Rainer Holze - Max Nettlau (1865 - 1944)

Max Nettlau (1) hat sich um die Sammlung sozialistischer Literatur außerordentliche Verdienste erworben. Seine Bibliothek, die größte, umfangreichste und bedeutendste auf dem Gebiet des freiheitlichen Sozialismus, stellt gemeinsam mit seinen Werken eine monumentale Quelle für die Erforschung der Geschichte des antiautoritären Denkens und des freiheitlichen Sozialismus dar. Der bescheidenen Selbsteinschätzung Nettlaus als "Bearbeiter historischen sozialistischen Materials" steht sein Leben und Werk gegenüber, dessen Umfang und Reichtum bis heute bei weitem noch nicht erforscht sind. Seiner Sammlertätigkeit ordnete Max Nettlau seine gesamte Lebensplanung unter. So verzichtete er als "freiheitlicher Sozialist ohne öffentlichen Wirkungskreis" auf eine akademische Karriere und auf eine feste berufliche Tätigkeit.

Max Nettlau wurde am 30. April 1865 in Neuwaldegg, heute Teil von Wien geboren. Ab 1882 studierte er in Berlin, Leipzig und Greifswald vergleichende indoeuropäische Sprachwissenschaften mit dem Schwerpunkt keltische Sprache. 1885 führten ihn seine sprachwissenschaftlichen Studien nach London. Im Ergebnis seiner Studien verteidigte er 1887 an der Leipziger Universität seine Dissertation zum Thema "Beiträge zur cymrischen Grammatik".

Zeitweilig hatte er Einnahmen als Autor diverser anarchistischer Zeitschriften und als Übersetzer. Einmal, von 1885 bis 1890, schloss er sich einem sozialistischen Zirkel, der Londoner "Socialist League", an, in dem Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Marxisten, Anhänger des parlamentarischen Sozialismus und Gewerkschafter ihre Debatten austrugen. Nettlau ging es dabei jedoch vorrangig um den günstigen käuflichen Erwerb libertärer Literatur (Bücher und Zeitschriften). Doch dann war er auch derjenige, der 1889 das bedeutende Archiv der "Socialist League" mit tausenden Briefen und Dokumenten vor der Vernichtung rettete. Die Überreste dieses Archivs werden heute, restauriert und geordnet, als Teil des Nachlasses Max Nettlau im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG) in Amsterdam aufbewahrt.

Nach London war Nettlau jedoch nicht als politischer Emigrant oder als Flüchtling gekommen. Vielmehr führten ihn 1885 seine sprachwissenschaftlichen Studien dorthin. Im British Museum in London, in dieser Stadt lebte und arbeitete Nettlau bis 1913 jährlich für einige Zeit, beschränkte er sich jedoch nicht nur auf die keltische Lektüre. Zusehends widmete er sich auch dem Studium der dort vorhandenen sozialistischen Literatur. Sein zunehmendes Interesse an der sozialistischen Ideengeschichte, verbunden mit den persönlichen Kontakten zu den internationalen sozialistischen Londoner Zirkeln, führte schließlich zu seinem zweiten Forschungsschwerpunkt, der Geschichte und der Entwicklung des Sozialismus. Er vertiefte sich in die Geschichte der I. Internationale, in die Hintergründe und die jeweiligen Motive für die divergierenden Auffassungen unter den Sozialisten und vor allem in die Auseinandersetzungen von Karl Marx und Friedrich Engels mit dem russischen Anarchisten Michael Bakunin. In Distanz zum aus seiner Sicht in der damaligen Arbeiterbewegung vorherrschenden, von Marx und Engels geprägten Politik- und Revolutionsverständnis stehend, wollte er Bakunins Bedeutung in jener Zeit ins rechte Licht rücken. Auf der Grundlage eines intensiven Quellenstudiums und ausführlicher Befragungen von Zeitzeugen verfasste Nettlau die erste gründliche Bakunin-Biographie (2) und leistete darüber hinaus in den folgenden Jahrzehnten maßgebliche Vorarbeiten für die gesamte Bakunin-Forschung. Er veröffentlichte außerdem Biographien über Elisée Reclus (3) und Enrico Malatesta (4). Sein Hauptwerk ist seine ab 1925 veröffentlichte, auf sieben Bände konzipierte Geschichte der Anarchie. (5)

Bereits 1888 waren seine Geschichtskenntnisse so weit gediehen, dass er zunächst mit der Sammlung der anarchistischen Literatur beginnen konnte. Den ersten Anstoß dazu erhielt er von dem österreichischen Sozialisten Victor Adler. In den folgenden drei Jahrzehnten gelang es Nettlau mit unermüdlichem Eifer, großer Findigkeit – so konnte er zum Beispiel während des Ersten Weltkrieges nicht wenige wertvolle Materialien retten, die sich in den Händen der Wiener Makulaturhändler befunden hatten – und hoher Sachkenntnis, eine sehr umfangreiche Sammlung aufzubauen. Dazu trugen einige begünstigende Umstände bei. So konnte Nettlau – er hatte ein beachtliches Vermögen seines 1892 verstorbenen Vaters geerbt – 50000 Goldfranken in seine Sammlung investieren und unabhängig arbeiten und reisen. Bei diesen Reisen in fast alle europäischen Länder und bei längeren Studienaufenthalten – vornehmlich in London, Paris und Berlin – knüpfte er enge persönliche Kontakte zu den führenden Anarchisten seiner Zeit (unter anderem zu Kropotkin, Reclus, Malatesta, Landauer, Rocker und Morris), die er teilweise auch in seine intensive Sammlertätigkeit einspannte.

Bei dieser kamen ihm auch seine ausgezeichneten Sprachkenntnisse in Englisch, Französisch und Russisch sehr zugute. Die von Nettlau gesammelten Bücher, Broschüren, Zeitschriften, Zeitungsausschnitte, Dokumente (darunter auch Quittungen), Manuskripte, Flugblätter, Aufzeichnungen, Briefe, Erinnerungsberichte, Plakate, Karikaturen und bildlichen Darstellungen geben Auskunft über die ganze Breite der freiheitlichen sozialistischen Bewegung Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, spiegeln sich darin doch relevante geschichtliche Ereignisse, Protagonisten, Milieu, Innenleben und vieles mehr.

In einem Brief vom 13. Juni 1921 an Siegfried Nacht, einem in die Vereinigten Staaten ausgewanderten österreichischen Anarchisten, vermittelt Nettlau eine Vorstellung von dem sehr großen Umfang seiner Sammlung: "Anarchistisches, Bücher und Broschüren 3.200; Zeitschriften: 1.200; Freiheitliches (dabei auch der revolutionäre Teil des Syndikalismus etc.): 13.000 Druckwerke und 600 Zeitschriften; Sozialistisches: 10.500 Druckwerke und 2 300 Zeitschriften; Politisch-Radikales etc.: 13.000 Sachen, die Zeitschriften mit eingeschlossen. Das gibt 36.850 Sachen; dazu mehrere tausend weniger prononcierte kleinere Literatur, wodurch 40.000 Sachen erreicht, wenn nicht überschritten sind. Dabei sind mehr als 10.000 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, von denen einzelne Nummern, teils sehr viele oder alle Nummern, manchmal ganze Kisten voll, vorhanden sind; diese bewirken eben die ungeheure räumliche Ausdehnung." (6)

Nettlaus Sammlung war in verschiedenen Orten untergebracht (zu großen Teilen in London, weiter in Paris, München und bei Nettlau selbst in Wien). Sehr gern hätte Nettlau seine Materialien statt in Kisten, die die Benutzung sehr erschwerten, in Bücherkästen beherbergt. "Aber alles konnte ich nicht haben," resümierte er einmal, "ich war nur ein Depositär, und die Ansammlungen werden mich hoffentlich überleben". (7)

Um unter den gegebenen Umständen einen Überblick über seine riesige Sammlung zu haben, erstellte Nettlau Kataloge, die er bis in die zwanziger Jahre auf seinen Reisen mitführte. Sie befinden sich im bereits erwähnten Nachlass Nettlau; sein zweibändiges Manuskript "Geschichte meiner Sammlung" ist nicht mehr vorhanden.

Als Nettlau durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg seiner sämtlichen Geldreserven – er hatte sein Vermögen zu einem großen Teil in einer österreichisch-ungarischen Bank in Pfandbriefen angelegt, die schnell wertlos wurden – verlustig ging, war er nicht mehr in der Lage, die sehr kostenintensive Unterbringung seiner Sammlung in geeigneten Lagerräumen zu bezahlen. Mit der anarchistischen Bewegung verbundene Gönner und Freunde sprangen ein und übernahmen die Kosten.

Dass er die finanziellen Mittel für die Erhaltung seiner Sammlung nicht mehr selbst aufbringen konnte, bereitete Nettlau große Sorgen, auch die Gefahr einer drohenden Konfiszierung seiner in London und Paris untergebrachten Materialien; Deutsche durften de facto nach dem Ersten Weltkrieg in England und Frankreich keine Sammlungen unterhalten.

Nettlau hatte die Absicht, seine Sammlung, die er auch nach dem Weltkrieg weiter ergänzte, einer großen europäischen Spezialbibliothek zu verkaufen. Schritte in diese Richtung, aber auch Vorstöße von Institutionen, führten nie zum Abschluss, da er immer wieder über den Ort und auch über die Modalitäten unschlüssig wurde. So zeigte zum Beispiel 1925 das Moskauer Marx-Engels-Institut durch die Vermittlung von Carl Grünberg Interesse und unterbreitete ihm gleichzeitig das Angebot, in Moskau seine Arbeiten über Bakunin zu beenden, was Nettlau allerdings ablehnte. In letzter Minute rückte er auch 1928 von einem bereits notariell beglaubigten Kaufvertrag ab, den er mit dem holländischen Juristen und Historiker N. W. Posthumus – er hatte Nettlaus Sammlung bereits für den von ihm gegründeten Verein "Nederlandsch Economisch-Historische Archief" angekauft – abgeschlossen hatte. Nettlau war dann aber nicht bereit, sein früher gefertigtes Testament, wonach seine Sammlung nach seinem Ableben in den Besitz der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin übergehen sollte, zu widerrufen.

Seine sich seit der Weltwirtschaftskrise rapide verschlechternde Lebens- und Arbeitssituation (unter anderem das Ausbleiben von Spenden für die Unterbringung seiner Sammlung und von eigenen Verdienstmöglichkeiten infolge der Unterdrückung der anarchistischen Presse durch die Diktatur in Argentinien), der starke Bedeutungsverlust des Anarcho-Syndikalismus in Deutschland und die politisch sehr unsichere Situation in Österreich veranlassten dann Nettlau, 1935 schweren Herzens Verkaufsverhandlungen mit dem gerade gegründeten Amsterdamer Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis zuzustimmen. Einer seiner besten Freunde, der schweizerische Arzt Dr. Fritz Brupbacher, hatte dabei vermittelt. Im Auftrage des IISG führte schließlich Annie Adama van Scheltema-Kleefstra mit Nettlau in dessen Haus in Wien die hartnäckigen Verhandlungen. Sie konnte letztendlich alle Bedenken Nettlaus ausräumen und mit ihm einen Vertrag über den Verkauf seiner Sammlung abschließen. Resignierend teilte Nettlau Dr. Brupbacher mit: "Die holländische Dame...ist munter, weil sie die Sammlung kriegt und ich bin das Gegenteil, weil ich sie verliere." (8)

Doch als Nettlau dann im Jahre 1937 zum ersten Male in seinem Leben seine ganze Sammlung aufgestellt und zu einem großen Teil geordnet sah, zeigte er sich doch recht angetan. Es war für ihn, schrieb er 1940 in Amsterdam, eine "in jeder Hinsicht befriedigende Lösung". Bereits 1938, als Österreich dem deutschen Reich angeschlossen wurde, war Nettlau nach Amsterdam gegangen, wo er bis zu seinem Tode am 23. Juli 1944 lebte. Nah bei seiner Sammlung verbrachte er seinen Lebensabend und unterstützte deren Erschließung.

Seine seit über sieben Jahrzehnten im IISG beherbergte Sammlung harrt der weiteren Auswertung, aber auch zahlreiche seiner unveröffentlichten Arbeiten.

Fußnoten:
1.) Weitere Literatur über Max Nettlau und seine Sammlung: Andreas G. Graf, Nettlau, Carl Hermann Max, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, S. 88-89; Arthur Lehning, Necrology of Max Nettlau, Leiden 1950 (Nachdruck im Band "Max Nettlau, Geschichte der Anarchie, Ergänzungsband", Glasshütten im Taunus 1972"); Maria Hunink, Das Schicksal einer Bibliothek. Max Nettlau und Amsterdam, in: International Review of Social History, 27 (1982), S. 4-42; Erinnerungen der Bibliothekarin des IISG Amsterdam Annie Adama van Scheltema-Kleefstra, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Geschichte der Arbeiterbewegung, (1979) 4, S. 15-21.
2.) Max Nettlau, Michael Bakunin. Eine biographische Skizze. Mit Auszügen aus seinen
Schriften, Berlin 1901.
3.) Ders., Elisėe Reclus. Anarchist und Gelehrter (1830-1905), Berlin 1928.
4.) Ders., Enrico Malastesta. Das Leben eines Anarchisten, Berlin 1922.
5.) Ders., Geschichte der Anarchie, Bd. 1-3, Berlin 1925-1931 (Neudruck Bd. 1-3, Glashütten im Taunus 1972); Bd. 4-5, Vaduz 1981-1984; Ergänzungsband, Glashütten im Taunus 1972 (enthält: Max Nettlau, Bibliographische und Bibliographische Daten) (Band 6 und 7 blieben unveröffentlicht und werden als handschriftliche Manuskripte im IISG aufbewahrt).
6.) Rudolf Rocker, Max Nettlau. Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegungen, Berlin 1978, S. 229 ff. (enthält auch eine ausführliche Bibliographie von Max Nettlaus Büchern, Schriften, Manuskriptbänden, Aufsätzen u. Beiträgen).
7.) Manfred Burazerovic, Max Nettlau. Der lange Weg der Freiheit, Berlin 1996, S. 50.

Aus: Günter Benser und Michael Schneider (Hrsg.) - Bewahren. Verbreiten. Aufklären: Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung, Bonn-Bad Godesberg, 2009. Als Originaltext diente ein PDF des Beitrags bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bearbeitet von www.anarchismus.at


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