit bereichert haben?

Ist es auf der anderen Seite möglich, sofort den Kommunismus als allgemeine Grundlage des gesellschaftlichen Lebens einzuführen? Entspräche dies dem Wunsch der Menschen, die geprägt sind durch eine Geschichte voller Kämpfe zwischen Völkern, Klassen und Einzelnen, in der jeder an sich denken mußte, wenn er überleben und nicht untergehen wollte? Und könnte er nicht beim gegenwärtigen Zustand der Moral Ausbeutung der Guten und Schwachen durch die Bösen und Skrupellosen bedeuten? Und auch vorausgesetzt, die Menschen wollen den Kommunismus, wie sollte man ihn unter den gegenwärtigen Verhältnissen in großem Umfang, auf der ganzen Welt oder auch nur in einer Nation anwenden, ohne eine ungeheuerliche Zentralisierung zu bewirken und sich einer unüberschaubaren Bürokratie anheimzugeben, die zwangsläufig unfähig und unterdrückerisch ist? Aus alledem und vielem mehr, was man noch sagen könnte, schließe ich (und das haben die wahren Anarchisten im allgemeinen auch stets getan), daß man die Wünsche und Bestrebungen nicht als unveränderbare Dogmen betrachten darf, außerhalb derer es kein Heil gibt.

Der Kommunismus ist aber unser Ideal. Wir sind Kommunisten, weil der Kommunismus uns die beste Form gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein scheint, in der sich die Liebe zwischen den Menschen am vollständigsten verwirklichen kann und gleichzeitig die menschliche Anstrengung in der Erringung der Güter der Natur am produktivsten gestaltet werden kann. Und daher müssen wir ihn propagieren und ihn überall und in allen Tätigkeitsbereichen als Vorbild und Experiment praktizieren, sobald die Umstände es uns erlauben. Im übrigen müssen wir Vertrauen in die Freiheit setzen, die stets Zweck und Mittel jedes menschlichen Fortschritts bleibt.

(Pensiero e Volonta, 1. Juli 1924)

Aus: Errico Malatesta Gesammelte Schriften Band 2, Karin Kramer Verlag, Berlin,1980

Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Malatesta_Individualismus_und_Kommunismus_im_Anarchismus.htm


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