Errico Malatesta - Anarchismus und Gewalt

Die meisten Anarchisten sind gegenwärtig davon überzeugt, daß die moderne Gesellschaft nur durch gewaltsame, revolutionäre Mittel in eine bessere soziale Ordnung umgewandelt werden könne.

Aber andere Parteien, welche sich auch als Revolutionäre geben, obwohl ihr revolutionärer Geist schon längst in den trüben Gewässern des Parlamentarismus erstickt wurde, gaben dem Wort REVOLUTION eine ganz besondere Deutung, und dank dieser Deutung hat sich der Gedanke allmählich durchgesetzt, daß die bewußte Empörung und die gewaltsame Revolution den eigentlichen Inhalt, die Quintessenz des Anarchismus, der anarchistischen Idee bilden.

Die Frage, in welcher Weise oder in welchem Maßstabe die Anwendung der Gewalt berechtigt und nützlich ist, ist bislang nur leider sehr wenig diskutiert worden; In Folge dessen mengte man gänzlich verschiedene und ungleiche Begriffe unter ein und derselben Terminologie zusammen – ganz, wie man es mit anderen Problemen fälschlicherweise auch tat. Der beste Beweis für diese Tatsache kann dem Umstande entnommen werden, daß die zahlreichen terroristischen Akte, welche im Namen des Anarchismus begangen wurden, plötzlich die verschiedensten Anschauungen unter den Genossen hervorgerufen haben, Verschiedenheiten, welche früher nicht zu Tage traten und kaum berührt wurden.

Einige Genossen, abgestoßen durch die Brutalität und Nutzlosigkeit verschiedener dieser Akte, erklären sich gegen jede Gewalt, ausgenommen in solchen Fällen, wo man uns direkt und unmittelbar attakiert. Es ist mir nicht möglich, mit diesen Genossen übereinzustimmen, da ich davon überzeugt bin, daß dies der Untergang jeder revolutionären Initiative bedeutete; wir würden höchstens einige unbedeutsame und oftmals unfreiwillige Helfershelfer der Regierung treffen, die eigentlichen Organisatoren des bestehenden Systems, jene, welche am meisten profitieren an der staatlichen und kapitalistischen Ordnung, würden nie getroffen werden.

Andere Genossen sind wieder ganz entgegengesetzter Meinung. In ihrer Verbitterung über den unablässigen Kampf und die unausgesetzte Verfolgung durch die Regierung, mehr oder weniger beeinflußt von den alten jacobinischen Ideen, in deren Umkreis die Junge Generation erzogen wurde, wird eine jede Tat von ihnen gutgeheißen, was immer ihr Charakter oder ihre Wirkung auf die breiten Volksmassen sei, solange ihre Ausführung im Namen des Anarchismus stattfand. Diese Sorte von Anarchisten hat die Grundidee des Anarchismus so wenig verstanden, daß sie wirklich das Recht für sich beansprucht, über Leben und Tod jener zu urteilen, welche keine Anarchisten oder nicht solche sind wie sie.

Die große Masse ahnt natürlich nichts von den Diskussionen, welche in unserem Lager geführt werden; da sie keine andere Ansicht über den Anarchismus vernimmt als die Verleumdungen der Tagespresse ist sie auch der Ansicht, der Anarchismus sei nichts anderes als Mord und Bomben, Anarchisten seien eine Art von blutdürstigen Tieren, die von nichts als Mord und Zerstörung träumen.

Darum ist es dringend notwendig geworden, eine klare und bestimmte Stellung zu dieser Sache einzunehmen. Es ist die Pflicht eines jeden Anarchisten über diese Frage nachzudenken, seine Stellung ihr gegenüber zu erklären, weil solches erstens die Interessen unserer Bewegung erfordern, zweitens jene der allgemeinen Propaganda und drittens unsere Beziehungen zur Gesellschaft und dem Menschen. Was meine Person anbelangt, so besteht für mich nicht der leiseste Zweifel darüber, daß die anarchistische Idee, welche jede Form von Regierung negiert, den direkten Gegensatz zu jeder Gewalt bildet, schon deshalb, weil ja die Gewalt der ureigentliche Inhalt eines jeden autoritären Systems, die Taktik jeder Regierung ist.

Anarchie bedeutet Freiheit und Solidarität und die Verwirklichung unser Idee kann nur stattfinden durch Harmonie der Interessen, durch die freiwillige Initiative, durch Liebe, Achtung und gegenseitige Toleranz. Wir sind Anarchisten, weil wir von der Überzeugung durchdrungen sind, daß es uns nie gelingen wird, die Wohlfahrt aller - das Ziel unseres ganzen Strebens - zu erringen, wenn wir nicht den Begriff der freien Vereinbarung unter den Menschen in Anwendung bringen können; die erste Bedingung für unser Ideal; und wir verdammen jeden Versuch, einen Menschen zwingen zu wollen, den Willen eines anderen anzuerkennen. Es ist wahr, auch in anderen Parteien vormögen wir Menschen von gleichem Ernst und derselben Ergebenheit den Interessen des Volkes gegenüber zu finden, wie bei uns. Aber was uns Anarchisten eine ganz besondere Charakteristik verleiht, uns von sämtlichen anderen Parteien unterscheidet, ist die Tatsache, daß wir nicht der Meinung sind, die ABSOLUTE und UNTEILBARE Wahrheit befinde sich bei uns. Wir glauben nicht an die Allmacht und Unfehlbarkeit von Ideen oder Personen, denn dieser Glaube ist das Grundprinzip aller Gesetzgeber und Politiker, welcher Partei sie auch angehören mögen, und deshalb meinen wir nicht, das auserwählte Volk zu sein, welches allein imstande ist, im Interesse und zum Wohl aller zu denken und zu handeln. Wir sind die wirkliche Partei der Freiheit, die Partei freiester Entwicklung, die Partei des sozialen Experimentes.

Allein, diese Freiheit, welche wir für alle fordern, die Möglichkeit des Experimentes, um die Formen sozialer Entwicklung zu bestimmen, wird verhindert durch eherne Verfügungen und Gesetze. Ganze Armeen von Soldaten und Polizisten stehen bereit da, um zu töten oder einen jeden in den Kerker zu werfen, welcher die Gesetze nicht anerkennen will, welche eine Anzahl von privilegierter machte, um sich ihre persönlichen Interessen zu garantieren. Und sogar den unmöglichen Fall angenommen, daß die Soldaten und Polizisten nicht da wären - bei Beibehaltung der gegenwärtigen ökonomischen Strukturen ist die Freiheit unmöglich. Denn solange, wie die sozialen Reichtümer und Produktionsmittel ausschließliches Eigentum von einigen wenigen verbleiben, wird die große Majorität der Menschheit gezwungen sein, für Jene wenigen zu arbeiten, (und) in Not und Elend zu leben.

Unsere erste Aufgabe besteht darin, uns von der bewaffneten Macht zu befreien, welche die bestehenden Institutionen verteidigt und uns daran hindert, die Erde, die Produktionsmittel, sämtliche sozialen Reichtümer zurückzunehmen, auf das ein Jeder das Recht ihrer freien Benutzung habe. Diese Aufgabe wird nur gelöst werden - dies ist unsere innere Überzeugung - durch die physische Macht, die natürliche Steigerung des ökonomischen Antagonismus, die wachsende Erkenntnis eines aktiven Teils des Proletariats, die ständige Vermehrung der Arbeitslosen, den verblendeten Widerstand der Herrschenden. Mit einem Worte: der interne Zustand der gesamten sozialen Entwicklung muß uns logischerweise zum Ausbruch einer großen Revolution führen, welche die Bedingungen des gesellschaftlichen gründlich verändern wird, deren erste Anzeichen wir schon jetzt beobachten können.

Diese Revolution wird mit oder ohne uns kommen; die Existenz einer sozialen Strömung, welche das Bewußtsein von dem Resultat dieser Revolution besitzt, ist die beste Garantie dafür, ihr eine bestimmte Richtung zu erteilen, ihren Charakter durch den Einfluß des Ideals zu mildern. Also darum, zu diesem Zwecke sind wir Revolutionäre.

Von diesem Standpunkt aus ist die Gewalt kein Widerspruch zum Anarchismus und seinen Prinzipien, denn sie ist nicht das Resultat unser freien Wahl und Entschließung; wir sind oftmals gezwungen, die Gewalt anzuwenden, indem wir gezwungen werden, uns zu verteidigen, solche Rechte, welche durch brutale Gewalt unterdrückt werden, zu verteidigen.

Nochmals sei es konstatiert: als Anarchisten haben wir nicht die Absicht, nicht den Wunsch, die Gewalt zu benützen, wenn man uns nicht zwingt, sich oder andere gegen Unterdrückung zu verteidigen. Und nur dieses Recht der Selbstverteidigung fordern wir voll und ganz. Dies ist die Ursache, weshalb wir das materielle Instrument, das uns verwundet, zu zerbrochen versuchen, weshalb wir die Hand angreifen, welche dasselbe schwingt, den Kopf, welcher seine Richtung bestimmt. Zeit, Ort oder Art der Attacke wählt sich der Einzelne selbstständig aus, wann und wie sie ihm am günstigsten dünken.

Unglücklicherweise finden wir unter den Taten, welche im Namen des Anarchismus begangen werden, auch solche, welche man unberechtigterweise mit jenen zusammenwirft, die in Wahrheit anarchistische Handlungen waren. Persönlich protestiere ich entschieden gegen diese Vermengung von Taten, welche individuell total verschieden an moralischem Gehalt und praktischen Folgen sind.

Gar nicht zu reden von den Verleumdungen gewisser Elemente, ist es nach meiner Meinung ein gewaltiger Unterschied zwischen der Tat eines Mannes, welcher bewußt sein Leben für die Sache opfert, von deren Richtigkeit er felsenfest überzeugt ist - und den zum größten Teil unbewussten Akten eines Unglücklichen, welchen die Gesellschaft zur Vorzweiflung trieb, oder einer wilden und grausamen Handlung eines Mannes, den Leiden und Schmerzen vom richtigen Weg ablenken ließen, der ausschließlich beeinflußt wurde von der Wildheit der sogenannten zivilisierten Gesellschaft, innerhalb welcher er lebt.

Es besteht doch unzweifelhaft ein kolossaler Unterschied zwischen dem Vernunftsakt eines Menschen, welcher vorerst den Nutzen oder Schaden seiner Handlungsweise für die Bewegung ermißt, und dem gedankenlosen Akt eines anderen, der alles dem blinden Zufall überläßt. Es ist ein großer Unterschied zwischen der Tat eines Menschen, der sich allein in Gefahr begibt, um zu vermeiden, daß andere auch mitleiden sollen, und dem bourgeoisen Akte eines Mannes, der anderen auch Leid verursacht im eigenen Interesse. Ein großer Unterschied besteht zwischen der anarchistischen Tat eines Menschen, welcher die Hindernisse verhindern will, die sich der sozialen Reorganisation auf Grundlage freier Assoziation entgegen stellen, und dem autoritären Akte eines Menschen, der sich das Recht herausnimmt, die Masse für ihre Unwissenheit - die durch solche Akte noch vergrößert wird - zu bestrafen, sie zu terrorisieren, zu zwingen, seine Ideen anzuerkennen.

Freilich, die Bourgeoisie hat kein Recht, sich über die Gewalt ihrer Gegner zu beklagen. Ihre ganze Geschichte als Klasse ist eine solche von Blut und Mord. Das System der Ausbeutung - das Gesetz ihres Daseins - erfordert tagtäglich ganze Pyramiden unschuldiger Opfer. Auch die politischen Parteien haben kein Recht, ein Klagelied über die Gewalt anzustimmen, denn auch ihre Hände sind rot von Blut, das für ihre eigenen Interessen vorgossen wurde.

Diejenigen, welche Generationen auf Generationen in dem brutalen Glauben an die Gewalt erzogen haben, diejenigen, welche gegenwärtig die Bewunderer dos roten Terrors am Ende des 18. Jahrhunderts sind, der die damaligen revolutionären Bestrebungen erstickte, den Weg frei machte für das Kaiserreich und den weißen Terror - nein, sie haben kein Recht, sich über die Gewalt ihrer Gegner zu beklagen. Die historische Vergangenheit hat die Notwendigkeit der Gewalt klar ergeben, und es ist darum selbstverständlich, daß auch Anarchisten sie anwenden. Doch niemals dürfen wir vergessen, daß nur die bitterste Vergangenheit uns dazu zwingen darf; daß die Gewalt ein Prinzip ist, welches unsere Anschauungen und Strebungen verleugnet. Vergessen wir die traurige historische Tatsache nie, daß überall, wo ein gewaltsamer Widerstand gegen die Unterdrückung triumphierte, er neue Unterdrückungen erzeugte. Dies sollte uns eine Warnung sein, daß es immer so sein wird, solange wir die blutige Tradition der Vergangenheit nicht zerbrochen haben. Gerade darum ist es notwendig, die Anwendung der Gewalt auf die bitterste Notwendigkeit zu beschränken.

Gewalt erzeugt Gewalt; Autorität erzeugt Autorität. Selbst der gute Wille und die ehrlichen Motive der Menschen können in dieser Beziehung nichts ändern. Ein Fanatiker, der sich einredet, daß er imstande sei, ein Volk durch Gewalt und auf seine Art und Weise zu erlösen, mag ein ganz guter Mensch sein; doch zugleich ist er ein schreckliches Mittel im Dienste der Unterdrückung und Reaktion. Robespierre war gewiß vom besten Willen beseelt; doch die Reinheit und Grausamkeit seines Gewissens ist gewiß ebenso schädlich gewesen für die Revolution wie der persönliche Ehrgeiz von Napoleon. Der ehrliche Fanatismus eines Torquemada, die Seelen des Menschen zu retten, ist weit gefährlicher gewesen für die Freiheit, als der Skeptizismus und die Korruption des Regimes von Leo X.

Theorien, Erklärungen von Prinzipien und schöne Worte sind nicht imstande, diese natürlichen Tatsachen zu ignorieren. Schon viele Märtyrer starben für die Freiheit, viele Schlachten wurden für sie geschlagen - trotzdem ist die Freiheit noch nicht verwirklicht worden; alles was sie eroberten, ist die Ausbeutung und Unterdrückung der Armen durch die Reichen.

Die anarchistische Idee bietet ebenso eine Garantie gegen ihre Wesenskorrumpierung wie die Idee des Liberalismus dies tat. Und schon heute können wir den Anfang dieser Korruption aus den Taten einiger Anarchisten entnehmen, indem wir ihre Intoleranz, ihren Wunsch, Schrecken und Furcht um sich zu verbreiten, sehen.

Anarchisten! Verteidigen wir den Anarchismus gegen diese Korruption! Unser Ideal ist ein Ideal der Liebe. Wir können und dürfen keine "Richter" und kein strafender Arm der "Gerechtigkeit" sein. Unser einziges Verlangen, unser Stolz, unser IDEAL ist es, BEFREIER zu sein!

Errico Malatesta


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Zur Person

Errico Malatesta, 1853 in Capuz / Provinz als Sohn wohlhabender Eltern geboren, gehört zu den namhaften Vertretern des kommunistischen Anarchismus. Zunächst studierte er Medizin, brach sein Studium aber frühzeitig ab, da er zu der Erkenntnis gelangt war, sein Leben der "sozialen Revolution" widmen zu müssen.

Als Mitbegründer der anarchistischen Bewegung in Italien, die vorwiegend auf Michael Bakunin zurück zu führen war, mußte Errico Malatesta 1878 das Land verlassen, da er sich ganz entschieden gegen einen Kompromiß mit dem Parlamentarismus aussprach. Von diesem Zeitpunkt an nahm Malatesta die Rolle des rastlosen Revoluzzers ein. Zunächst ging er nach Ägypten, lernte später in Genf Peter Kropotkin kennen, wurde aus der Schweiz ausgewiesen, reiste nach Rumänien und flüchtete von dort aus nach Frankreich. Einige Jahre später gings über England nach Argentinien, wo er erheblichen Einfluß auf den Aufbau der dortigen Arbeiterbewegung nahm.

1897 kehrte Malatesta nach Italien zurück, wo er aber zu Beginn des folgenden Jahres auf Grund 'REVOLUTIONÄRER UMTRIEBE' verhaftet und auf einer Insel interniert wurde. 1899 gelang ihm aber die Flucht über Malta in die USA, von wo aus Malatesta wiederum nach England zurückkehrte.

Überall von der Polizei gesucht, überwacht, festgenommen, ausgewiesen und wieder inhaftiert, wurde E. Malatesta zur legendären Figur im Kampf für die Anarchie, da er trotz aller Repression nie den revolutionären Elan verlor.

1913 ging er wiederum nach Italien und gab dort eine anarchistische Tageszeitung heraus (50.000 Exemplare), die Ende 1922 auf Grund der Machtergreifung durch die Faschisten aber ihr Erscheinen einstellen mußte. Zwischen 1924 und 1926 veröffentlichte er aber dennoch eine Zweimonatsschrift. Von 1926 bis zu seinem Tod im Jahre 1932 lebte Malatesta in Rom, wo er fast 80-jährig noch als Elektriker seinen Lebensunterhalt verdiente, ständig von den Faschisten überwacht, ansonsten aber unbehelligt.

Vorhergehende Auflagen:
1. Auflage: unbekannt
2. Auflage: ca. 1971, Anarchistisches Syndikat Wilhelmshafen (Reihe: TEXTE ZUM ANARCHISMUS Nr. III)
3./4./5. Auflage zw. Mai. 1976 und Oktober 1977, EMS-KOPP Verlag.
6. Auflage Mai 1978 ANARCHISTISCHE VEREINIGUNG NORDDEUTSCHLAND (AVN) - Hamburg - Meppen

Originaltext: gescannt nach der 7. Auflage des EMS – KOPP – Verlags (November 1979, 3. – 5. Tausend)

Gescannt von anarchismus.at


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