Diego A. De Santillan - Die tägliche Revolution von unten auf

Vielleicht hat Max Nettlau recht wenn er meint, daß Gustav Landauers fieberhafte Tätigkeit während der sechs Monate zwischen Ende 1918 und Mai 1919 für die um eine bessere Zukunft ringende Menschheit nicht den tragischen Verlust dieses Mannes aufwiegt, umsomehr als dieser durch unvollkommene Menschen und Verhältnisse bedingt war, deren Zusammenbruch auch zum seinen wurde.

Selbst während dieser glühenden und leidenschaftlichen sechs Monate war er eigentlich einsam und unverstanden; die Welt, die er in sich trug, diese vollständige innere Reinheit, diese Generosität ohne Grenzen, war nur sein ureigenster Besitz, auch während jener Tage in München. Und das war nur natürlich; er konnte kaum erwarten, daß er von Menschen so fremden geistigen Ursprungs wie es Sozialdemokraten und Marxisten im allgemeinen waren, verstanden werden würde; umsoweniger als auch die, die ihm am nächsten hätten stehen müssen und die sich offiziell zu einem freiheitlichen Sozialismus bekannten, ihn ebenfalls isoliert und selbst als Gegner abgelehnt hatten - seit den Tagen des ersten "Sozialist" in den 90er Jahren, als er es gewagt hatte, einen freiheitlichen Sozialismus des Aufbaus zu predigen, einen Anarchismus der praktischen direkten Aktion, im Gegensatz zu jener revolutionären Katastrophentheorie und dem Dogmatismus, die die sogenannten freiheitlichen Bestrebungen so unfruchtbar gemacht haben.

Was Landauer uns nach Mai 1919 und während all dieser Jahre noch hätte sagen können, können nur die ahnen, die wissen, was er bereits gesagt hatte, was er mit seiner Feder, dem gesprochenen Wort und praktischer Arbeit in vielen Jahren literarischer und sozialer Tätigkeit zum Ausdruck zu bringen versucht hat. Er war ein wirklich unabhängiger Denker, frei und entschlossen, von seltener geistiger Verfeinerung, von unendlichem geistigem Höhenflug; sein Werk war, mit einem Worte, eine reine Quelle geistiger und praktischer Inspiration, und die durch seinen Tod in unsere Reihen gerissene Lücke ist noch nicht wieder ausgefüllt worden. Seine Ermordung, diese schändliche Tat, war nicht nur ein unersetzlicher Verlust für Deutschland, sondern auch das Ersticken einer Stimme, die zu Europa und zur ganzen Welt hätte sprechen sollen.

Aus dem reichen geistigen Schatz Gustav Landauers haben wir während des vergangenen Vierteljahrhunderts versucht, zwei oder drei Grundgedanken hervorzuheben. Wir haben damit nicht mehr Erfolg gehabt als Landauer selbst, aber wenn schon von Mißerfolgen in der sozialistischen Arbeit die Rede sein soll, möchten wir betonen, daß es für uns nicht auf Erfolge ankommt, sondern auf Überzeugungen. Wir wollen nie unsere Überzeugungen opfern, um Irrtümern zum Erfolg zu verhelfen.

Erstens lehrt uns Landauer, daß die Gedanken der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit an keinerlei bestimmtes wirtschaftliches System gebunden sein können - weder an den Kollektivismus Bakunins, noch an den freiheitlichen Kommunismus Kropotkins oder die Konzentrationstheorie Marx`s; Sozialismus und Freiheit sind immer dann möglich, wenn Menschen, die sie wirklich wollen, sich entschließen für ihre Ideale zu leben - gleichgültig ob sie mit modernen Traktoren oder römischen Pflügen arbeiten, gleich ob sie in mächtigen Flugmaschinen den Raum durchmessen oder auf dem Rücken von Mauleseln reisen. Was uns interessiert ist wirklich nur der Sozialismus, die Liebe zur Freiheit und die Leidenschaft für die soziale Gerechtigkeit. Die Formen des Eigentums sind gleichgültig; viele Wege führen nach Rom. 

Wir wenden uns nicht gegen die große Fabrik, aber wir betrachten sie ebensowenig als den Eckstein einer neuen Welt; wir verwerfen weder freien Kommunismus, noch Kollektivismus, noch den Gedanken der genossenschaftlichen Gegenseitigkeit, aber wir machen aus keiner dieser Konzeptionen ein Dogma. Diese und andere Lösungen sind möglich; alles hängt von der besonderen Erziehung der Menschen, dem Milieu, den gegebenen Möglichkeiten ab. 

Zwischen 1936 und 1939 erlebten wir die landwirtschaftlichen und industriellen Kollektive im republikanischen Spanien, in denen Anregungen verschiedener Art ihren Ausdruck gefunden haben mögen, die aber vor allen Dingen freie Versuche waren, von unten nach oben emporgewachsen, an die Verhältnisse angepaßt und verschieden untereinander trotz tiefer Gemeinsamkeiten. Ein Satz, der uneingeschränkt gilt, ist der, daß meine Freiheit ihre beste Bestätigung, ihre sicherste Garantie nur in der Freiheit der anderen finden kann, und daß ich nicht für andere wollen darf, was ich für mich selbst nicht wünsche.

Ein zweiter Gedanke, der uns mit Landauer verbindet, ist, daß wir nicht an Revolutionen glauben, die auf wunderbare Weise ausbrechen oder notwendigerweise kommen müssen. In München hätten wir uns wohl in den Strudel der Ereignisse geworfen, wie Landauer es tat, aber in der festen Überzeugung, daß die Früchte einer solchen Revolution nur dem revolutionären Reifegrad entsprechen, der vorher schon in der Seele und dem Geist der Menschen vorhanden war - man wird niemals mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit erreichen können, als in den Herzen der Völker, in den großen Massen lebendig sind. 

Worauf es ankommt, ist also nicht die große Revolution von morgen, sondern die kleine Revolution, die zu jeder Stunde und an jedem Tage stattfindet, mit den gegebenen Mitteln und soweit es die Umstände gestatten. Immer kann etwas Praktisches getan werden, und sei es noch so wenig, und wer das Wenige, das heute möglich ist, nicht tun will um des Vielen und Großen, das angeblich in der Zukunft geschehen soll, wirkt weder für die Zukunft noch für den heutigen Tag. Ein so begabter und geistig so tätiger Mann wie Landauer mußte zum unversöhnlichen Gegner jeder Art von geistiger Selbstbetrügerei werden und trat deshalb für einen Anarchismus der praktisch aufbauenden Aktion ein, die unmittelbar eingeleitet werden sollte, das heißt für eine Revolution von unten auf in jedem Augenblick. In diesem Sinne stimmt Rudolf Rockers bekanntes Eintreten für den Kampf ums tägliche Brot und seine Aufforderung, für den Wiederaufbau Deutschlands durch Mitarbeit in den Gemeinden einzutreten, vollständig mit der Haltung Gustav Landauers überein, den man als den Philosophen der Revolution bezeichnet hat.

In den modernen freiheitlich-sozialistischen Bewegungen klafft ein Gegensatz zwischen Gedanke und Leistung, und so lange dieser Widerspruch besteht, so lange man glaubt, daß man eine wichtige Funktion mittels theoretischer Propaganda für die Revolution erfüllt, ohne die geringste Verpflichtung unmittelbar die Hände ans Werk zu legen, ohne in den Grenzen der gegebenen Möglichkeiten etwas zu tun, so lange gibt es keine Hoffnung eines wirklichen Aufstiegs und Fortschritts. Jener Sozialismus, den Marx und Engels als utopisch abtun wollten, weil er statt die Konzentration des Kapitals zu verherrlichen, zur Gestalt in der Wirklichkeit werden wollte, war ein wirklicher Sozialismus, etwas Lebendes, auch wenn nach unserer heutigen Meinung manch überflüssiger Wortschwulst damit verbunden gewesen sein mag. Wir glauben, daß ein Sozialismus, der nicht nach praktischem Ausdruck im täglichen Leben sucht, bestenfalls dazu taugen kann, eine Regierungspartei zu gründen, oder geistige Selbstbefriedigung zu fördern, aber nichts mit dem wahren Geiste des Sozialismus zu tun hat. Die freiheitliche Bewegung könnte etwas Lebendes, könnte ein Versprechen für die Zukunft sein, wenn sie das freiheitliche Denken des 19. Jahrhunderts wieder aufgriffe, weiter ausarbeitete und sich zum Leitstern machte und den konstruktiven Geist zum Vorbild nähme, der den sogenannten utopischen Sozialismus beseelte, natürlich unter Anpassung an die Wirklichkeit, in der wir heute leben.

Drittens denken wir mit Landauer, daß die großen Dinge stets im Kleinen beginnen. Der mächtige Baum entspringt dem winzigen Samenkorn. Worauf es ankommt ist, daß der Samen gut und erlesen sei, und daß er in gute Erde falle. Es braucht uns nicht zu entmutigen, daß jede gute Initiative notwendigerweise in kleinem Maßstab beginnt. Die fruchtbaren Ideen, die guten Samenkörner in fruchtbarer Erde entwickeln sich und befruchten. Max Nettlau entwickelte diesen eugenischen Gedankengang in zwei Aufsätzen, deren einen wir, etwas gemildert, unter dem Titel "Von der Weltkrise zur freien Gesellschaft" in spanischer Sprache veröffentlichten. Landauer hätte ihn wohl unterschreiben können, obwohl er sein Leben lang in eifriger und doch freundschaftlicher Diskussion mit Nettlau stand. Ein solcher lebensfähiger Keim sind die "Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes" von 1908, deren Geist im "Aufruf zum Sozialismus" zum Ausdruck kommt, und übrigens früher, lange vor Landauer, auch im Werke Proudhons.

Wir fassen zusammen und wenden uns also gegen jede revolutionäre Katastrophentheorie, die verkennt, daß man in Wahrheit nur zerstören kann, was man durch Besseres zu ersetzen vermag; wir sind Gegner aller totalitären Regierungspläne, der Revolution von oben herunter, und wollen statt dessen eine neue revolutionäre Bewegung, die von unten aufsteigt, im Kleinen beginnt und den bescheidenen Aufbauversuch nicht scheut, so wie Landauer. Wir stehen vor einer Periode der Entwicklung, die vielleicht die finstersten Zeiten der Vergangenheit in den Schatten stellen wird. Wir dürfen uns keine Illusionen machen. Was wir heute schreiben, kann in schlimmen Jahren, die kommen, vollkommen ausgelöscht werden, aber was wir an neuem Denken und Handeln, an Wirklichkeiten schaffen, wird wie ein starker Baum sein, der allen Stürmen trotzt und zum Walde wird, falls nur der Same gut und die Erde, in die er fiel, wertvoll war.

"Sozialismus ist Arbeit an der Menschheit, die, innen und außen, Wirklichkeit werden soll, und solange Völker, die selbst bleiben und doch die Menschheit bilden, andere Völker dulden und sich mit ihnen zum Bunde vereinen sollen, gegen ein einziges Volk Unrecht begehen oder begehen lassen, so lange ist der Weg zur Menschheit versperrt."

Das Erbe Landauers ist eine ständige Botschaft an die Menschheit und ein Aufruf zur Tat; alle großen und kleinen Probleme waren für ihn ein ununterbrochener Anlaß zum direkten und unmittelbaren Eingreifen, wobei er nie sein Ziel aus dem Auge verlor und nie seine Ansprüche zurückschraubte. Im Gegenteil, dieser Gedanke der täglichen Revolution von unten auf war für ihn eins mit der Vision einer freien und glücklichen Menschheit, seinem höchsten Ziel.

Anmerkung:
Dem Spanier Diego Abad de Santillan kommt das Verdienst zu, als erster das Werk Gustav Landauers im Ausland bekannt gemacht zu haben. Er übersetzte und veröffentlichte 1931, in argentinischer Emigration lebend, Landauers Aufruf zum Sozialismus, den er inzwischen, wieder als Emigrant in Argentinien, 1947 in zweiter Auflage herausgebracht hat.

Der Titel dieser Übersetzung ist: Incitación al socialismo; sie wird durch ein kurzes Vorwort des Übersetzers eingeleitet und enthält im Anschluß an Landauers Werk auch dessen "12 Artikel" und eine 125 Seiten umfassende, liebevoll in Landauers Werdegang und Grundgedanken eindringende Arbeit Max Nettlaus unter dem Titel "Gustav Landauers Leben nach seinem Briefwechsel" (den beiden Bänden Gustav Landauer, ein Lebensgang in Briefen, Frankfurt a. M. 1929).

Originaltext aus: Gustav Landauer. Worte der Würdigung, Verlag "Die Freie Gesellschaft", Darmstadt/Land. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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