Bernd A. Laska -  Max Stirner

Leben

Max Stirner ist das Pseudonym für Johann Caspar Schmidt. Schmidt wurde am 25. Oktober 1806 in Bayreuth als erstes Kind protestantischer Eltern geboren. Sein Vater, ein Handwerker, der Flöten und andere Musikinstrumente herstellte, starb, als Johann Caspar ein halbes Jahr alt war. Die Mutter heiratete zwei Jahre später einen Apotheker und übersiedelte mit ihm ins westpreussische Kulm. Johann Caspar wurde bald nachgeholt, jedoch 1818, im Alter von 12 Jahren, nach Bayreuth zurückgeschickt, wo er in die Familie seines Paten aufgenommen wurde und das renommierte, von Georg Andreas Gabler geleitete Gymnasium besuchte (Gabler wurde nach Hegels Tod 1831 dessen Nachfolger an der Universität Berlin). Schmidt immatrikulierte sich 1826 an der Berliner Universität, wo er u.a. bei Hegel und Schleiermacher hörte. Er brach jedoch sein mit großem Eifer begonnenes Studium nach vier Semestern ab und ging -- nach einem nicht beendeten Semester in Erlangen -- "auf eine längere Reise durch Deutschland". 1833 kehrte er nach Berlin zurück, wo er zwei weitere Semester studierte und nach weiteren Unterbrechungen die sonstigen formellen Bedingungen erfüllte, um schließlich 1839, im Alter von 33 Jahren, seine erste feste Stellung anzutreten: als Lehrer an einer Berliner Mädchenschule. Ab Mitte 1841 war Schmidt häufiger Gast bei den "Freien", einer lockeren Gruppierung von jungen, oppositionellen "Intellektuellen" um den Ex-Hegelianer und Ex-Theologen Bruno Bauer, dem neben Ludwig Feuerbach führenden Kopf der sog. Junghegelianer. Zu dieser Zeit begann er, mit kleineren Beiträgen als Journalist und Schriftsteller an die Öffentlichkeit zu treten: teils anonym, teils bereits pseudonym als "Max Stirner". In den Jahren 1842-47 entstanden Stirners wichtigste Schriften, insbesondere sein Werk »Der Einzige und sein Eigenthum«, das, vordatiert auf 1845, Ende Oktober 1844 erschien. Der »Einzige« erregte für kurze Zeit ein skandalöses, von Verboten ("zu radikal") und Verbotsaufhebungen ("so radikal, dass er sich selbst widerlegt") begleitetes Aufsehen. Einige Autoren reagierten mit kleineren Gegenschriften, auf die Stirner mit dem Artikel »Recensenten Stirners« antwortete. Die wichtigste Gegenschrift indes verfasste anschließend Karl Marx: den furiosen »Sankt Max«. Marx veröffentlichte seinen Anti-Stirner nach einigem Zögern jedoch nicht, vermutlich aus zwei Gründen: erstens, weil er (insgeheim) die Stichhaltigkeit seiner polemischen Kritik bezweifelte und eine Duplik Stirners fürchtete; zweitens, weil Stirner inzwischen -- schon ein Jahr vor den Ereignissen des März 1848 und ihren politischen Folgen, die den radikalen philosophischen Diskussionen ohnehin ein Ende setzten -- bereits zur Unperson geworden war, öffentliche Kritik an ihm somit fehl am Platze und taktisch unklug gewesen wäre. Stirner, der zweimal kinderlos verheiratet war (1838 und 1843-46), hatte kurz vor Erscheinen seines »Einzigen« seine Lehrerstelle aufgegeben und verdiente danach seinen Lebensunterhalt mit selbständiger Erwerbstätigkeit. Er verbrachte die restliche Zeit seines Lebens, literarisch kaum noch tätig, in zunehmender materieller Armut. An den politischen Ereignissen der Jahre 1848/49 scheint er sich, im Gegensatz zu den meisten Junghegelianern, nicht beteiligt zu haben. Stirner starb, von den Zeitgenossen vergessen, am 25.Juni 1856 in Berlin und wurde auf dem Sophienfriedhof beigesetzt.

»Der Einzige und sein Eigentum«

Stirner ist ein vir unius libri; sein Werk kann ohne substantiellen Verlust auf jenes eine Buch, »Der Einzige und sein Eigentum«, reduziert werden. Dieser »Einzige« hatte ein außergewöhnlich interessantes Bücherschicksal. Er war zunächst, wie alle Beiträge der junghegelianischen Diskussion der 1840er Jahre, schnell vergessen, wurde jedoch, als einziger daraus, nach längerer Zeit wiederentdeckt und -- nach erneutem Vergessen abermals wiederentdeckt. Diese beiden sog. Stirner-Renaissancen (1893ff und 1968ff) hatten zudem jeweils einen sehr ungewöhnlichen Anlass: sie waren wesentlich Ergebnis der energischen Initiative jeweils eines einzelnen Mannes, und zwar eines dezidierten Stirner-Gegners: 1893 des Nietzscheaners Paul Lauterbach und 1968 des Marxisten Hans G. Helms. Beide exponierten Stirners Buch aus erklärtermaßen hochpolitischem Grund: um die Größe und aktuelle Bedeutung der geistigen Tat Nietzsches bzw. Marx' -- als "Überwinder" Stirners als des literarischen Inbegriffs des "absolut Bösen" -- um so klarer hervortreten zu lassen. Obwohl der »Einzige« ein Verkaufserfolg wurde -- bisher mehr als 100'000 Exemplare -- blieb Stirner eine Randfigur der Ideengeschichte. Die Absicht der beiden Initiatoren, Stirner als den Antipoden zu Nietzsche bzw. zu Marx zu etablieren -- was nolens volens eine gewaltige Aufwertung Stirners bedeutet hätte -- gelang bisher nicht (vgl. Laska 1994).

Die Anarchisten und Stirner

Stirner bezeichnete sich selbst nirgendwo als Anarchisten, er kritisierte vielmehr in seinem »Einzigen« (1844) den Mann, der sich 1840 als erster selbst einen Anarchisten genannt hatte: Proudhon -- allerdings nicht deswegen, sondern wegen seiner moralisierenden Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Probleme. Proudhon, der sonst sehr an der Entwicklung der (jung-)hegelianischen Philosophie in Deutschland interessiert war, überging Stirners »Einzigen« mit Schweigen. Auch Bakunin, der andere maßgebliche Anarchist des 19.Jahrhunderts, vermied es, sich zum »Einzigen« zu äußern. Diese offenkundige Berührungsangst der Anarchisten vor Stirner machten sich in den 1880er Jahren -- nach dem Tode von Marx, der einst ebenfalls einer öffentlichen Auseinandersetzung mit Stirner ausgewichen war -- die Marxisten für ihre politische Polemik zunutze: Stirner sei "der Prophet des heutigen Anarchismus"; Bakunin sei nichts als Proudhon plus Stirner, so lautete die von Friedrich Engels 1886 ausgegebene Parole. Die ersten Historiker des Anarchismus, selbst keine Anarchisten, rechneten Stirner, der inzwischen im Kielwasser des Nietzscheanismus zu einer bekannten Figur geworden war, ebenfalls dem Anarchismus zu (Zenker 1895, Eltzbacher 1900, Zoccoli 1907). Die Anarchisten selbst hielten indes nach wie vor Distanz zu Stirner. Nur eine kleine Gruppe, die sich als "individualistische Anarchisten" von der eigentlichen anarchistischen Bewegung abgrenzte, bekannte sich demonstrativ zu Stirner (mit zweifelhafter Berechtigung). Die distanzierte Haltung der Anarchisten gegenüber Stirner änderte sich auch im 20. Jahrhundert nicht wesentlich. Landauer stand Stirner über längere Zeit sehr ambivalent, schließlich aber eindeutig ablehnend gegenüber. Mühsam erwähnt Stirner nur einmal: in einer autobiographischen Skizze, wo er Landauer dafür dankt, dass er ihn als jungen Mann dem verführerischen Einfluss Stirners entrissen habe. Kropotkin, der über Jahrzehnte zu Stirner geschwiegen hatte, denunzierte ihn schließlich, zu einer Stellungnahme gedrängt, als "Manchestermann" und damit Pseudo-Anarchisten (der sonst so milde Mann konnte, wie Nettlau überlieferte, sehr wütend werden, wenn im Gespräch auch nur der Name Stirner fiel). Nettlau, selbst Anarchist und wohl bester Kenner der anarchistischen Bewegung in ihrer Glanzzeit, stand eher ratlos vor dem Phänomen, dass die meisten Anarchisten Stirner ablehnten, und meinte, Stirner sei eben meist missverstanden worden. Dieses Urteil von 1927, aus der Endphase einer Epoche, in der sowohl das Interesse an Stirner als auch der Einfluss des politischen Anarchismus relativ groß gewesen waren, kann heute, nachdem beide in den 60er Jahren noch einmal auflebten, erneuert werden. Nur sollte ein so hartnäckiges "Missverstehen" -- zumal es auch in der Stirner-Rezeption außerhalb des Anarchismus vorherrscht -- Grund zu intensiven Nachforschungen geben. In Übereinstimmung mit der vorherrschenden, meist ohne nähere Begründung und indirekt ausgedrückten Ablehnung Stirners durch die große Mehrzahl der Anarchisten -- der allenfalls die oberflächliche, unspezifische Zustimmung durch wenige Einzelne gegenübersteht -- stellen in zunehmendem Masse auch die Autoren neuerer Untersuchungen zum Anarchismus oder zu Stirner die überkommene Einordnung Stirners als Anarchisten in Frage bzw. in Abrede (Heintz 1951, Lösche 1977, Ritter 1980).

Die Philosophen und Stirner

Die Anarchisten, insbesondere deren theoretische Köpfe, waren nicht die einzigen, die einen öffentlichen argumentativen Diskurs mit Stirner bzw. über dessen »Einzigen«, so nahe er thematisch auch lag, vermieden haben. Sie befinden sich mit dieser ausweichenden Haltung durchaus in angesehener Gesellschaft. Marx, der seinen Anti-Stirner wohlweislich nicht veröffentlichte, wurde bereits genannt. Nietzsche ist, seiner Bedeutung wegen, hier als nächster zu nennen: eine genaue Untersuchung seiner intellektuellen Biographie ergibt starke Indizien für die Annahme, dass direkte Spuren seiner Konfrontation mit Stirners »Einzigem« deshalb fehlen, weil er selbst sie sorgfältigst verwischte. Die Stirner-Renaissance der Jahrhundertwende wurde dann wesentlich dadurch möglich, dass die Lehren, die diese beiden Denker -- großteils in Abwehr der Stirner'schen -- entwickelt hatten, zu Massenerfolgen geworden waren. Stirner konnte nun, wenn nicht als exaltierter Anarchist, dann als banausischer und damit abgetaner Vorläufer Nietzsches eingeordnet werden -- oder als Scheinradikaler, der bereits vom jungen Marx als "wildgewordener Kleinbürger" entlarvt worden sei. Die Liste der Denker, in deren intellektueller Vita gleichfalls eine existenzielle Erschütterung durch Stirners »Einzigen« nachweisbar ist, auf die sie, statt mit einer argumentativen und nachvollziehbaren Auseinandersetzung, mit einer veritablen Verdrängung reagierten, enthält durchaus weitere klangvolle Namen: von Carl Schmitt (der als Student Stirner anfangs als "wahre Erquickung", bald jedoch als Plage empfand, ihn dann vergessen zu haben scheint und erst vierzig Jahre später, in der Not der Einzelhaft, wieder mit ihm zu ringen hatte) bis zu Jürgen Habermas (der als junger Mann gegen die vermeintliche "Absurdität der Stirnerschen Raserei" mit eigener Raserei sich zu wehren versuchte, Stirner dann aber so gründlich verdrängte, dass er ihn in den nächsten vierzig Jahren -- selbst in seinen einschlägigen Spezialarbeiten: z.B. über die Junghegelianer, über die Entstehung des historischen Materialismus -- nicht einmal mehr nannte).

Stirners potentielle Aktualität

Die bevorzugte Methode, den Gehalt des »Einzigen«, Stirners "Philosophie" -- gelegentlich in eingestandener Ratlosigkeit auch "Unphilosophie" genannt -- darzustellen, war stets die epitomatische: kurze, prägnante Abschnitte aus dem Text wurden aneinandergereiht und sollten für sich sprechen. Einprägsame Sentenzen wie "Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt" und "Mir geht nichts über Mich" wurden weithin bekannt, stehen für einen rohen Nihilismus bzw. Egoismus und werden oft für die -- so gesehen: dürftige -- Quintessenz des »Einzigen« genommen. Selbstverständlich gab es auch genauere, solidere, gründlichere Darstellungen und Untersuchungen zu diesem oft mit Superlativen -- "extremsten", "kühnsten", "fluchwürdigsten" etc. -- bedachten Buch; doch kamen auch sie letztlich zu keinem grundsätzlich anderen Ergebnis. Die konventionellen Methoden, philosophische Texte zu interpretieren, haben im Falle des »Einzigen« versagt. Keinem Autor gelang es bisher, die oft gespürte, gelegentlich auch ausdrücklich festgestellte Sonderstellung Stirners in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, der Neuzeit, gar der gesamten Geschichte wirklich präzise zu bestimmen. Stirners »Einziger« blieb, was geflissentlich übersehen wird, ein hapax legomenon im Text der abendländischen Philosophie. Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich vorläufig am einleuchtendsten durch die doch äußerst erstaunliche Tatsache stützen, dass einige der größten der heute allgemein anerkannten Denker (und die bedeutendsten anarchistischen Theoretiker!) einer sachlich gebotenen, argumentativen Auseinandersetzung mit Stirner ausgewichen sind. Die bloße Erkenntnis, dass dauerhafte Fürwahrhalten und vor allem das philosophiehistorische Gewichten dieser Tatsache ist offenbar stets durch vielerlei Hindernisse äußerst erschwert gewesen (dies lässt sich anhand des massenhaften sekundären Ausweichens, des bequemen blinden Nachvollzugs jenes primären der Großtheoretiker, demonstrieren, besonders eindrucksvoll am Beispiel der Marx-Forschung). Ein Abbau dieser gewaltigen Hindernisse scheint jedoch mit dem seit einiger Zeit voranschreitenden Geltungsverlust aller etablierten Doktrinen einherzugehen. Stirner hat sein Buch ausdrücklich als "einen Anfang" bezeichnet, als den Anfang einer Entwicklung, die er nach dem proklamierten "Ende der Philosophie" für möglich hielt. Der junge Karl Marx hielt den »Einzigen« für hochaktuell: er schrieb sich nach der Lektüre jenen später berühmt gewordenen Satz auf, wonach es darauf ankäme, die Welt zu verändern, und konzipierte in den folgenden Monaten den historischen Materialismus. Die Fortsetzung von Stirners "Anfang" war dies allerdings nicht; vielmehr eine offenbar sehr wirksame Verschüttung der von Stirner aufgeworfenen Problematik. So wie Marx -- nicht im Detail, aber im Prinzip -- reagierten bis in unsere Zeit eine Reihe hervorragender Denker auf die Konfrontation mit dem »Einzigen«. Daraus, nicht aus den überall nachzulesenden Urteilen über Stirner, ergibt sich seine nach wie vor potentielle Aktualität.

Literatur:

  • Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam 1972ff
  • Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken, hg.v.Bernd A. Laska. Nürnberg: LSR-Verlag 1986
  • John Henry Mackay: Max Stirner - Sein Leben und sein Werk. Nachdruck der 3.Auflage 1914. Freiburg: Mackay-Gesellschaft 1977


Zur Frage: Ist Stirner Anarchist?:

  • Ernst Zenker: Der Anarchismus. 1895. Nachdruck West-Berlin: Libertad 1979
  • Paul Eltzbacher: Der Anarchismus.1900. Nachdruck West-Berlin: Libertad 1977
  • Hector Zoccoli: Die Anarchie. 1907, dt.1909. Nachdruck West-Berlin: Kramer 1976
  • Max Nettlau: Der Vorfrühling der Anarchie. 1927. Nachdruck Bremen: Impuls o.J.
  • Peter Heintz: Anarchismus und Gegenwart. 1951. Nachdruck West-Berlin: Kramer 1973, 1985
  • Peter Lösche: Anarchismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977; sowie derselbe.: Anarchismus. Art. in Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 4. München: Piper 1986. S. 415-447
  • Alan Ritter: Anarchism. A Theoretical Analysis. Cambridge (GB): CUP 1980


Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie, hg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993ff (Loseblattsammlung) (leicht überarbeitet: April 1998)

Überarbeitet nach: http://mitglied.lycos.de/absurdist/, www.anarchie-revolte.de


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