Errico Malatesta - Ein anarchistisches Programm (1920)
1. Absichten und Ziele
Wir glauben, daß die meisten Übel, die die Menschheit quälen, von einer schlechten gesellschaftlichen Organisation herrühren; und daß der Mensch sie beseitigen könnte, wenn er nur wollte, und wenn er wüßte wie.
Die gegenwärtige Gesellschaft ist das Resultat jahrhundertelanger Kämpfe zwischen den Menschen. Da sie nicht einsahen, welche Vorteile allen erwachsen würden aus Kooperation und Solidarität; da sie in jedem anderen Menschen (mit Ausnahme vielleicht der nächsten Verwandten) einen Konkurrenten und Feind sahen, suchte jeder für sich selbst die größtmögliche Anzahl von Vorteilen zu sichern, ohne den Interessen der anderen auch nur einen Gedanken zu widmen. In einem solchen Kampf waren offensichtlich die Stärksten oder vom Glück Begünstigteren für den Sieg prädestiniert, und sie unterwarfen sich die Verlierer und unterdrückten sie auf die eine oder andere Weise.
So lange der Mensch unfähig war, mehr zu produzieren als er unbedingt zum Leben benötigte, konnten die Eroberer nichts anderes tun, als ihre Opfer in die Flucht zu schlagen oder niederzumetzeln und sich der Nahrungsmittel zu bemächtigen, die sie angesammelt hatten. Als dann der Mensch, mit Entdeckung von Ackerbau und Viehzucht, mehr zu produzieren in der Lage war als er zum Lebensunterhalt benötigte, erachteten es die Eroberer als nützlicher, die Besiegten auf den Stand der Sklaverei zu reduzieren und ihre Arbeitskraft nutzbringend einzusetzen. Später wurde den Eroberern klar, daß es bequemer, ertragreicher und sicherer war, die Arbeit anderer durch andere Mittel auszubeuten: sich selbst das ausschließliche Recht auf den Boden und die Produktionsmittel vorzubehalten und die Enterbten freizusetzen, die, da sie sich ohne die Mittel zum Leben fanden, gezwungen waren, auf die Bodenbesitzer zu rekurrieren und für sie, zu den ihnen genehmen Bedingungen, zu arbeiten.
So sind wir Schritt für Schritt durch eine äußerst komplizierte Reihe von Kämpfen jeder Art, von Invasionen, Kriegen, Rebellionen, Repressionen, durch Kampf gewonnenen Konzessionen, Assoziationen der zur Verteidigung vereinigten Eroberer, beim gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft angelangt, in welchem einige den Boden und allen sozialen Reichtum ererbt haben, während die Masse des Volkes, in jeder Beziehung enterbt, von einer kleinen besitzenden Klasse ausgebeutet und unterdrückt wird.
Von all diesen Ursachen rührt das Elend her, in welchem die meisten Arbeiter heute leben, und das wiederum schafft all die Übel wie Unwissenheit, Verbrechen, Prostitution, Krankheiten, die von Unterernährung herrühren, geistige Depressionen und vorzeitigen Tod. Eine Sonderklasse (die Regierung) erwächst aus diesen Gegebenheiten, die, mit den notwendigen Mitteln der Repression versehen, besteht, um die besitzende Klasse zu legalisieren und sie vor den Forderungen der Arbeiter zu beschützen; und dann benutzt sie die ihr zu Gebote stehende Macht, um Privilegien für sich selbst zu schaffen und, wenn möglich, die besitzende Klasse selbst auch noch zu unterwerfen. Die andere privilegierte Klasse, die entsteht, ist die Geistlichkeit, die die Unterdrückten durch eine Reihe von Märchen über den Willen Gottes und über ein Leben nach dem Tode usw. zu überreden sucht, ihre Unterdrückung sanftmütig zu akzeptieren, und auch diese Klasse (nicht anders als die Regierung) dient sowohl den Interessen der besitzenden Klasse als auch den eigenen. Eine offizielle Wissenschaft entsteht, die in allen Dingen die Interessen der herrschenden Klasse unterstützt und damit die Negation jeder wahren Wissenschaft ist. Nationalistischer Geist und Rassenhaß erwachen, die zu Kriegen führen oder zu Waffenstillständen, d. h. Frieden in Waffen, die manchmal furchtbarer sind als die Kriege selbst. Liebe wird in Quälerei oder schmutziges Geschäft pervertiert. Mehr oder weniger versteckter Haß, Rivalität, allgemeines Mißtrauen, Unsicherheit und universale Angst sind die Folge.
Wir wollen diese Lage der Dinge radikal verändern. Und da all diese Übel ihren Ursprung in einem Kampf zwischen Menschen haben, in dem Versuch, durch eigene Anstrengungen für sich selbst und gegen die Interessen aller anderen zu Wohlsein und Wohlstand zu gelangen, wollen wir Änderungen vornehmen, die Haß durch Liebe ersetzen sollen, Konkurrenz durch Solidarität, die individuelle Suche nach persönlichem Wohlergehen durch brüderliche Kooperation für das Wohlergehen aller, Unterdrückung und Zwang durch Freiheit, die religiöse und pseudo-wissenschaftliche Lüge durch die Wahrheit.
Daher also:
- Abschaffung des Privateigentums an Boden, an Rohstoffen und Werkzeugen, damit niemand mehr die Mittel habe, von der Ausbeutung fremder Arbeitskraft zu leben und jeder, da er der Mittel zur Produktion und zum Leben sicher ist, wahrhaft unabhängig sei und in der Lage, sich freiwillig mit anderen um eines gemeinsamen Zieles wegen zu vereinigen, und zwar entsprechend seinen ganz persönlichen Sympathien.
- Abschaffung von Herrschaft und jeder Gewalt, die Gesetze macht und sie den anderen aufzwingt: daher Abschaffung der Monarchien, Republiken, Parlamente, Armeen, Polizeikräfte, Magistraturen und jeder Art von Institutionen, die mit repressiver Gewalt ausgestattet ist.
- Organisation des sozialen Lebens durch freie Assoziation und Förderationen von Produzenten und Konsumenten, die gemäß den Wünschen ihrer Mitglieder geschaffen und verändert werden, durch Wissenschaft und Erfahrung geleistet werden und frei sind von jeder Art Zwang, der nicht natürlichen Bedürfnissen entspringt, denen sich jeder freiwillig unterwirft, weil ihn ein Gefühl unabdingbar Notwendigkeit überzeugt hat.
- Die Mittel zum Leben, zur Entfaltung aller Fähigkeiten und zum Wohlsein werden Kindern und all denjenigen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen, garantiert.
- Krieg den Religionen und allen anderen Lügen, selbst denen, die sich den Mantel der Wissenschaftlichkeit umwerfen. Fortgeschrittene wissenschaftliche Bildung für alle.
- Krieg den Rivalitäten und den nationalen Vorurteilen. Abschaffung der Grenzen; Brüderlichkeit zwischen allen Völkern.
- Regeneration der Familie, wie sie sich aus der Praxis der Liebe ergeben wird, die von jedem gesetzlichen Zwang, jeder ökonomischen Unterdrückung, jedem religiösen Vorurteil befreit ist.
Das ist unser Ideal.
2. Wege und Mittel
Wir haben unter einer Anzahl von Oberbegriffen unsere Ziele und das Ideal, für das wir kämpfen, umrissen. Aber es genügt nicht, etwas zu ersehnen; wenn man es wirklich wünscht, müssen adäquate Mittel eingesetzt werden, um es zu realisieren. Und diese Mittel sind nicht willkürlich, sondern sie sind bedingt durch die Ziele, die wir anstreben und die Umstände, unter denen der Kampf stattfindet; denn wenn wir die Wahl der Mittel ignorierten, erreichten wir andere Ziele, möglicherweise solche, die denen diametral entgegengesetzt sind, die wir erhoffen. Und das wäre dann die offensichtliche und unvermeidliche Folge unserer Wahl der Mittel. Wer immer seine Reise auf der Landstraße beginnt und dann einer falschen Abzweigung folgt, gelangt nicht, wohin er wollte, sondern, wohin die Straße ihn führt. Es ist deshalb notwendig zu konstatieren, welches unserer Meinung nach die Mittel sind, die zu den von uns erhofften Zielen führen und die wir hiermit zur Annahme vorschlagen.
Unser Ideal gehört nicht zu jenen, deren Erfolg vom Individuum abhängt, das isoliert zu betrachten wäre. Es geht darum, die Lebensweise der Gesellschaft insgesamt zu ändern; unter den Menschen Beziehungen zu schaffen, die auf Liebe und Solidarität beruhen; die vollkommene materielle, moralische und intellektuelle Entwicklung nicht isolierter Individuen oder Mitglieder einer Klasse oder einer bestimmten politischen Partei, sondern der gesamten Menschheit zu erreichen - und das ist ein Ziel, das nicht mit Gewalt zu erzwingen ist, sondern sich ergeben muß aus dem aufgeklärten Bewußtsein eines jeden einzelnen von uns und nur erreicht werden kann durch freiwillige Zustimmung aller.
Unsere erste Aufgabe muß es daher sein, die Menschen zu überzeugen. Wir müssen den Menschen das Elend zu Bewußtsein bringen, unter dem sie leiden, und sie auf die Chancen aufmerksam machen, die sie haben, es zu beenden. Wir müssen in jedem Mitgefühl für das Elend der anderen wecken und das warmherzige Verlangen nach dem Wohlergehen aller Menschen.
Jenen, die hungern und frieren, werden wir demonstrieren, wie leicht es möglich wäre, jedem die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Lebens zu garantieren. Jenen, die unterdrückt und verachtet sind, werden wir zeigen, wie glücklich es sich in einer Welt leben läßt, in der Jeder Freiheit und Gleichheit genießt; jenen, die von Haß und Bitterkeit gequält werden, werden wir die Straße weisen, die zum Frieden führt und zu menschlicher Wärme, die entsteht, wenn man seine Mitmenschen zu lieben gelernt hat.
Sobald wir mit Erfolg in den Köpfen der Menschen den Geist der Rebellion gegen die vermeidbaren und ungerechten Übel, unter denen wir heute in der Gesellschaft leiden, geweckt haben werden; sobald es uns gelungen sein wird, ihnen verständlich zu machen, wie diese Übel bedingt sind und daß es vom menschlichen Willen abhängt, uns von ihnen zu befreien; sobald wir in den Menschen eine lebendige und starke Sehnsucht entfacht haben werden, die Gesellschaft zum Wohle aller zu verändern, werden diejenigen, die neu überzeugt wurden, sich vereinigen - sowohl auf Grund eigener Bemühungen als auf Grund des Vorbildes jener, die schon überzeugt waren - und man wird es nicht nur wollen, man wird auch dazu in der Lage sein, für die gemeinsamen Ideale zu handeln.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß es lächerlich und unseren Zielen völlig entgegengesetzt wäre, wenn wir versuchen wollten, Freiheit, Liebe unter den Menschen und die radikale Entfaltung aller menschlichen Fähigkeiten durch die Mittel der Gewalt zu erzwingen. Man muß sich daher auf den freien Willen der anderen verlassen und alles, was wir tun können, ist, die Entwicklung und den Ausdruck des Volkswillens zu beeinflussen. Es wäre allerdings ebenso absurd und unseren Zielen entgegengesetzt, wollten wir zulassen, daß jene, die unsere Ansichten nicht teilen, uns daran hindern, unseren Willen zum Ausdruck zu bringen, solange wir ihnen nicht dieselbe Freiheit versagen. Freiheit für alle also, damit sie ihre Ideen propagieren und mit ihnen experimentieren können; Freiheit ohne andere Einschränkung als jene, die sich ganz natürlich aus dem gleichen Recht eines jeden auf Freiheit ergibt.
Aber dem widersetzen sich jene - und zwar mit roher Gewalt - die Nutzen ziehen aus den bestehenden Privilegien und die heute das gesamte gesellschaftliche Leben beherrschen und kontrollieren. Sie halten alle Produktionsmittel in Händen; und dadurch unterdrücken sie nicht nur die Möglichkeit freien Experimentierens mit neuen Wegen gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Recht der Arbeiter, ihren eigenen Anstrengungen gemäß frei zu leben, sondern sogar ihr Recht auf Leben selbst; und sie zwingen jeden, der nicht Boß ist, sich ausbeuten und unterdrücken zu lassen, wenn er nicht Hungers sterben will. Sie haben Polizeikräfte, eine Justiz und Armeen, die zu dem ausdrücklichen Zweck geschaffen sind, ihre Privilegien zu verteidigen; und sie verfolgen, inhaftieren und massakrieren jene, die diese Privilegien abzuschaffen wünschen und die Mittel zu einem Leben in Freiheit für jedermann fordern.
Eifersüchtig auf ihre gegenwärtigen und unmittelbaren Interessen bedacht, vom Herrschaftsgeist korrumpiert, voller Angst vor der Zukunft, sind die Mitglieder der herrschenden Klasse nicht nur gewöhnlich unfähig zu einer großzügigen Geste, sondern auch zu einer etwas weiter gefaßten Konzeption ihrer eigenen Interessen. Es wäre unsinnig, darauf zu hoffen, daß sie freiwillig Eigentum und Macht abtreten und sich dazu bequemen, mit jenen auf der Basis der Gleichheit zu leben, die sie heute unterjocht halten.
Selbst wenn wir die Lehre der Geschichte außer Betracht lassen, (die zeigt, daß niemals eine privilegierte Klasse von selbst auf alle oder auf einige ihrer Privilegien verzichtete, und daß niemals eine Regierung ihre Macht abtrat, wenn sie nicht durch Gewalt oder die Frucht vor Gewalt dazu gezwungen wurde), gibt es genug zeitgenössisches Beweismaterial, um jeden davon zu überzeugen, daß die Bourgeoisie und die Regierungen die Absicht hegen, bewaffnete Gewalt zu ihrer Verteidigung einzusetzen, nicht nur gegen die Gefahr vollkommener Enteignung, sondern schon gegen die geringsten Forderungen des Massen, und daß sie immer bereit sind, die fürchterlichsten Verfolgungen und die blutigsten Massaker zu beginnen. Für jene, die sich zu befreien wünschen, ist nur ein Weg offen: Sie müssen der Gewalt mit Gewalt begegnen.
Aus dem Gesagten folgt, daß wir daraufhinarbeiten müssen, in den Unterdrückten den bewußten Wunsch nach radikaler gesellschaftlicher Veränderung zu wecken und sie davon zu überzeugen, daß sie durch Vereinigung ihrer Kräfte siegen können; wir müssen unser Ideal propagieren und das notwendige Material und die moralischen Kräfte sammeln, um den Feind zu überwältigen und die neue Gesellschaft zu organisieren. Und wenn wir die nötige Stärke erreicht haben, müssen wir, indem wir die Gunst der sich bietenden oder von uns geschaffenen Umstände ausnützen, um die soziale Revolution zu machen, Gewalt anwenden, um die Regierung zu zerschlagen und die Reichen zu enteignen. Daraufhin müssen wir die Mittel für Leben und Produktion zusammenlegen und das Entstehen neuer Regierungen verhindern, die ihren Willen aufzwingen und die Reorganisation der Gesellschaft durch das Volk selbst unmöglich machen würden.
All das ist jedoch weniger einfach, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wir müssen mit den Menschen rechnen, wie wir sie in der heutigen Gesellschaft vorfinden, nämlich mit Menschen im elendesten moralischen und materiellen Zustand: und wir würden uns selbst täuschen, glaubten wir, Propaganda allein genüge, sie auf jenes Niveau geistiger Entwicklung zu heben, das notwendig ist, unsere Ideen zu verwirklichen.
Zwischen dem Menschen und seiner sozialen Umgebung besteht ein wechselseitiger Aktionsbezug. Die Menschen machen die Gesellschaft zu dem, was sie ist, und die Gesellschaft macht die Menschen zu dem, was sie sind, und das Ergebnis ist folglich ein Teufelkreis. Um die Gesellschaft zu verändern, müssen die Menschen geändert werden, und um die Menschen zu ändern, muß die Gesellschaft geändert werden.
Armut verroht die Menschen und um die Armut abzuschaffen, müssen die Menschen ein soziales Gewissen und Entschlußkraft besitzen. Die Sklaverei lehrt die Menschen, Sklaven zu sein, und um sich von der Sklaverei zu befreien, bedarf es Menschen, die nach Freiheit streben. Unwissenheit hat die Wirkung, die Menschen im Dunkeln zu lassen über die Ursachen ihres Unglücks und die Mittel, es zu bewältigen, und um die Unwissenheit der Menschen zu beseitigen, müssen sie die Zeit und die Mittel haben, sich zu erziehen. Regierungen gewöhnen die Menschen daran, sich dem Recht zu unterwerfen und zu glauben, daß das Recht der Gesellschaft wesentlich sei; und um die Regierung abzuschaffen, müssen die Menschen von der Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der Regierung überzeugt sein.
Wie entgeht man diesem Teufelskreis?
Glücklicherweise wurde die bestehende Gesellschaft nicht durch den feurigen Willen einer herrschenden Klasse geschafften, der es gelang, alle ihre Untertanen zu passiven und willenlosen Instrumenten ihrer Interessen zu reduzieren. Sie ist vielmehr das Ergebnis von tausend wechselseitigen Vernichtungskämpfen, von tausend menschlichen und natürlichen Faktoren, die unparteiisch und ohne Zielvorstellung wirkten; und so gibt es weder zwischen den Individuen noch zwischen den Klassen klare Trennungslinien.
Unzählbar sind die Variationen an materiellen Bedingungen; unzählbar sind die verschiedenen Grade moralischer und geistiger Entwicklung; und nicht immer - wir möchten beinahe sagen sehr selten - entspricht der Platz, den ein Individuum innerhalb der Gesellschaft einnimmt, seinen Fähigkeiten und Wünschen. Sehr oft widerfahren Individuen, die an ein bequemes Leben gewöhnt waren, schwere Zeiten und anderen wiederum gelingt es durch außergewöhnlich günstige Umstände, sich über die Lebensbedingungen zu erheben, in die sie hineingeboren waren. Einem großen Teil der Arbeiterklasse ist es bereits gelungen, sich aus dem Status erbärmlicher Armut herauszuarbeiten. Sofern er überhaupt noch denselben erlebt hat; kaum ein Arbeiter befindet sich noch im Zustande völliger Unwissenheit um die gesellschaftlichen Verhältnisse oder völliger Ergebung in die Bedingungen, die ihm von den Bossen auferlegt werden. Und dieselben Institutionen, die von der Geschichte geschaffen wurden, enthalten organische Widersprüche, die wie Todeskeime wirken, deren Entwicklung zur Auflösung der Institutionen führt oder zur Notwendigkeit ihrer Transformation.
Von daher ergibt sich eine Möglichkeit des Fortschritts - aber nicht die Möglichkeit, alle Menschen auf das notwendige intellektuelle Niveau zu heben, das sie Anarchie wünschen und erreichen ließe durch die Mittel der Propaganda und ohne eine vorangegangene allmähliche Transformation der Umgebung. Der Fortschritt der Menschen und ihrer Umgebung muß gleichzeitig und parallel zueinander verlaufen. Wir müssen aus allen Mitteln, allen Möglichkeiten und Gelegenheiten, die die gegenwärtige Umgebung uns bietet, Nutzen ziehen, um auf unsere Mitmenschen einzuwirken und ihr Bewußtsein und ihre Bedürfnisse zu entwickeln; wir müssen jeden Fortschritt des menschlichen Bewutßtseins benutzen, um sie anzuregen, jene sozialen Veränderungen zu verlangen und zu erzwingen, die möglich sind und die wirksam werden können, um künftigen Fortschritten den Weg zu ebnen. Wir dürfen nicht warten, bis wir die Anarchie erreichen, und uns in der Zwischenzeit auf einfache Propaganda beschränken. Ein solches Vorgehen würde rasch unser Betätigungsfeld erschöpfen; d. h. wir würden all jene bekehren, die unter den gegenwärtigen Umständen aufgeschlossen sind für unsere Ideen und sie akzeptieren, darüber hinaus aber fiele unsere Propaganda auf sterilen Boden; wenn andererseits eine gesellschaftliche Transformation neue Gruppen der Bevölkerung befähigte, neue Ideen zu verstehen, so geschähe das ohne unsere Teilhabe und würde unserer Sache nur Abbruch tun.
Wir müssen versuchen, das ganze Volk oder verschiedene Gruppen des Volkes dazu zu bewegen, Forderungen zu stellen und sich durchzusetzen und sich alle Verbesserungen und Freiheiten, die es ersehnt, einfach in dem Augenblick zu nehmen, da es sie erwünscht und da es die Macht hat, sie zu verlangen; und durch stete Propagierung unseres Programmsund unermüdlichen Kampf für seine Realisierung müssen wir das Volk antreiben, immer mehr zu wünschen und solange Druck auszuüben, bis es vollkommene Emanzipation erlangt hat.
3. Der ökonomische Kampf
Die Unterdrückung, die heute ganz unmittelbar auf den Arbeitern lastet und die die Ursache der moralischen und materiellen Frustrationen ist, unter denen sie leiden, ist die ökonomische Unterdrückung, d. h. die Ausbeutung, der Wirtschaftsbosse und Geschäftsleute sie vermöge ihres Monopols auf alle wichtigen Mittel der Produktion und Distribution unterwerfen.
Um diese Unterdrückung radikal und ohne die Gefahr ihres Wiederauftauchens zu beseitigen, müssen alle Menschen von ihrem Recht auf die Produktionsmittel überzeugt und darauf vorbereitet sein, dieses Grundrecht auszuüben durch die Expropriation der Grundbesitzer, der Industriellen und Bankiers, um dann allen sozialen Reichtum dem gesamten Volk zur Verfügung zu stellen. Aber kann diese Expropriation heute vorgenommen werden? Können wir heute unmittelbar und ohne Zwischenschritte aus der Hölle, in der die Arbeiter sich jetzt befinden, ins Paradies des gemeinsamen Besitzes überwechseln?
Fakten werden demonstrieren, wozu die Arbeiter heute fähig sind. Unsere Aufgabe ist die moralische und materielle Vorbereitung des Volkes auf die notwendige Expropriation; und bei jedem revolutionären Umbruch, der uns eine Gelegenheit hierfür bietet, müssen wir diese Expropriation versuchsweise in Angriff nehmen - bis zum endgültigen Sieg. Aber auf welche Weise können wir das Volk auf seine Aufgabe vorbereiten? Auf welche Weise soll man die Bedingungen schaffen, die nicht nur die materielle Tatsache der Expropriation möglich machen, sondern auch die Nutzung des gesamten gesellschaftlichen Reichtums zum Vorteile jedes einzelnen?
Wir haben schon gesagt, daß gesprochene und gedruckte Propaganda allein nicht die Masse des Volkes für unsere Ideen gewinnen kann. Eine praktische Erziehung ist notwendig, die wechselseitig Ursache und Folge einer allmählichen Transformation der Verhältnisse sein muß. Parallel zu der Entwicklung eines Rebellionsgeistes bei den Arbeitern, der sich gegen die ungerechten und unnötigen Leiden wendet, deren Opfer sie sind, und parallel zu dem Wunsch, ihre Verhältnisse zu bessern, müssen ihre Kräfte vereint werden und müssen sie sich wechselseitig aufeinander verlassen in dem Kampf um die Verwirklichung ihrer Forderungen. Und wir als Anarchisten und Arbeiter müssen sie ermutigen, sie zum Kampf aufreizen und ihnen beistehen.
Aber sind diese Voraussetzungen innerhalb eines kapitalistischen Systems möglich? Sind sie, vom Standpunkt einer zukünftigen vollkommenen Befreiung der Arbeiter aus betrachtet, nützlich? Was immer die praktischen Ergebnisse dieses Kampfes um unmittelbare Gewinne sein mögen, der größte Wert liegt in dem Kampf selbst. Denn dadurch lernen die Arbeiter, daß die Interessen der Bosse den ihren entgegengesetzt sind, und daß sie ihre Bedingungen nicht verbessern, erst recht aber sich nicht selbst befreien können, wenn sie sich nicht zusammenschließen und stärker werden als die Bosse. Wenn sie erhalten, was sie verlangten, wird es ihnen besser gehen: Sie werden mehr verdienen, weniger Stunden arbeiten und mehr Zeit und Energie haben, um über die Dinge nachzudenken, die wichtig für sie sind, und werden sofort größere Anforderungen stellen und größere Bedürfnisse haben. Wenn sie nicht erhalten, was sie verlangten, werden sie dazu angeregt werden, die Ursachen ihres Mißerfolges zu untersuchen und die Notwendigkeit engerer Assoziation und größerer Aktivität zu erkennen, und sie werden zuletzt einsehen, daß es notwendig ist, den Kapitalismus zu zerstören, wenn sie ihren Sieg endgültig sichern wollen. Die revolutionäre Sache, die Sache der moralischen Erhebung und Befreiung der Arbeiter, kann nur Nutzen ziehen aus der Tatsache, daß die Arbeiter sich zusammenschließen und für ihre Interessen kämpfen.
Aber, um noch einmal darauf zurückzukommen, können die Arbeiter im gegenwärtigen Gesellschaftssystem wirklich ihre Bedingungen verbessern? Das hängt vom Zusammenspiel einer großen Anzahl von Faktoren ab.
Obwohl gewisse Leute das Gegenteil behaupten, gibt es kein natürliches Gesetz (Lohngesetz), das bestimmte, welcher Teil seines Arbeitsprodukts dem Arbeiter selbst gehören soll; oder, wenn man es doch in ein Gesetz fassen möchte, so könnte es nur lauten: Löhne können normalerweise weder unter das Existenzminimum sinken, noch über ein Niveau steigen, bei dem dem Boß keine Profitspanne mehr bleibt.
Es liegt auf der Hand, daß im ersten Fall der Arbeiter sterben und daher aufhören würde, irgendeinen Lohn zu beziehen, und daß im zweiten Fall die Bosse aufhören würden, Arbeiter einzustellen und Löhne zu bezahlen. Aber zwischen diesen beiden unmöglichen Extremen gibt es eine unendliche Skala der Möglichkeiten, die von den miserablen Bedingungen vieler Landarbeiter bis zu den beinahe anständigen Lebensbedingungen der Facharbeiter in den großen Städten reicht.
Löhne, Arbeitszeit und andere Arbeitsbedingungen sind das Ergebnis eines Kampfes zwischen Bossen und Arbeitern. Die ersteren versuchen, den Arbeitern so wenig als möglich zu geben und sie dahin zu bringen, daß sie sich zu Tode arbeiten; die letzteren versuchen oder sollten versuchen, so wenig als möglich zu arbeiten und so viel als möglich zu verdienen. Wo die Arbeiter x-beliebige Bedingungen akzeptieren oder aber trotz Unzufriedenheit nicht wissen, wie sie den Anforderungen der Bosse Widerstand entgegensetzen können, werden sie rasch auf viehische Lebensbedingungen reduziert werden. Wo sie hingegen eine Vorstellung davon haben, wie menschliche Wesen leben sollten, wo sie ihre Kräfte zu vereinen und durch Arbeitsverweigerung oder versteckte und offene Drohung mit Rebellion sich die Achtung der Bosse zu gewinnen wissen, da werden sie auf relativ anständige Weise behandelt. Man kann daher mit gewissen Einschränkungen behaupten, daß der Lohn, den der Arbeiter (selbstverständlich nicht als Individuum, sondern als Klasse betrachtet) erhält, dem entspricht, was er fordert.
Durch Kampf, durch Widerstand gegen die Bosse, können die Arbeiter daher bis zu einem gewissen Grade eine Verschlechterung ihrer Verhältnisse verhindern, ja sogar eine wirkliche Verbesserung erreichen. Und die Geschichte der Arbeiterbewegung hat diese Wahrheit bereits demonstriert. Man darf allerdings die Bedeutung dieses Kampfes zwischen Arbeitern und Bossen, der ausschließlich auf dem ökonomischen Sektor geführt wird, nicht überbewerten. Bosse können nachgeben und tun es häufig angesichts mit Nachdruck vorgebrachter Forderungen, solange diese Forderungen nicht zu groß sind; aber wenn die Arbeiter Forderungen aufstellen (und es ist notwendig, daß sie es tun), die den gesamten Profit der Bosse absorbierten und in ihrer Auswirkung eine indirekte Form der Expropriation darstellten, wäre es völlig sicher, daß die Bosse an die Regierung appellierten und suchten, Gewalt einzusetzen, um die Arbeiter zu zwingen, im Zustande der Lohnsklaverei zu verbleiben. Und sogar schon lange bevor die Arbeiter erwarten könnten, das gesamte Produkt ihrer Arbeit zu erhalten, wird der ökonomische Kampf als Mittel, die Verbesserung des Lebensstandards zu erreichen, unbrauchbar.
Alles, was produziert wird, wird von den Arbeitern produziert, und ohne sie wäre das Leben unmöglich; deshalb scheint es so, als könnten sie durch Arbeitsverweigerung erreichen, was immer sie wollen. Aber die Vereinigung aller Arbeiter, selbst nur derer eines einzigen Produktionszweiges eines einzigen Landes, ist schwer zu erreichen; und die Arbeitgeberorganisationen bekämpfen die Vereinigung der Arbeiter. Arbeiter leben von der Hand in den Mund, und wenn sie nicht arbeiten, stehen sie bald ohne Nahrungsmittel da; während die Bosse, da sie Geld besitzen, Zugang zu allen Vorräten haben und es sich daher im Lehnstuhl bequem machen und darauf warten können, bis der Hunger die Arbeiternehmer auf eine unterwürfigere Geistesart reduziert hat. Die Erfindung oder Einführung neuer Maschinen macht Arbeiter überflüssig und vermehrt das große Herr der Arbeitslosen, die durch Hunger dazu getrieben werden, ihre Arbeitskraft zu jedem Preis zu verkaufen. Die Einwanderung schafft sofort neue Probleme in jenen Ländern, in denen bessere Arbeitsbedingungen herrschen, weil die Horden hungriger Arbeiter den Bossen, ob sie wollen oder nicht, die Möglichkeit in die Hand spielen, die Löhne allgemein zu senken.
Und all diese Tatsachen, die sich notwendigerweise aus dem kapitalistischen System herleiten, verschwören sich dazu, den Fortschritten entgegenzuarbeiten, oft sogar sie zu zerstören, die in der Entwicklung des Klassenbewußtseins und der Solidarität der Arbeiter gemacht worden waren. Und in jedem Falle bleibt die überwältigende Tatsache bestehen, daß die Produktion unter dem Kapitalismus von jedem Kapitalisten zu seinem eigenen Profit organisiert ist und nicht, wie es natürlich wäre, um die Bedürfnisse der Arbeiter auf die bestmögliche Weise zu befriedigen. Daher das Chaos, die Verschwendung menschlicher Anstrengung, die organisierte Knappheit der Güter, nutzlose und schädliche Beschäftigungen, Arbeitslosigkeit, Landflucht, die unökonomische Ausnutzung von Maschinen usw., all jene Übel, die nicht zu vermeiden sind, solange man nicht den Kapitalisten die Produktionsmittel und folglich auch die Organisation der Produktion aus der Hand nimmt.
Bald werden sich daher jene Arbeiter, die sich zu befreien oder auch nur ihre Lebensbedingungen zu verbessern wünschen, mit der Notwendigkeit konfrontiert sehen, sich gegen die Regierung zu verteidigen, die Regierung gar zu attackieren, da sie das Eigentumsrecht legalisiert und unter den Schutz roher Gewalt stellt und dadurch eine Barriere vor jeden menschlichen Fortschritt schiebt. Diese Barriere muß mit Gewalt niedergerissen werden, will man nicht nur ewige Zeiten unter den gegenwärtigen oder noch schlimmeren Verhältnissen leben.
Vom ökonomischen muß man zum politischen Kampf fortschreiten, d. h. zum Kampf gegen die Regierung; und anstatt die kapitalistischen Millionen mit den mühsam zusammengekratzten Pfennigen der Arbeiter zu bekämpfen, muß man den Gewehren und Kanonen, die das Eigentum verteidigen, die wirksameren Waffen entgegensetzen, die das Volk finden wird, um Gewalt durch Gewalt zu besiegen.
4. Der politische Kampf
Unter politischem Kampf verstehen wir den Kampf gegen die Regierung. Regierung bezeichnet die Totalität all jener Individuen, die die Zügel der Macht, wie immer erworben, in Händen halten, um die Gesetze zu erlassen und sie den Regierten, d. h. der Öffentlichkeit aufzuzwingen. Die Regierung ist die Konsequenz aus dem Geist der Herrschaft und der Gewalt, mit dem einige Menschen sich andere unterworfen haben, und sie ist gleichzeitig das Geschöpf und der Schöpfer des Privilegs, sowie auch sein natürlicher Verteidiger.
Es ist falsch zu sagen, daß die Regierung heute zwar die Funktion der Verteidigung des Kapitals erfüllt, daß sie aber, sobald der Kapitalismus abgeschafft wäre, zum Repräsentanten und Verwalter des Allgemeinwohls würde. Erstens wird der Kapitalismus nicht zerstört werden ehe die Arbeiter, nachdem sie sich der Regierung entledigt haben, nicht allen gesellschaftlichen Reichtum in Besitz genommen haben und selbst Produktion und Konsumtion im Interesse aller organisieren, ohne auf die Initiative der Regierung zu warten, die, wäre sie noch so willig, den Ansprüchen gerecht zu werden, es doch nicht vermöchte.
Aber es bleibt noch eine weitere Frage offen: Wenn der Kapitalismus zerschlagen würde, eine Regierung aber im Amt bliebe, so würde die Regierung durch das Zugeständnis aller möglichen Arten von Privilegien, den Kapitalismus von neuem aus der Taufe heben, denn, da sie unfähig wäre, jedermann zufriedenzustellen, so bedürfte sie einer ökonomisch mächtigen Klasse, die ihr als Entgelt für legalen und materiellen Schutz ihre Unterstützung zukommen ließe. Folglich können die Privilegienwirtschaft nicht abgeschafft und Freiheit und Gleichheit fest und endgültig etabliert werden, ohne die Abschaffung der Regierung - nicht dieser oder jener Regierung, sondern der Institution der Regierung als solcher.
Wie bei allen Fragen des Allgemeinwohls, ganz besonders bei dieser, bedarf es der Zustimmung des ganzen Volkes, und daher müssen wir uns mit jeder Faser unseres Wesens darum bemühen, das Volk davon zu überzeugen, daß die Regierung sowohl nutzlos als auch schädlich ist und daß wir ohne Regierung besser leben könnten. Aber, wie wir mehr als einmal wiederholten, Propaganda allein ist unfähig, alle zu überzeugen - und wenn wir uns darauf beschränken wollten, Predigten wider die Regierung vom Stapel zu lassen, um zwischenzeitlich gemütlich auf den Tag zu warten, an dem die Öffentlichkeit überzeugt sein wird von der Möglichkeit und dem Wert der Zerschlagung jeder Art von Regierung, so würde dieser Tag nie kommen.
Während wir gegen jede Art der Regierung predigen und vollkommene Freiheit verlangen, müssen wir jeden Kampf um partielle Freiheit unterstützen, weil wir davon überzeugt sind, daß man durch den Kampf selbst lernt, und daß, hat man erst einmal ein wenig von der Freiheit gekostet, man nach mehr verlangt. Wir müssen immer zum Volke stehen, und wenn wir es nicht dahin bringen, viel zu verlangen, müssen wir wenigstens versuchen, es zu veranlassen, etwas zu fordern; und wir müssen jede Mühe auf uns nehmen, um es verstehen zu machen, daß, wie viel oder wenig es verlangen mag, es alles durch eigene Anstrengungen erreichen muß, und daß es jeden verachten und verabscheuen sollte, der zur Regierung gehört oder nach ihr strebt.
Da die Regierung heute die Macht hat, durch das Rechtssystem das tägliche Leben zu regulieren und die Freiheit der Bürger zu erweitern oder einzuschränken, und da wir noch unfähig sind, ihr diese Macht aus den Händen zu nehmen, müssen wir versuchen, ihre Macht zu verringern und müssen die Regierungen zwingen, sie auf eine so harmlose Weise als möglich einzusetzen. Aber das müssen wir von außen und gegen die Regierung erreichen, indem wir durch Agitation in den Straßen und durch die Drohung, mit Gewalt zu nehmen, was wir fordern, Druck auf sie ausüben. Wir dürfen niemals selbst eine legislative Position einnehmen, sei es auf nationaler oder auf lokaler Ebene, da wir dadurch die Wirksamkeit unserer Aktivität neutralisierten und die Zukunft unserer Sache verrieten.
Der Kampf gegen die Regierung ist in letzter Konsequenz physisch, materiell.
Regierungen machen das Recht. Sie müssen daher über materielle Kräfte (Polizei und Armee) verfügen, um das Recht durchzusetzen, denn andernfalls gehorchen nur jene, die Lust dazu hätten, und es handelte sich nicht länger um Recht, sondern um eine einfache Reihe von Empfehlungen, die zu akzeptieren oder abzulehnen in das Belieben eines jeden einzelnen gestellt wäre. Regierungen haben jedoch diese Macht und nutzen sie mit Hilfe des Rechts, um ihre eigene Stellung zu stärken und um die Interessen der herrschenden Klassen bei der Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter zu unterstützen.
Die einzige Grenze, die der Unterdrückung durch die Regierung gesetzt ist, liegt bei der Macht, mit der das Volk sich fähig zeigt, sich ihr zu widersetzen. Der Konflikt mag offen oder versteckt sein; aber er existiert immer, da die Regierung keine Notiz nimmt von der Unzufriedenheit und dem Widerstand des Volkes, solange sie sich nicht von der Gefahr des Aufruhrs bedroht sieht. Wenn das Volk sich sanftmütig dem Gesetz unterwirft oder seine Proteste schwach und rein verbal sind, kümmert sich die Regierung lediglich um ihre eigenen Interessen und ignoriert die Bedürfnisse des Volkes; wenn die Proteste lebhaft, nachdrücklich, drohend werden, verhält sich die Regierung entsprechend ihrem geringeren oder größeren Einsichtsvermögen: Sie gibt nach oder sie greift zur Repression. Aber immer endet man beim Aufruhr! Denn wenn die Regierung nicht nachgibt, wird das Volk rebellieren; und wenn die Regierung nachgibt, gewinnt das Volk an Selbstvertrauen und wird größere Forderungen stellen bis zu jenem Zeitpunkt, da die Unvereinbarkeit von Freiheit und Autorität offenbar und ein gewaltsamer Kampf entfacht wird. Es ist daher notwendig, moralisch und materiell vorbereitet zu sein, damit wenn dies geschieht, das Volk als Sieger aus dem Kampf hervorgeht.
Eine erfolgreiche Erhebung ist der mächtigste Wirkfaktor bei der Befreiung des Volkes, denn wenn das Joch erst einmal abgeschüttelt ist, sind die Menschen frei, sich selbst mit jenen Institutionen zu versehen, die sie für die besten halten und die Phasenverschiebung zwischen Gesetzeserlaß einerseits und Grad an Zivilisation, den die Masse der Bevölkerung erreicht hat, andererseits wird mit einem Sprung überbrückt. Die Erhebung determiniert die Revolution, d. h. das rasche Freiwerden jener latenten Kräfte, die während der "evolutionären" Phase gebildet worden waren. Alles hängt davon ab, was das Volk zu fordern in der Lage sein wird.
In den Erhebungen der Vergangenheit hat es, in Unkenntnis der wahren Ursachen seines Elends, immer nur sehr wenig gefordert und sehr wenig erreicht. Was wird es bei der nächsten Erhebung fordern? Die Antwort hängt zum Teil ab von unserer Propaganda und der Energie, die wir auf sie verwenden. Wir werden das Volk dazu veranlassen müssen, die Bosse zu expropriieren, alle Güter in Gemeinbesitz überzuführen und ihr tägliches Leben durch frei sich konstituierende Assoziationen, ohne auf Befehl von außen zu warten, selbst zu organisieren. Es muß sich weigern, irgendeine Regierung oder eine konstituierte Körperschaft (Wahlversammlung, Diktatur) zu nominieren oder anzuerkennen - auch wenn es sich nur um ein Provisorium handeln sollte, die sich das Recht zuschreibt, Gesetze zu erlassen und sie den anderen mit Gewalt aufzuzwingen.
Und wenn die Masse der Bevölkerung nicht auf unseren Appell reagiert, müssen wir - im Namen des Rechtes auf Freiheit, das wir auch dann noch besitzen, wenn andere es vorziehen, Sklaven zu bleiben, und um der Beispielkraft willen - so viele unserer Ideen als möglich verwirklichen, müssen uns weigern, die neue Regierung anzuerkennen und stattdessen den Widerstand lebendig erhalten und zusehen, daß jene Gebiete, in denen unsere Vorstellungen auf Verständnis stoßen, sich zu anarchistischen Gemeinden zusammenschließen, die jede gouvernementale Einmischung ablehnen und freie Übereinkünfte mit anderen Gemeinden treffen, die auch ihr eigenes Leben zu führen gedenken.
Wir werden uns vor allem dem Wiederaufbau der Polizei und der Armee mit allen Mitteln widersetzen und jede Gelegenheit benutzen müssen, die Arbeiter in nicht-anarchistischen Örtlichkeiten anzuregen, die Abwesenheit repressiver Mächte auszunützen, um die weitreichendsten Forderungen zu verwirklichen, zu denen wir sie aufstacheln können. Und wie immer die Dinge laufen mögen, wir müssen den Kampf gegen die besitzende Klasse und die Herrschenden ohne Atempause weiterführen und ständig unser Ziel der vollkommenen ökonomischen, politischen und moralischen Emanzipation der Menschheit vor Augen behalten.
5. Conclusion
Was wir also wollen, ist die völlige Zerschlagung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; wir wollen die Menschen durch eine bewußte und erwünschte Solidarität vereint sehen als Brüder, die freiwillig für das Wohl aller zusammenarbeiten; wir wollen eine Gesellschaft, die sich konstituiert in der Absicht, jedermann mit den Mitteln zu versehen, ein Maximum an Wohlergehen und an moralischer und geistiger Entwicklung zu erreichen; wir wollen Brot, Freiheit, Liebe und Wissenschaft für jedermann.
Und um all diese wichtigen Ziele zu erreichen, ist es unserer Meinung nach notwendig, die Produktionsmittel jedermann zur Verfügung zu stellen und keinem Menschen, auch keiner Gruppe von Menschen, eine Position zu gewähren, von der aus andere gezwungen werden könnten, sich fremdem Willen zu beugen. Niemand soll einen anderen Einfluß ausüben können als den der Vernunft und der Beispielhaftigkeit.
Daher also: Expropriation der Grundbesitzer und Kapitalisten zum Wohle aller; und Abschaffung der Regierung.
Und während wir auf den Tag warten, da dies geschehen kann: Propagierung unserer Ideen; unaufhörlicher Kampf, der je nach den Umständen gewaltsam oder gewaltlos zu führen ist, gegen die Regierung und die Klasse der Wirtschafsbosse, um soviel Freiheit und Wohlstand zum Nutzen eines jeden zu erobern, als wir nur können.
Aus: Errico Malatesta Gesammelte Schriften Band 1, Karin Kramer Verlag, Berlin,1977
Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Malatesta_Ein_anarchistisches_Programm.htm