Leo Tolstoi - Ein Appell an die politischen Revolutionäre

Der folgende Aufsatz ist ein Teil mehrerer, bis her unübersetzt gebliebener, ähnlicher Artikel, die Leo Tolstoi, der Profite Wegweiser unseres Ideals und unserer Zeit wie Zukunft, im Jahre 1907, nach dem Ausbruch der ersten russischen Revolution, seinem intimen Freund Tschertkoff zur Veröffentlichung in England übergab. Alle diese, das gleiche Thema behandelnden Aufsätze sind unter dem Ge-samttitel "Die russische Revolution" herausgegeben worden und erschien das Buch in englischer Sprache im Tolstoi-Verlag "The Free Age Press" in Christchurch, Hants.

Der von uns übersetzte Auszug bildet den zweiten Teil eines Appell, dessen ersten Tolstoi an den Zaren, dessen zweiten er eben an die politischen Revolutionäre und dessen dritten und letzten Teil — wir werden ihn auch übersetzen — er an das russische Volk gerichtet hat.

An Lebendigkeit lassen Tolstois Ausführungen nichts zu Wünschen übrig; es gibt leider keinen einzigen Vorwurf, den er den politischen Revolutionären macht, der durch den bisherigen Verlauf der gegenwärtigen Revolutionsepoche nicht seine allzu triftigen Bestätigungen gefunden hätte. In der Tat, alles, was Tolstoi den Revolutionären der Vergangenheit, sagt und vorwirft, trifft heute mit noch größerer Wucht auf diese zu, als auf jene von gestern. Über zwei Jahre einer teilweise verpfuschten Revolution in Rußland, mehr als sechzehn Monate einer vollständig verpfuschten in Deutschland und Österreich-Ungarn, überhaupt in Mitteleuropa, stehen auf dem Sündenregister der sogenannten Revolutionäre unserer Zeit. Wir lernen dank Tolstoi erkennen, wodurch die Verpfuschung einer Revolution erfolgen muß; lernen wir auch, was nötig ist um jene Verpfuschung zu überwinden und eine Revolution der Revolution zu wecken, die ihrerseits das Erwachen einer neuen Menschheit bilden wird. (Red. "E.u.B.")

Leo Tolstoi - Ein Appell an die politischen Revolutionäre

Unter den politischen Revolutionären verstehe ich jene Leute, die — beginnend mit der friedlichsten Konstitutionalisten und sich erstreckend bis zu den radikalsten Revolutionären — bestrebt sind, die gegenwärtige Regierungsgewalt durch eine andere Regierungsgewalt zu ersetzen, welch letztere anders organisiert und aus anderen Menschen bestehen würde a-s die gewesene.

Revolutionäre aller politischen Schattierungen und Bezeichnungen: Ihr erachtet die gegenwartige Regierung als schädlich und versuchet auf verschiedene Art, mittels von der Regierung gestatteten oder verbotenen — Massenbewegungen, revolutionären Aktionsplänen, Proklamationen und Demonstrationen und schließlich — als natürliche und unvermeidliche Grundlage und Folge aller dieser Betätigungen — durch Mord, Hinrichtungen und bewaffnete Aufstände, die bestehenden Staatsgewalten durch andere, neue zu ersetzen.

Obwohl Ihr alle unter einander darin uneinig seid, worin diese neue Autorität bestehen, wie sie beschaffen sein soll, so haltet Ihr dennoch; um die von jeder Eurer Gruppen vorgeschlagenen Maßnahmen herbeizuführen, vor keinerlei Verbrechen inne, verübt Ihr, wenn nötig, Mord, Explosionen, Hinrichtungen, entfesselt Ihr den Bürgerkrieg.

Ihr kennt keine Worte, die stark genug wären, um Eure Verurteilung und Verachtung für jene offiziellen Personen zum Ausdruck zu bringen, die das Volk bedrücken. Aber Ihr solltet nicht vergessen, daß alle, wirklich grausamen und grauenhaften Handlungen, die die Mitglieder der Regierung in ihrem Kampf gegen Euch vollführen, in ihren Augen gerechtfertigt sind, weil sie, vom Zaren bis herab zum letzten Polizisten, erzogen worden sind in unbegrenzter Ehrfurcht vor der bestehenden Gesellschaftsordnung, geheiligt durch Alter und Tradition; und die, wenn sie diese Ordnung verteidigen, vollkommen davon überzeugt sind, daß sie etwas tun, was von Millionen Menschen von ihnen verlangt wird, da alle diese die Rechtmäßigkeit der bestehenden Ordnung und ihrer Position in derselben anerkennen. So, daß sie glauben, die moralische Verantwortung für ihre grausamen Handlungen nicht allein tragen zu müssen, sondern mit vielen Leuten teilen zu können.

Anderseits seid Ihr: Leute aller möglichen Berufe — Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Studenten, Professoren, Journalisten, Studentinnen, Arbeiter, Rechtsanwälte, Kaufleute, Gutsbesitzer oder Leute in Berufen, die in ihren besonderen Obliegenheiten bisher nichts mit der Regierung zu tun gehabt haben — Ihr seid keineswegs außerhalb Eures eigenen Kreises anerkannt, noch genießt Ihr außerhalb Eurer eigenen Bewegung Vertrauen. Dennoch fühlt Ihr, daß Ihr plötzlich, über allem und jedem Zweifel erhaben, Euch allein dessen bewußt seid, welche Art von besonderer politischer und staatlicher Verfassung alle Menschen benötigen und im Namen dieser Verfassung — die dereinst, in der Zukunft, erst vollreif und ideal verwirklicht werden soll und deren Einzelheiten ein jeder von Euch auf seine eigene Art und Weise auffaßt — nehmt Ihr die ganze Verantwortung für eben diese schrecklichen Taten auf Euch, die Ihr verübet. Ihr fühlt Euch berechtigt, zu zerstören, zu morden und hinzurichten. Tausende sind getötet worden; alle sind zur Verzweiflung getrieben, verbittert und brutalisiert. Und wofür ist all das geschehen?

Es ist alles getan worden, weil innerhalb einer Gruppe von Leuten, kaum der zehntausendste Teil der gesamten Nation, einige dahin entschieden haben, daß für die beste politische Verfassung des Reiches diejenige erwählte parlamentarische Körperschaft nötig sei, die zuletzt einberufen worden war; dieweil andere sagen, was wirklich vonnöten, sei eine durch das allgemeine, geheime und gleiche Wahlrecht erwählte Nationalversammlung; eine dritte Partei sagt, was nötig, sei eine Republik; und eine vierte Partei erklärt, was nötig, sei keine gewöhnliche Republik, sondern eine sozialdemokratische Republik. Und wegen dieser Streitfragen wird ein Bürgerkrieg entfesselt.

Ihr Sagt, Ihr tut es um des Volkes willen, und daß Euer Hauptziel die Volkswohlfahrt sei. Aber die Millionen Menschen, für die Ihr all dies tut, haben Euch nicht aufgefordert, für sie zu handeln und wollen alle diese staatlichen Dinge nicht, die Ihr durch solche schlechte Mittel zu erreichen suchet. Die Masse des Volkes braucht Euch nicht, sondern hat Euch immer als nutzlöse Raupen angesehen, sieht Euch als Politiker noch als solche an und kann Euch als nichts anderes ansehen, weil Ihr in der einen oder anderen Weise, die Früchte ihrer Arbeit verzehrt und eine Bürde für die Masse des Volkes seid. Vergegenwärtigt Euch nur deutlich, das Leben dieser Millionen ackerbautreibender Bauern, die, streng genommen, die wesentlichsten Teile des Körpers einer jeden Nation konstituieren; und verstehet doch dann, daß Ihr alle in den Städten: — Intellektuelle oder Fabriksarbeiter zur Erzeugung nutzloser, weil nur dem Luxus oder dem Gewaltsystem dienender Waren — daß just die, die sich angeblich so viel bemühen um des Volkes Wohlfahrt, größtenteils schädliche Schmarotzer auf dessen Körper sind, dessen Blut und Kraft aussaugen, auf ihm verfaulen und ihm nur die eigene Korruption zutragen.

Stellet Euch nur lebhaft vor, wie die Millionen von Bauern und Landarbeiter, die geduldig und schwer sich abmühen müssen, um des Lebens Notdurft zu stillen, auch noch Euer unnatürliches und künstliches Leben auf ihren Schultern tragen müssen, stellet Euch einmal vor, daß sie alle diese Reformen besitzen, die Ihr ihnen zu erringen trachtet — und Ihr werdet leicht einsehen, wie fremd all das, was angeblich zu ihrem Wohle, das ihr angeblich zu verwirklichen sucht, diesen Leuten ist! Sie haben andere Lebensaufgaben und erkennen tiefer und deutlicher das Ziel ihres Lebens, und sie drücken dieses Bewußtsein ihrer Bestimmung nicht in politischen Manifesten aus, sondern durch das ganze Leben eines Millionen umfassenden, aber werktätigen Teiles des Volkes.

Allein nein — Ihr könnet dies nicht verstehen! Ihr seid fest davon überzeugt, daß das rauhe Bauerntum keine eigenen Lebenswurzeln besitzt und daß es für dasselbe ein großer Segen sein würde, wenn Ihr den Bauer erleuchtet mit Eurem oberflächlichen Scheinwissen, während Ihr, indem Ihr so handelt, ihn nur eben so bemitleidenswert, hilflos und verderbt macht, wie Ihr selbst es vielfach seid.

Revolutionäre, Ihr sagt, Ihr wollt eine gerechte Organisation des Lebens, aber Ihr könnt tatsächlich nur unter einer ungeregelten, ungerechten Organisation existieren. Sollte man daran schreiten, eine wahrhaft gerechte Organisation zu etablieren, die keinen Raum denen gewährt, die von der Arbeit anderer leben, so würdet Ihr Alle — sowohl Ihr: Land- und Hausbesitzer, Geschäftsmänner, Nurintellektuelle und Advokaten, ebenso wie Ihr: Luxusarbeiter, Fabrikanten, Werkstättenbesitzer, Nurgeistesarbeiter, Arbeiter in der Munitions-, Tabak-, Alkohol-, Samt- und Seidenindustrie usw., zusammen mit sämtlichen Mitgliedern der Regierung — Ihr alle, die Ihr oft zu gleicher Zeit Revolutionäre seid, würdet in einer gerechten Organisation des Lebens Eure Lebensweise aufgeben müssen, oder Ihr würdet verhungern. Was Ihr darum wollt, ist eigentlich keine gerechte Organisation des Lebens, denn nichts könnte für Euch alle gefährlicher sein, als eine Ordnung, in welcher jedermann eine Arbeit zu verrichten hätte, die für alle nötig und nützlich ist.

Hört nur auf, Euch zu täuschen! Überleget Euch gut, welchen Platz Ihr innerhalb des Volkes einnehmet und was Ihr tut, und bald wird es Euch klar werden, daß Euer Kampf gegen die Regierung auf beiden Seiten nur ein Machtkampf ist, also der Kampf zweier Schmarotzer auf einem gesunden Körper und daß beide einander bekämpfenden Parteien in gleicher Weise schädlich sind für das Volk.

Sprechet daher von Euren eigenen Interessen, aber sprechet nicht für das Volk. Lügt dasselbe nicht an, versprechet ihm nichts, laßt es in Frieden. Bekämpfet die Regierung, wenn Ihr nicht anders könnt aber wisset, daß Ihr für Euch selbst und Eure Machteroberung kämpfet, nicht für das Volk, und daß in diesem Gewaltkampf es nichts Edles oder Gutes gibt, sondern daß Euer Kampf eine durchaus unsinnige, schädliche und, da er nur zu neuer Machtherrschaft führt, vor allem unmoralische Angelegenheit ist.

Eure Aktivität erstrebt, so sagt Ihr, die allgemeine Lage des Volkes zu heben. Aber auf daß die Lage des Volkes eine bessere werde, dazu ist nötig, daß die Menschen selber besser werden. Dies ist so seht eine augenscheinliche Wahrheit, wie die, daß um einen Kessel Wasser zu erwärmen, alle Tropfen in demselben erwärmt werden müssen. Damit die Menschen besser werden, dazu ist nötig, daß sie immer mehr ihre Aufmerksamkeit auf sie selbst, auf ihre eigene Lebensführung, Handlungsweise, auf ihr Innenleben richten. Aber die öffentliche Parteipolitik und besonders der öffentliche Parteienkampf lenkt den Geist der Menschen von ihrem inneren Leben ab. Und dadurch wird das Volk nur verdorben, der Grad seiner allgemeinen Moralität wird durch jene Methoden, wie wir es überall beobachten können, stets und unvermeidlich gesenkt.

Dieses Sinken des Grades der allgemeinen Ethik und Rechtlichkeit verursacht es, daß die unmoralischesten Teile der Gesellschaft mehr und mehr nach oben, zur Macht gelangen. Und sie bilden dann eine ihnen entsprechende, verworfene, öffentliche Meinung, die ihnen nicht nur gestattet, sondern sogar gutheißt all die Verbrechen derer, die zu Macht gekommen sind, ihre Räubereien, Verwüstungen und Vergeudungen und selbst den Mord gutheißt. Auf diese Weise entsteht ein bösartiger Kreis: Die üblen Elemente der Gesellschaft, hervorgerufen durch den sozialen Krieg, werfen sich leidenschaftlich in eine politische Tätigkeit, die dem tiefen Niveau Ihres Charakters entspricht und diese, ihre Tätigkeit lockt immer verworfenere Elemente der Gesellschaft an sich heran. Der allgemeine moralische Charaktergrad senkt sich mehr und mehr, und die Scheußlichsten der Menschen — wie ein Napoleon, Bismarck oder Ihresgleichen — werden zu Helden des Tages. So daß die Beteiligung an den Machtkämpfen des politischen Lebens nicht nur keine erhabene, nützliche und gute Sache ist — wie es gewohnheitsmäßig angenommen wird, und von denjenigen gelehrt wird, denen diese politischen Kämpfe ein Beruf sind —, sondern im Gegenteil, sie ist eine ganz fraglos stupide, harmvolle und schlechte Sache.

Überleget Euch dies, besonders Ihr, junge Menschen, die Ihr noch nicht untergetaucht seid in dem klebrigen Schlamm der Parteipolitik!

Schüttelt den schrecklichen hypnotischen Bann von Euch ab, unter dem Ihr Euch befindet. Befreiet Euch von der Lüge dieses Scheindienstes zu Gunsten des Volkes, in dessen Namen Ihr Alles als Euch gestattet erachtet, während es nur dazu dient, Euch über das Volk emporzuschwingen. Vor allem gedenket der höchsten Eigenschaften Eurer Seele, welche weder das gleiche und geheime Wahlrecht noch den bewaffneten Aufstand oder eine gesetzgebende Nationalversammlung oder ähnliche Unsinnigkeiten und Grausamkeiten beanspruchen, sondern nur das Eine von Euch fordern: daß Ihr ein gutes, gerechtes und wahrhaftes Leben führen sollt!

Was zu einem solchen guten und aufrichtigen Leben nötig ist, ist vor allem dies: Betrüget Euch nicht in der Annahme, Ihr dientet mit Eurem politischen Machtstreben dem Volke, wenn Ihr in Wirklichkeit nur Euren kleinlichen Leidenschaften nachgebet und dient: Der Eitelkeit, dem Ehrgeiz, der Machtgier, Euch in anmaßender Bedrohung bloß deshalb ergeht, weil Ihr wünschet, zur Verausgabung Eurer überschüssigen Energie einen Ausfluß zu haben.

Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 16 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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