Michail Bakunin - Marxismus / Freiheit / Staat

Karl Marx, der unbestrittene Kopf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ist ein großer, mit profundem Wissen bewaffneter Geist, der, wie man ohne schmeicheln zu wollen, sagen kann, sein ganzes Leben ausschließlich der größten Aufgabe widmete, deren Erledigung heute ansteht, nämlich der Befreiung der Arbeit und des Arbeiters. Karl Marx, der ebenso unbestritten, wenn nicht der einzige, so doch wenigstens einer der wichtigsten Begründer der Internationalen Arbeiter-Assoziation ist, hat die Entwicklung der Idee des Kommunismus zum Gegenstand eines ernstzunehmenden Buches gemacht... Obwohl seine Arbeit über das »Kapital« unglücklicherweise von Formeln und metaphysischen Subtilitäten strotzt, die es für die große Masse der Leser unverdaulich machen, ist sie ein hochwissenschaftliches und realistisches Werk in dem Sinne nämlich, daß sie jede andere Logik als die der Fakten absolut ausschließt...

Marx ist nicht nur ein gelehrter Sozialist, er ist auch ein sehr kluger Politiker und ein glühender Patriot. Wie Bismarck und vielen anderen seiner sozialistischen und nicht-sozialistischen Landsleute geht es ihm, wenngleich mit etwas anderen als Bismarks Mitteln, um die Errichtung eines großdeutschen Staates zum Ruhme des deutschen Volkes und zum Glück und zur freiwilligen oder erzwungenen Kultivierung der Welt.

Die Politik Bismarcks dient der Gegenwart; die Politik von Marx, der sich selbst wenigstens als dessen Nachfolger und Vollender betrachtet, dient der Zukunft. Und wenn ich sage, Marx betrachte sich als Nachfolger Bismarcks, so bin ich weit davon entfernt, ihn zu verleumden. Wenn er sich nicht als solcher betrachtete, hätte er Engels, dem Vertrauten all seiner Gedanken, nicht erlaubt zu schreiben, Bismarck diene der Sache der sozialen Revolution. Er dient ihr jetzt und auf seine Weise; Marx wird ihr später und auf andere Weise dienen. Das ist der Sinn, in welchem er später Bismarcks Vollender sein wird, so wie er heute der Bewunderer seiner Politik ist.

Untersuchen wir nun den besonderen Charakter von Marx' Politik und versichern wir uns der wesentlichen Punkte, die sie von der Bismarckschen trennen. Der Hauptpunkt, man ist geneigt zu sagen, der einzige, ist folgender: Marx ist Demokrat, ein autoritärer Sozialist und ein Republikaner; Bismarck ist durch und durch ein pommerscher, aristokratisch-monarchischer Junker. Der Unterschied ist daher sehr groß, sehr wichtig, und beide Seiten sind bezüglich dieses Unterschiedes vollkommen aufrichtig. In diesem Punkt ist zwischen Bismarck und Marx kein Verstehen, keine Aussöhnung denkbar ...

Sehen wir nun, was sie miteinander verbindet. Es ist der uneingeschränkte Kult des Staates. Ich brauche diese Aussage im Falle Bismarcks nicht zu belegen, die Beweise liegen auf der Hand. Von Kopf bis Fuß ist er Staatsmann und nichts als Staatsmann. Aber ich glaube, es bedarf auch keiner allzu großen Anstrengungen, um für Marx dasselbe nachzuweisen. Er liebt Regierungen so sehr, daß er sogar in der Internationalen Arbeiter-Assoziation eine einzusetzen wünschte; und er betet die Macht so sehr an, daß er uns seine Diktatur aufzwingen wollte und dies noch immer zu tun wünscht. Das scheint mir zu genügen, seine persönliche Haltung zu charakterisieren. Aber auch sein sozialistisches und politisches Programm ist ein sehr getreuer Ausdruck dieser Haltung. Das höchste Anliegen all seiner Anstrengungen, wie es in den Gründungsstatuten seiner Partei in Deutschland proklamiert ist, ist die Errichtung des großen Volksstaats.

Aber wer immer Staat sagt, meint damit notwendigerweise einen besonderen begrenzten Staat, der zweifelsohne, sofern er sehr groß ist, viele verschiedene Völker und Länder einschließt, aber noch sehr viele mehr ausschließen wird. Denn, wenn er nicht, wie Napoleon oder Karl V., von einem Universalstaat oder, wie das Papsttum, von einer Universalkirche träumt, so wird Marx, allem internationalen Ehrgeiz zum Trotz, der ihn heute verzehrt, am Tage, wenn die Stunde der Verwirklichung seiner Träume schlägt - sofern sie überhaupt schlägt -, sich mit der Regierung eines einzigen Staates und nicht mehrerer Staaten zugleich zufrieden geben müssen. Daraus folgt, wer immer Staat sagt, sagt ein Staat und ... bestätigt damit die Existenz mehrerer Staaten, und wer immer mehrere Staaten sagt, sagt sogleich: Konkurrenz, Neid, permanenter Krieg. Die einfachste Logik wie auch die gesamte Geschichte legen Zeugnis ab für diese Auffassung.

Jeder Staat muß, auf die Gefahr des eigenen Untergangs, des Geschlucktwerdens von Nachbarstaaten hin, nach absoluter Macht streben, und wenn er mächtig geworden ist, muß er sich auf die Karriere des Eroberers einlassen, damit er nicht selbst erobert wird; denn zwei ähnlich starke, aber einander fremde Mächte könnten nicht koexistieren, ohne den Versuch zu unternehmen, einander zu zerstören. Wer immer Eroberung sagt, sagt eroberte Völker, Sklaverei und Unterdrückung, wie immer im speziellen Fall ihre Form und ihr Name aussehen mögen.

Es liegt in der Natur des Staates, die Solidarität der menschlichen Rasse zu brechen und sozusagen die Menschlichkeit zu leugnen. Der Staat kann sich nicht in seiner Integrität und vollen Stärke bewahren, wenn er sich nicht wenigstens für seine eigenen Untertanen als oberstes und absolutes Seinsziel hinstellt, da er sich schon nicht bei den Bürgern anderer, von ihm nicht eroberter Staaten, als solches geltend machen kann. Aus der damit zusammenhängenden Geburt der Staatsmoral und der Staatsräson resultiert unvermeidlich ein Bruch mit der menschlichen, als universal angesehenen Moral und mit der universalen Vernunft. Das Prinzip der politischen oder Staatsmoral ist sehr einfach. Da der Staat sein eigenes oberstes Ziel darstellt, ist alles, was der Entwicklung seiner Macht günstig ist, gut; alles, was dieser Entwicklung entgegensteht, selbst wenn es die humanste Angelegenheit der Welt wäre, ist schlecht. Diese Art Moral nennt man Patriotismus. Die Internationale ist die Negation des Patriotismus und folglich des Staates. Wenn Marx und seine Freunde von der Deutschen Sozialdemokratischen Partei Erfolg haben sollten bei der Einführung des Staatsprinzips in unser Programm, so würden sie dadurch die Internationale vernichten.

Der Staat muß schon aus Gründen der Selbsterhaltung bezüglich der Außenpolitik notwendigerweise mit großen Vollmachten ausgestattet sein; aber wenn es bezüglich der Außenpolitik so ist, wird es unfehlbar auch bezüglich der Innenpolitik so weit kommen. Da jeder Staat sich von irgendeiner besonderen Moral, die den Bedingungen seiner Existenz konform ist, inspirieren und führen lassen muß, einer Moral, die eine Einschränkung und folglich die Negation der allgemein menschlichen Moral darstellt, muß er darüber wachen, daß all seine Untertanen in ihren Gedanken, vor allem aber in ihren Taten auch nur von den Prinzipien dieser patriotischen oder Sondermoral inspiriert sind und daß sie allen Lehren einer reinen oder allgemein menschlichen Moral ein taubes Ohr leihen. Daraus folgt die Notwendigkeit staatlicher Zensur; zu große Freiheit des Denkens und Redens wäre, wie Marx von seinem eminent politischen Standpunkt aus sehr zu recht meint, unvereinbar mit der Einmütigkeit der Zustimmung, die im Namen der Sicherheit des Staates gefordert ist. Daß das wirklich Marxens Meinung ist, wurde zur Genüge durch seine Versuche bewiesen, unter glaubwürdig klingenden Vorwänden und unter verschleiernder Maske die Zensur in die Internationale einzuführen.

Aber so wachsam die Zensur auch immer sein mag, ja selbst wenn der Staat die Erziehung und jede Instruktion des Volkes ausschließlich in seine Hände nähme, wie Mazzini es wünschte und wie Marx es heute gern sähe, kann der Staat dennoch niemals sicher gehen, daß verbotene und gefährliche Gedanken nicht doch hereinschlüpfen und sich irgendwie ins Bewußtsein der Bevölkerung, die er regiert, schmuggeln. Verbotene Früchte üben eine solche Anziehungskraft auf die Menschen aus, und der Dämon der Rebellion, dieser ewige Feind des Staates, erwacht so leicht in ihren Herzen, wenn sie nicht genügend verdummt sind, daß weder diese Erziehung, noch diese Instruktion, noch gar die Zensur die Ruhe des Staates in ausreichendem Maße garantieren. Er bedarf noch einer Polizei, hingebungsvoller Agenten, die über der Strömung der Meinungen und Leidenschaften der Leute wachen und sie heimlich und unauffällig manipulieren. Wir haben gesehen, daß Marx selbst so überzeugt ist von dieser Notwendigkeit, daß er glaubte, er müsse alle Regionen der Internationale, besonders aber Italien, Frankreich und Spanien mit Geheimagenten anfüllen. Schließlich, wie perfekt auch immer, vom Standpunkt der Selbsterhaltung des Staates her argumentiert, die Organisation der Erziehung und Instruktion des Volkes, der Zensur und der Polizei sein mag, der Staat kann seiner Existenz nicht sicher sein, solange ihm nicht eine bewaffnete Macht zur Verfügung steht, die ihn gegen Feinde im Innern verteidigt. Der Staat ist Regierung, von oben nach unten, einer ungeheuren Anzahl von Menschen, die vom Standpunkt des Niveaus ihrer Kultur, der Natur der Länder oder Lokalitäten, die sie bewohnen, der Beschäftigung, der sie nachgehen, der Interessen und Bestrebungen, von denen sie sich leiten lassen, sehr verschieden sind - der Staat ist die Regierung all dieser durch diese oder jene Minderheit; diese Minderheit kann, auch wenn sie tausendmal ihre Position dem allgemeinen Wahlrecht verdanken mag und in ihrem Tun von Repräsentativorganen kontrolliert wird, sofern sie nicht mit der Allwissenheit, Allgegenwärtigkeit und Allmacht ausgestattet ist, die die Theologen Gott zuschreiben, unmöglich die Bedürfnisse kennen und voraussehen oder mit einer gleichmäßigen Gerechtigkeit die legitimsten und dringlichsten Interessen in der Welt befriedigen. Es wird immer unzufriedene Leute geben, weil es immer einige geben wird, die geopfert werden.

Außerdem ist der Staat ähnlich wie die Kirche schon von Natur aus ein großer Opferer lebendiger Wesen. Er ist ein Willkürwesen, in dessen Herzen alle positiven, lebendigen, individuellen und lokalen Interessen der Bevölkerung sich begegnen, zusammenstoßen, einander wechselseitig zerstören und absorbiert werden in jener Abstraktion, die man das Allgemeininteresse, das Allgemeinwohl, die allgemeine Sicherheit zu nennen pflegt, und wo alle realen Einzelwillen einander aufheben in jener anderen Abstraktion, die den Namen Wille des Volkes trägt. Daraus folgt, daß dieser sog. Wille des Volkes niemals etwas anderes ist als die Opferung und die Negation aller realen Einzelwillen der Bevölkerung; gerade so wie das sogenannte Allgemeinwohl nichts anderes ist als die Opferung ihrer Interessen. Aber damit diese alles verschlingende Abstraktion sich Millionen von Menschen aufzwingen konnte, mußte sie von irgendeinem wirklichen Wesen, irgendeiner lebendigen Kraft getragen und repräsentiert werden. Nun, dieses Wesen, diese Kraft hat immer existiert. In der Kirche ist es die Geistlichkeit und im Staat - die herrschende Klasse. Und was finden wir denn in der Tat die ganze Geschichte hindurch? Der Staat ist immer Erbe dieser oder jener privilegierten Klasse gewesen; einer priesterlichen, einer aristokratischen, einer bürgerlichen und schließlich einer bürokratischen Klasse, wenn, nachdem alle anderen Klassen erschöpft sind, Aufstieg und Abstieg des Staates, wenn Sie so wollen, sich den Bedingungen einer Maschine angepaßt haben; jedenfalls ist es zur Rettung des Staates absolut notwendig, daß es eine privilegierte Klasse gibt, die an seinem Bestehen interessiert ist. Und das gemeinsame Interesse der privilegierten Klasse ist es gerade, das Patriotismus genannt wird.

Aber im Volksstaat von Marx, so wird uns erzählt, wird es keine privilegierte Klasse geben. Alle werden gleich sein, nicht nur vom juristischen und politischen Standpunkt her gesehen, sondern auch vom ökonomischen. Das wird zumindest versprochen, obwohl ich, wenn ich mir so die Art und Weise betrachte, mit der es gehandhabt wird, und den Lauf, den es wunschgemäß nehmen soll, sehr daran zweifle, ob dieses Versprechen je gehalten werden kann. Es wird also keine privilegierte Klasse geben, wohl aber eine Regierung und, beachten Sie das wohl, eine äußerst vielschichtige Regierung, die sich nicht damit zufrieden geben wird, die Massen, wie es heute alle Regierungen tun, politisch zu regieren und zu verwalten, sondern die sie auch noch ökonomisch verwalten will. Zu diesem Zweck wird sie Produktion und gerechte Verteilung des Reichtums, die Bebauung des Landes, die Errichtung und Entwicklung von Fabriken, die Organisation und Leitung des Handels, schließlich die Verwendung von Kapital in der Produktion durch den einzigen Bankier, den Staat, in ihren Händen konzentrieren. All das wird ein »ungeheures Wissen und viele Eierköpfe« in dieser Regierung nötig machen. Es wird die Herrschaft der wissenschaftlichen Intelligenz sein, der aristokratischsten, despotischsten, arrogantesten und verächtlichsten aller Regime. Es wird eine neue Klasse geben, eine neue Hierarchie wirklicher und angeblicher Wissenschaftler und Gelehrter, und die Welt wird geteilt sein in eine Minorität, die im Namen des Wissens regiert, und eine ungeheure unwissende Majorität. Und dann wehe den unwissenden Massen!

Ein solches Regime wird nicht verfehlen, eine ganz beträchtliche Unzufriedenheit in den Massen zu wecken, und um sie im Zaume zu halten, wird Marxens aufgeklärte und befreiende Regierung einer nicht weniger beträchtlichen bewaffneten Gewalt bedürfen. Denn die Regierung muß stark sein, sagt Engels, um die Ordnung aufrechtzuerhalten unter diesen Millionen von Ungebildeten, deren brutaler Aufstand in der Lage wäre, alles zu zerstören und umzukrempeln, selbst eine Regierung, die von »Eierköpfen« geleitet wird.

Sie können sehr wohl sehen, wie hinter all den demokratischen und sozialistischen Phrasen und Versprechungen des Marxschen Programms in seinem Staat doch all das zu finden ist, was die wahrhaft despotische und brutale Natur aller Staaten ausmacht, wie immer ihre Regierungsform aussehen mag. In letzter Analyse sind der von Marx so nachdrücklich empfohlene Volksstaat und der von Bismarck mit ebensoviel taktischem Geschick wie mit Machtmitteln am Leben erhaltene aristokratisch-monarchische Staat auf Grund der Natur ihrer inner- und außenpolitischen Zielsetzungen vollkommen identisch. In der Außenpolitik handelt es sich in beiden Fällen um dieselbe Entfaltung militärischer Macht, d. h. um Eroberung; in der Innenpolitik bedienen sich beide der bewaffneten Gewalt, des letzten Arguments aller bedrohten politischen Macht gegen die Massen, die, des ewigen Glaubens, Hoffens, Sich-Unterwerfens und Gehorchens müde, sich in revolutionärem Aufschwung erheben.

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Nach:
Michael Bakunin: Marxism, Freedom and the State. Translated and edited by K. J. Kenafick. London 1950, pp. 27 ff. Aus dem Englischen von Ingeborg Brandies.

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

Gescannt von anarchismus.at


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