Briefwechsel zwischen Nahum Goldmann und Gustav Landauer über Zionismus und Kibbuzim

Der Briefwechsel zwischen dem bekannten Zionisten Nahum Goldmann und Gustav Landauer, den wir zum ersten Male in der Originalsprache veröffentlichen, befindet sich im Nachlasse Martin Bubers in der hebräischen Universität Jerusalem. Er gibt einen Einblick in die soziale Konzeption der Zionisten jener Zeit, die in naher Beziehung zur anarcho-sozialistischen Ideenwelt stand.

Die Anregungen Gustav Landauers scheinen mir bedeutungsvoll als Versuch der Konkretisierung der Idee im Hinblick auf eine unmittelbare praktische Aufgabe.

Die politische und soziale Entwicklung im Nahen Osten hat sich anders vollzogen, als es die freiheitlich-sozialistischen Pioniere wollten. Entstanden ist ein Staat mit traditionellem zentralistischem Aufbau und eine Wirtschaft, die weitgehend kapitalistische Züge trägt. Ein Grund dafür ist die von einer weltweiten antisemitischen Welle verursachte Masseneinwanderung vom Menschen, die im Lande ihrer Väter eine Zuflucht suchten, ohne jedoch vom Willen zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung beseelt zu sein.

Auf der anderen Seite rief der aufgedrängte permanente Kriegszustand mit den arabischen Ländern nach militärischem und politischem Zentralismus und liess die ursprüngliche föderative Idee in den Hintergrund treten. Die kriegsbedingte Abhängigkeit vom kapitalistischen Ausland öffnete dem Kapitalismus die Tore.

Trotzdem wird die Landschaft Israels noch heute von kommunistischen Kibbuzim und genossenschaftlichen Moshavim gestaltet. Freiwillige Wirtschaftsgemeinschaften und Genossenschaften und deren Föderationen, zu denen die zionistischen Pioniere mit grössten Opfern den Grund gelegt haben, sind aus dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes nicht wegzudenken. Sie sind noch heute aller gegensätzlicher Einflüsse zum Trotz das soziale und geistige Rückgrat Israels und können von keiner Regierung ernstlich in Frage gestellt werden.


Sehr geehrter Herr Landauer!

Meine beiden Telegramme wegen des Palästina-Delegiertentages haben Sie wohl erhalten und wissen, dass er erst Ende April stattfindet. Wir hoffen sehr, dass Sie um diese Zeit die Möglichkeit haben werden, auch in Berlin zu sein und teilzunehmen.

Von Herrn Dr. Buber werden Sie schon wissen, dass er beabsichtigt, für Mitte April in München eine kleine Konferenz einzuberufen zur Klärung der Frage des Aufbaus der Palästinasiedlung. Sie hatten uns in München Ihre Mitarbeit in Aussicht gestellt und sich auch bereit erklärt, uns bei der Formulierung der Anträge und Thesen, die wir eventl. dem Delegiertentag vorlegen wollen, zu unterstützen. Ich möchte Ihnen heute die wichtigsten Punkte vorlegen, in denen wir Ihren Rat haben müssen; sie stellen das Ergebnis einer Besprechung der hiesigen Freunde dar.

1) Als die Grundfrage beim Aufbau der Siedlung betrachten wir das Problem der zentralisierten oder dezentralisierten Gesellschaft. Wir sind uns hier alle in dem Wunsche einig, dass die Siedlung nach den Prinzipien einer dezentralisierten Gemeinschaftsordnung aufgebaut werde, in der der Schwerpunkt bei den Einzelgemeinden liegt, in denen die Menschen in unmittelbaren Beziehungen zueinander leben können. Die Schwierigkeit der Frage liegt nur darin, festzustellen, welche Gebiete des Gesellschaftslebens eine zentralisierte Ausgestaltung verlangen, wie z.B. viele Gebiete der technischen Verwaltung und des Wirtschaftslebens.

Wir bitten Sie nun, uns hierin Ihre Meinung mitteilen zu wollen und wenn möglich Ihren Standpunkt in Form einiger grundlegender Thesen zu formulieren.

2) Über die Nationalisierung des Bodens sind wir uns alle einig, mit uns ja heute, glaube ich, auch schon der grössere Teil aller Zionisten. Mit Nationalisierung des Bodens verlangen wir auch diejenige der Bodenschätze (Wasser, Kohle etc.)

3) Sehr schwierig und ungeklärt sind für uns die Fragen der Industrie. Die Wenigsten von uns sind Marxisten in dem Sinne, dass sie eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel verlangen. Uns allen schwebt so etwas wie eine genossenschaftlich organisierte Fabrik vor, an der die Arbeiter ebenso wie der Unternehmer beteiligt sind, und zwar gleichberechtigt in allen Fragen der Gewinnbeteiligung, der Leitung etc. Die strittigen Fragen sind:

a) Ob der Profit der gesamten Gemeinschaft oder nur der Spezial-Fabrikgenossenschaft gehören soll, wodurch, wie manche befürchten, die Gefahr der Herausbildung einer neuen kleinbürgerlichen kapitalistischen Arbeiterklasse vorhanden wäre, und andererseits auch die Arbeiter der rentableren Fabriken sehr viel günstiger gestellt wären als diejenigen weniger rentabler?

b) Ob nicht doch eine Vereinigung der beiden Prinzipien, der genossenschaftlichen Einzelfabrik auf der einen und der vergesellschafteten Industrie auf der anderen Seite möglich wäre, etwa in dem Sinne, dass eine gewisse Vergesellschaftung im Sinne einer Kontrolle und weitgehender Eingriffsrechte der Allgemeinheit erforderlich wäre, schon aus dem Grunde, damit nicht die Arbeiter gutgehender Fabriken sich gegen den Zuzug neuer Elemente wehren können?

4) Sehr schwierig und ungeklärt sind uns auch ferner die Fragen der Regelung des Handels. Soll er nationalisiert werden, soll er ganz in die Hände der einzelnen Siedlungen gelegt werden, wer soll den internationalen Tauschhandel betreiben etc.?

Das sind diejenigen Punkte, über die wir uns bisher in unserem Kreise ausgesprochen haben und für die wir um Ihren Rat bitten. In all diesen Fragen wollen wir eventl. Thesen oder Resolutionen dem Delegiertentag vorlegen und bitten Sie, uns Ihren Standpunkt in solchen Thesen formulieren zu wollen. Im übrigen werden wir ja alle diese Fragen auf der Konferenz in München eingehend besprechen können, nur wäre es uns lieb, wenn Sie uns schon vorher einiges schriftlich mitteilen wollten, damit wir ein wenig vorbereitet hinkommen. Über andere wichtige Fragen (Araberfrage, Frage der landwirtschaftlichen Betriebe, Bedingungen der Erbpacht und anderes) wollen wir uns erst hier noch unterhalten, bevor wir an Sie mit der Bitte um Ihren Rat auch in diesen Dingen herantreten.

Ich hoffe, dass sie bei all Ihrer Inanspruchnahme in diesen Tagen und Wochen in München vielleicht doch Zeit finden werden, uns unsere Fragen zu beantworten und danke Ihnen in unser aller Namen. Mit den besten Grüssen und Wünschen bin ich Ihr

gez. Nahum Goldmann Krumbach (Schwaben), 19.3.19

Lieber Herr Goldmann,

Buber hat mir noch nicht geschrieben. Jedenfalls nehme ich gern an der Konferenz in München [1]  teil. Wenn es geht, möchte ich die Entscheidung, ob ich auch nach Berlin zum Delegiertentag gehen kann, erst zur Zeit der Münchner Konferenz fällen; es sind der Unbestimmtheiten, von denen ich abhänge, zu viele. Ihre Fragen wollen wir gemeinsam auf der Konferenz zu lösen versuchen; jedenfalls will ich jetzt keine Antworten geben, sondern die Fragen nennen, die noch zu Ihren Fragen dazugehören.

Zu 1 ): Dezentralisation und damit Freiheit und Freiwilligkeit ist überall da in weitem Masse durchzuführen, wo man nicht auf Rentabilität und Konkurrenzfähigkeit sehen muss, d.h. wo man es sich leisten kann um der Seele willen unsparsam zu wirtschaften. Hierher gehört also schon die Frage: Wird man die Wirtschaft, auch das, was sonst Staatswirtschaft hiess, auf die blosse Produktivität der Arbeit stellen? Oder ist Rentabilität erfordert?

Eine weitere Frage ist, ob man nicht - abgesehen von den Zentralisationseinrichtungen, die man schon vorfindet, den nötigen Zentralismus aus Gemeindebünden erwachsen lassen soll? Von Fall zu Fall?

In engem Zusammenhang mit der Frage des Zentralismus stehen die Fragen der Besteuerung des Staatshaushalts, Polizei und Gerichtswesen Beamtentum und Delegationswesen (demokratische Regierung).

Und bei alledem scheint es mir möglich, fast alles, was vom Staat notwendig sein wird, nicht von vornherein aufzuerlegen, sondern aus den Gemeinden und ihren Bünden erwachsen zu lassen; aber nur dann, wenn nicht Zweckmässigkeit des Organismus der oberste Grundsatz ist, sondern das seelische Wohlbefinden der einzelnen Glieder.

Zu 2): Nationalisierung des Bodens muss Grundsatz sein Er muss in all den Fällen zur angewandten Wirklichkeit werden, wo es sich um seltene Bodenschätze handelt, auf die die Gemeinschaft Anspruch hat. (Erz, Kohle, Tonlager, grössere Wasserkräfte, die zu mehr als Gemeindezwecken dienen u.s.w.) Im allgemeinen aber kann der Grundsatz zum Faktum werden in mannigfachen Formen: Vergebung von einzelnen Loten durch die Gemeinden in Erbpacht, Gemeindebesitz mit gemeinsamer Bewirtschaftung und dergleichen mehr. - Auch hier spielt die Frage zu 1) stark herein.

Ich meine, dass jede Gemeinde ihre Gemarkung hat, über die sie mit Ausnahme der Fälle der Gemeinschaftsbodenschätze selbständig verfügt. Aber gerade hier ist reichlich Gelegenheit zu Gemeinbünden: gemeinsame Beschaffung künstlichen Düngers, landwirtschaftlicher Maschinen, Vertriebsgenossenschaften u.s.w. Auch hier meine ich: lieber auf die Gefahr der Verschwendung hin die Freiwilligkeit wachsen lassen, als von vornherein die Zwangsorganisation auferlegen.

Zu 3): Man braucht wahrhaftig kein Marxist zu sein, um die Profitwirtschaft völlig auszuschliessen. Ihre Fragestellung hat für mich keine Bedeutung. Hierher gehört vielmehr die Frage des äquivalenten Tausches, der zinslosen Geldwirtschaft und des gegenseitigen Kredits. Und dann, wenn sie so gelöst sind, wie sie gelöst werden können, die Frage des 4) nationalen Handels und des Handels mit der - vielleicht noch kapitalistischen - Aussenwelt. Diese Fragen sind beide sekundär. Sind erst die Fragen zu 3) gelöst, so hat jede Ware ihren Marktwert, und die Art, wie zu markten ist - durch Märkte, durch Angebot und Nachfrage in Anzeigeblättern - bildet keine Schwierigkeit.

Die Frage des Tauschverkehrs mit fremden Ländern hängt aber von zwei Umständen ab: a) ob man überschüssige Produkte hat; b) ob man sie so gut und so billig anbieten kann, dass der Weltmarkt sie begehrt? Diese Fragen werden beide mit ja beantwortet werden müssen und hierfür wird die Gemeinschaft Sorge tragen müssen, wenn man gewisse Güter importieren muss. Da das ohne Zweifel der Fall ist - gleichviel in welchem Masse - wird mehr als alles andere der Aussenhandel nationalisiert und der Privatwirtschaft, auch der Gemeindewirtschaft entzogen sein müssen.

Besorgung und Verteilung der Waren aus dem Ausland wird Sache der Gesamtheit sein, müssen; und die Gesamtheit wird auch dafür sorgen, dass entsprechende Güter für den Export da sind, widrigenfalls es zu Verpfändungen und zu Abhängigkeit vom Ausland käme.

Ich schlage vor, Sie und Ihre Freunde bedenken diese vorläufigen Bemerkungen, und wir wollen dann in gemeinsamer Arbeit zu Thesen kommen. Einstweilen mit herzlichen Grüssen

Ihr Gustav Landauer

Fußnoten:
[1] Die projektierte Palästinakonferenz konnte nicht stattfinden, da inzwischen in München die revolutionären Ereignisse ihren Anfang genommen hatten, an denen Gustav Landauer an exponierter Stelle beteiligt war und deren Opfer er werden sollte. Dieser Brief zeugt nebenbei davon, dass Gustav Landauer die vor der Türe stehende Revolution in keiner Weise voraussah, noch plante.

Originaltext: Akratie Nr. 9, Sommer 1977. Korrekturen von Ue zu Ü etc. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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