Auszüge aus einer Lesung über Rudolf Rocker (von 1996)
Auszüge aus einer Lesung über Rudolf Rocker (1873-1958), einem der wichtigsten Theoretiker der anarcho-syndikalistischen Bewegung
Mainz war in meiner Jugend eine Stadt mit starkem demokratischen Einschlag. Die demokratische Gesinnung war keine reine Parteiangelegenheit; sie war dem Volke in Fleisch und Blut übergegangen und machte sich in allen Kreisen der Bevölkerung bemerkbar. Ich wurde zwei Jahre nach der Gründung des neuen Reiches geboren. Der innere Widerstand gegen die nationale Einheit Deutschlands unter der Führung Preußens war damals noch stark spürbar im Volke. Das linke Rheinufer, Baden und Württemberg waren von jeher die demokratischsten Teile Deutschlands. Das Bürgertum in jenen Teilen des Reiches blieb lange Zeit preußenfeindlich und befand sich stets im offenen Widerspruch mit der Politik Bismarcks. Zum großen Teil war dies auf die mächtigen Ausstrahlungen der großen Französischen Revolution zurückzuführen, deren Ideengänge gerade in den rheinischen Städten, dem ältesten Kulturgebiet Deutschlands, einen starken Widerhall fanden.
Durch den alten Volck wurde mir auch die Gelegenheit geboten, einigen Sitzungen der Heckergarde beizuwohnen. Diese Graubärte waren lustige Zecher und vertrieben sich die Zeit mit dem Erzählen alter Geschichten, wobei die Preußen in der Regel nicht so gut wegkamen. Viel Neues hörte ich dort nicht. Die alten Revoluzzer lebten zu sehr in der Vergangenheit und zeigten sich wenig erbaut von der neuen Zeit, der sie keine gute Seite abzugewinnen vermochten. (...)
Der Gedanke, mit leibhaftigen Barrikadenkämpfern an einem Tisch zu sitzen, überwog jede andere Erwägung und erfüllte mich mit tiefster Bewunderung. Als echte Rheinländer wußten die Alten nicht bloß einen guten Tropfen zu schätzen, sie waren auch den Freuden des Gesangs ergeben, der ihren Sitzungen erst die richtige Würze verlieh. Besonders gegen das Ende der Sitzungen, wenn die Stimmung ausgelassener wurde, hörte man in der Weinstube Gesänge, die heute längst vergessen sind. Manche dieser Lieder waren sehr humorvoll, wie z.B. "Das Lied vom Bürgermeister Tschesch" oder "Preußenmichels Heimfahrt". Die Himmelfahrt war eine besonders drastische Dichtung im Mainzer Straßendialekt. Sie beschrieb die Irrfahrten der Seele einen Preußischen Unteroffiziers, der sich an weißen Rüben und "Spack" totgefressen hatte und nun von Stern zu Stern pilgerte, ohne Ruhe finden zu können, bis er endlich auf einem Planeten anlangte, wo die Engel in Kasernen wohnen und der liebe Gott eine mächtige preußische Pickelhaube trägt. (...)
Hauptsächlich aber hatte es mir das Heckerlied angetan, das man zwar nicht als eine Perle deutscher Dichterkunst bezeichnen kann, das aber seines handfesten Inhalts wegen damals eine große Anziehungskraft hatte.
Wenn die Fürsten fragen:
Lebt der Hecker noch?
Sollt ihr ihnen sagen:
Der Hecker, der hängt hoch!
Er hängt an keinem Baume,
Er hängt an keinem Strick,
Sondern an dem Traume
Der deutschen Republik.
Schlesiens Kinder tranken
Blut aus Mutters Brust.
Viele dahinsanken,
Doch des Ziels bewußt.
Und der Preußenkönig
Linderte die Not;
Er gab blaue Bohnen,
Wo man schrie um Brot.
Und dann nach jeder der zahlreichen Strophen der Kehrreim:
Drum Rache, Rache Völker!
Schwingt das Henkerbeil!
Die Fürsten und die Pfaffen
Die bringen uns kein Heil!
Marx über 1870/71
Am 20. Juli 1870 schrieb Marx an Engels die für seine Person und Geistesrichtung so bezeichnenden Worte: "Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der Staatsmacht, nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc." Marx hatte Recht. Der Sieg Deutschlands über Frankreich war in der Tat ein Wendepunkt in der Geschichte Europas und der internationalen sozialistischen Bewegung. Der freiheitliche Sozialismus Proudhons wurde durch die neugeschaffene Lage in den Hintergrund gedrängt und mußte den bis ins innere Mark hinein autoritären Anschauungen von Marx und Lassalle das Feld räumen. (...)
Engels über die "Jungen"
Es ist bezeichnend, das die Anwürfe gegen die Opposition von den berufensten Führern der Partei ausgingen und mit vollem Bewußtsein darauf angelegt waren, die Sache der Jungen bei den Massen in Verruf zu bringen. Das ist leider keine Übertreibung. Hatte doch kurz nach dem Erfurter Parteitag kein Geringerer als Friedrich Engels folgendes anmutige Urteil über die Bewegung der Jungen gefällt: "Die Opposition der schnodderischen Berliner, statt anzuklagen, geriet sofort auf die Anklagebank, benahm sich elend feig und muß jetzt außerhalb der Partei wirtschaften, wenn sie was will. Es sind ganz zweifellos Polizeielemente darunter, ein anderer Teil versteckte Anarchisten, die im stillen unter unseren Leuten werben wollen; daneben Esel, aufgeblasene Studenten, Durchfallskandidaten, Gernegroße aller Art. In allem keine zweihundert Mann." Dabei kannte Engels auch nicht einen einzigen Vertreter der Opposition persönlich.
August Bebel
Man blickte wie hypnotisiert auf die großen Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie und bewunderte die mächtige Parteimaschine, die sie aufgebaut hatte, aber man vergaß, das trotz all dieser Erfolge an der deutschen Wirklichkeit auch kein Jota geändert wurde. Die eiserne Zentralisation der Partei und die Kasernendisziplin, die sie dem preußischem Staate abgelauscht hatte, erstickte jede lebendige Initiative. Die Organisation, die nur ein Mittel zum Zweck sein sollte, wurde Selbstzweck und tötete den Geist der ihr allein einen lebendigen Inhalt geben konnte. Das dies keine Übertreibung ist, dafür nur ein Beispiel: Als nach dem Sturze Bismarcks der vom Kaiser ernannte neue Reichskanzler von Caprivi im Reichstag den Eifer der sozialdemokratischen Soldaten in der deutschen Armee offen anerkannte, antwortete ihm der angesehenste Führer der Partei, August Bebel: "Das wundert mich gar nicht und beweißt nur, daß die Herren von der Rechten und von der Regierung von der Tüchtigkeit der Sozialdemokraten eine ganz falsche Anschauung haben. Ich glaube sogar, daß die Bereitwilligkeit, mit der gerade meine Parteigenossen sich der vorschriftsmäßigen Disziplin gefügt haben, ein Ausfluß der Disziplin ist, die ihnen das Leben beibringt. Die Sozialdemokratie ist also gewissermaßen eine Vorschule für den Militarismus."
Darf man sich bei einer solchen Einstellung noch wundern, wenn die deutsche Revolution von 1918 so schmählich versagte, und wenn der "Vorwärts" seinen geduldigen Lesern noch am Vorabend des 9. November zu Herzen führte, daß das deutsche Volk für die Republik noch nicht reif sei? Niemand macht der deutschen Sozialdemokratie den Vorwurf, daß sie nicht versucht hat, nachdem ihr nach dem Kriege die politische Macht, die sie solange erstrebt hatte, wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war, eine sozialistische Gesellschaft in Deutschland einzuführen. Dazu war das deutsche Volk, nach der ganzen Erziehung, die es genossen hatte, wirklich nicht fähig. Eines aber hatte die erste rein sozialistische Regierung nach dem Krieg ja in ihre Hand: sie konnte die unselige Macht des preußischen Junkertums in Deutschland brechen, indem sie Hand an den großen Grundbesitz legte, auf dem die politische Macht des Junkertums beruhte. Die bürgerlichen Revolutionäre der großen französischen Revolution, die von keinen sozialistischen Ideengängen geleitet wurden, hatten gut verstanden, daß sie Frankreich von der politischen Vorherrschaft der Aristokratie und der Geistlichkeit nur befreien konnten, wenn sie die adeligen Grundbesitzer enteignen und ihnen damit die eigentliche Macht ihres politischen Einflusses entzogen. Allein die deutschen Sozialisten dachten nicht an solch eine Maßnahme, durch die man allein die kleinen Bauern an die Republik fesseln konnte, die später ihre ärgsten Feinde wurden. Das Ergebnis war, daß später zwei preußische Junker, der Sohn Hindenburgs und Franz von Papen, Hitler die Macht in die Hände spielten. (...)
Jean Heffner
Eines Tages sprach ich in einer öffentlichen Versammlung über die Ziele und Bestrebungen der Anarchisten. Bei dieser Gelegenheit kam ich zum ersten Mal in Berührung mit Jean Heffner, der bald zu den tätigsten Genossen unseres inneren Kreises gehörte und jahrelang in der anarchistischen Bewegung Deutschlands eine Rolle spielte. Heffner war ein Kapitel für sich. Er war von Beruf Maurer und hatte selbst eine Familie mit drei Kindern, als ich ihn kennenlernte. Er war das Urbild eines proletarischen Rebellen; in seinem Umgang schroff und ungeschliffen, allein im Grunde seines Herzens ein seelenguter Mensch, der stets bereit war, mit anderen das Letzte zu teilen. Ein geborener Draufgänger und von Natur aus etwas gewalttätig veranlagt, zeigte er für theoretische Fragen keine besondere Vorliebe. Doch besaß er eine natürliche Klugheit und wußte ganz genau, was er wollte. Sein Feld war die praktische Arbeit in der Bewegung, besonders wenn sie mit Gefahr verbunden war. Dabei zeigte er häufig einen erstaunlichen Scharfsinn und freute sich königlich, wenn ihm irgendein Streich gut gelungen war. Er verbreitete mehr verbotene Literatur als einer von uns, und obgleich er der Polizei gut bekannt war, konnte sie ihn niemals fassen. Heffner hatte eine ganze Anzahl von Strafen verbüßt, meistenteils wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt", aber keine einzige wegen verbotener Schriften.(...)
Nachdem wir ihn nach und nach mit unseren Anschauungen bekannt gemacht hatten, gaben wir ihm auch verbotene Literatur in die Hand, deren ungeschminkte Sprache auf ihn natürlich den stärksten Eindruck machte. Mit ganz besonderen Eifer las er die Freiheit. Ich bin überzeugt, daß Johann Most kaum einen dankbareren Leser als Jean Heffner hatte.(...)
Kurz nach dem Falle des Sozialistengesetzes war in Mainz ein gewisser Hartmann aus Norddeutschland zugereist, der später in der sozialdemokratischen Ortsgruppe unserer Stadt eine Rolle spielte. Dieser Hartmann war ein unausstehlicher Schwätzer, der sogar so manchen seiner eigenen Genossen auf die Nerven ging. Obgleich er sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einen "wissenschaftlichen Sozialisten" nannte, war er doch nur ein gewöhnlicher Hohlkopf, der mit Kenntnissen prahlte, die er nicht besaß. Trotzdem hielten ihn manche für einen tiefen Denker, was vielleicht darauf zurückzuführen war, daß aus dem, was er sprach, selten jemand klug werden konnte. Der gute Mann machte förmlich Jagd auf Fremdwörter und gebrauchte sie, wo immer sie paßten oder auch nicht paßten. Ich hatte ihn stets in Verdacht, daß sein ganzes geistiges Rüstzeug aus irgendeinem Wörterbuch bestand, aus dem er die unverständlichsten Worte herausfischte, um seine Zuhörer damit zu verblüffen. Das Wort Parlament gebrauchte er nur in der französischen Aussprache, und da er den Nasallaut nicht richtig hervorbringen konnte, so klang es stets wie "Parlamong". Mit einem Wort, er sprach ein fürchterliches Kauderwelsch, das er wahrscheinlich selbst nicht verstand; doch gerade dies brachte ihn in den Ruf eines Philosophen. (...)
Wie gewöhnlich, so strotzte auch diese Rede Hartmanns von Fremdwörtern und unverständlichen Redensarten, so daß Heffner des öfteren bedenklich den Kopf schüttelte. Als der Redner jedoch erklärte, das "die Anarchisten infolge ihrer dialektischen Inferiorität die Antipoden des Sozialismus seien", wurde Heffner ernstlich unruhig. Ich legte ihm sofort die Hand aufs Knie und raunte ihm zu, daß Hartmann zwar Unsinn gesprochen, aber sonst nichts Verfängliches gesagt habe. Das Wort "Antipode" hatte es Heffner besonders angetan. Er meinte, daß es schon deshalb ein niederträchtiges Wort sein müsse, da kein rechtschaffener Mensch verstehen könne, was ein "Andibotter" sei. (...)
Im Krokodil angekommen, nahmen wir an einem langem Tische Platz, wobei Heffner zum Unglück Hartmann gegenüber zu sitzen kam. Ich konnte nun hören, um was sich der Streit zwischen beiden drehte. Hartmann hatte Heffner in die Enge getrieben, indem er behauptete, daß der Anarchismus keine wissenschaftliche Grundlage aufzuweisen habe. Das wäre Heffner gewiß ganz schnuppe gewesen, denn er hatte für wissenschaftliche Grundlagen nicht das geringste übrig. In diesem Falle jedoch hielt er es wahrscheinlich für eine Ehrensache, Hartmann keinen Fingerbreit nachzugeben. Ich fühlte sofort, daß Gefahr in Verzug war, denn Hartmann überschüttete den armen Heffner mit einer solchen Flut von Fremdwörtern, daß diesem davon der Kopf brummen mußte. Als er aber in seiner höhnischen Weise Heffner aufforderte, ihm seine wissentliche Grundlage zu erklären, war das Maß voll. Heffner stemmte die Ellbogen auf den Tisch und stützte sein Denkerhaupt auf seine beiden mächtigen Tatzen. Da ihm die Erleuchtung nicht kommen wollte, verabreichte er seinem Peiniger plötzlich eine gewaltige Maulschelle und sagte: Da hast du meine wissenschaftliche Grundlage, du Scheißkerl!" (...)
Nepp
Cohen hatte einen entschiedenen Widerwillen gegen alles Deutsche. Der Deutsche war für ihn der geborene Philister, der mit einer Schlafmütze auf dem Kopf geboren wurde. "Die Deutschen werden nie eine Revolution machen", meinte er, "weil es von der Regierung verboten ist". Das Wort "verboten" galt ihm als der wichtigste Bestandteil im Wortschatz der deutschen Sprache, und er behauptete, daß sich die ganze deutsche Geschichte in diesem einen Wort zusammenfassen lasse. Besonders hatte er es auf die Autoritätsgläubigkeit der Deutschen abgesehen, die er für ein Zeichen ihrer geistigen Beschränktheit hielt. "Sprecht dem Deutschen von der Freiheit", sagte er, "und er stellt sich sofort ein Zaun vor". Natürlich schätzte er auch die sozialistische Bewegung Deutschlands nicht sehr hoch ein und nannte sie "ein ins Proletarische übertragenes Spießertum". Der haarsträubende Personenkult, der in Deutschland mit den alten Führern getrieben und von Geschäftsleuten in und außerhalb der Bewegung weidlich ausgenutzt wurde, brachte den spottlustigen Cohen auf einen merkwürdigen Einfall. Er veranstaltete in dem Atelier eines bekannten Malers im Quartier Latin eine Ausstellung aller Gegenstände, die in Deutschland hergestellt und von sozialistischen Blättern angepriesen wurden, um den roten Führerkult zu fördern Es war eine reichhaltige Sammlung, eine Art sozialistischer Reliquienkammer, deren Umfang sogar mich in Erstaunen setzte und mir Dinge vor Augen führte, die ich früher nie gesehen hatte. Da sah man Vorstecknadeln und Manschettenknopfe mit den Bildern von Bebel, Liebknecht oder Singer, Pantoffeln, Spazierstöcke, Kaffeetassen, Bierseidel, Stammkrüge, Nähschatullen, Schmuckkästchen, Denkmützen, Blumenvasen, Gürtelschlösser, Nippsachen, Regenschirme, Pfeifenköpfe, Zigarrenspitzen, Kleiderbürsten, Taschenmesser, Schnupftabakdosen, Lampenschirme, Würfelbecher, Broschen, Spieldosen, Taschentücher, Notizbücher, Streichholzbehälter, Zigarrenetuis, Sinnspruchtafeln und eine Masse anderer Gegenstände, die mit den Bildnissen von Marx, Lassalle und anderen berühmten "Volksmännern" geziert waren. Die Ausführung war ausnahmslos schauderhafter Kitsch der allererbärmlichsten Sorte. Besonders reizend war eine Schnapspulle mit einem Relief von Marx und zwei zusammengeflochtenen Händen; darunter standen die Worte "Proletarier aller Länder vereinigt Euch!" (...)
Besonders sinnig waren zwei Drucke, die den Gegensatz zwischen der kapitalistischen Wirtschaft der Gegenwart und der sozialistischen Ordnung der Zukunft darstellten. Auf dem ersten Blatt sah man eine Herde halbverhungerter Schweine, die mit gierigen Augen nach einem vollen Troge schielen, an den sie nicht herankommen können, weil einige fette Mastschweine ihnen den Zutritt verwehren, so daß sie sich mit den mageren Abfällen begnügen müssen. Das zweite Blatt zeigt einen schönen geordneten Schweinestall, wo jedes Schwein in einer besonderen Umhegung aus seinem eigenen Trog frißt - was dem Figaro Veranlassung gab, von einem "Sozialismus der Schweine" zu schreiben. (...)
November Revolution 1918
Die deutsche Revolution war kein Ergebnis eines inneren Dranges, der jahrzehntelang in einem Volke brauste und gärte, bis er endlich die alten Formen zum Bersten brachte und sich zu selbständigen Leben durchrang. Sie war nur das Endergebnis eines verlorenen Krieges, die letzte Rettungsplanke, die allein aus der zusammengebrochenen alten Herrlichkeit zum Frieden führen konnte. Es fehlte ihr daher der innere Schwung, die lebendige Initiative, der schöpferische Drang, die eine Bewegung erst zur Revolution machen. Es gab wohl kaum eine andere Revolution, welche so erschreckend arm an schöpferischen Gedanken war und sich fast ausschließlich mit schlechten Kopien alter Vorbilder begnügte, wie die deutsche Novemberrevolution 1918. (...)
Niemals beschäftigte man sich in den Gewerkschaften, noch in den Parteiorganisationen mit der Frage der Übernahme der Produktion durch die wirtschaftlichen Verbände der Arbeiter. (...)
War es daher ein Wunder, wenn die sogenannte deutsche Revolution über hohle Schlagworte nicht hinauskam und besonders auf wirtschaftlichem Gebiete vollständig versagte? Die ganze geistige Einstellung, welche die deutsche Arbeiterschaft durch die Sozialdemokratie erfahren hatte, brachte es eben mit sich, daß sie den wirtschaftlichen und sozialen Problemen ratlos gegenüberstand, als ihr die Revolution die Macht in die Hände spielte. (...)
Es begann nun die Zeit der Spaltungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, die mit der Zeit einen geradezu krankhaften Charakter annahmen. Hatte man früher die Einheit der Partei zum unantastbaren Dogma erhoben, an dem nicht gerüttelt werden durfte, obwohl diese fiktive Einheit die inneren Gegensätze nur mühsam verkleistern konnte und lediglich den Zweck verfolgte, der Außenwelt den Schein der Geschlossenheit vorzutäuschen, so fiel man nun - wie das in solchen Situationen gewöhnlich der Fall ist - in das andere Extrem und rief um jeder Nichtigkeit willen immer neue Spaltungen hervor. So konnte es denn nicht ausbleiben, das die Atmosphäre immer mehr vergiftet und die gesamte Arbeiterbewegung so zerklüftet und zerrissen wurde, bis ihre Feinde ein leichtes Spiel mit ihr hatten.
Jedes miserable Schlagwort, hinter dem sich kein Funke von Geist verbarg, gab Anlaß zu neuen Spaltungen und heftigen Auseinandersetzungen. Jeder Regentag brachte neue Parolen, von denen eine immer blöder war als die andere. Besonders die Kommunistische Partei, deren Träger nie einen selbstständigen Gedanken zu entwickeln verstanden und lediglich Mundstücke der Moskauer Exekutive waren, hat sich in dieser Hinsicht auf eine Weise hervorgetan, die schlechterdings nicht mehr überboten werden kann. Würde man all die Parolen, von der eine der anderen stets ins Gesicht schlug, einmal chronologisch ordnen und aneinanderreihen, so käme ein politischer Heringssalat zustande, der einem den Glauben an den gesunden Menschenverstand gründlich verderben könnte. Das Schlimmste war, daß durch diese endlosen Spaltungen sich vielfach ein ganz überspannter "Radikalismus" entwickelte, der sich in sinnlosen Schlagworten förmlich überschlug und die vernünftigsten Ideen in grausame Zerrbilder verwandelte. So wurde jede an sich bedeutungsvolle Erkenntnis zur sinnlosen Karikatur, aus der man nur in den seltensten Fällen einen gesunden Kern herausfinden kann. Man gewöhnte sich daran, Ideen nicht auf ihren inneren Wert hin zu prüfen, sondern beurteilte dieselben lediglich nach der parteipolitischen Etikette ihres Ursprungs und verurteilte dieselben im vorhinein, wenn sie einem Lager entstammten, dem man den Kampf geschworen hatte. Lagen aber die Dinge so, daß man notgedrungen nach einer bestimmten Maxime handeln mußte, so suchte man sich in der äußeren Aufmachung der Parolen gegenseitig geräuschvoll zu überbieten, je nach dem Grade des "Radikalismus", den man angeblich vertritt. Man schlägt die tollsten Purzelbäume und gefällt sich in dem hysterischen Geschrei heulender Derwische, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, ein "Gemäßigter" zu sein. Und dieses blöde Possenspiel, das in Wirklichkeit nur eine Hanswurstiade ist, nennt man dann "revolutionäre" Propaganda. Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, daß man in den Kreisen sogenannter "Radikaler" zu Schlüssen gelangte, die jeder gesunden Auffassung der Dinge Hohn sprechen, und die letzten Endes wenn auch ungewollt, nur der sozialen Reaktion Vorschub leisten müssen.(...)
(Die FAUD)
Wir unterscheiden uns taktisch von den Arbeiterparteien und den unter ihrem geistigen Einfluß stehenden Zentralverbänden keineswegs dadurch, weil diese schon heute Verbesserungen für die Arbeiter bestreben, die wir ablehnen, sondern lediglich dadurch, daß wir über die Mittel, durch welche solche Verbesserungen errungen werden, verschiedener Ansicht sind. Kein Mensch mit fünf gesunden Sinnen, und wäre er der größte Revolutionär vor dem Herrn, wird behaupten wollen, daß ihm die Lebenslage des Arbeiters vollständig gleichgültig ist, besonders nicht, wenn er selbst im Betriebe tätig ist. Kein Mensch, dessen Hirn nicht irgendwie defekt ist, wird zu behaupten wagen, daß es ihm nicht darauf ankomme, wenn er und seine Kameraden zehn und zwölf anstatt acht Stunden arbeiten müssen, wenn der Lohn, den sie empfangen, gerade langt, um sich von trockenem Brote und Kartoffeln nähren zu können, anstatt daß auch noch etwas übrig bleibt, um andere Bedürfnisse zu befriedigen. Was uns in dieser Hinsicht von den Anhängern der modernen Arbeiterparteien unterscheidet, ist nicht der Zweck, sondern die Methode. Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß Verbesserungen irgendwelcher Art nicht auf dem Wege der parlamentarischen Gesetzgebung zu erreichen sind, daß Regierungen und Parlamente sich niemals aus rein platonischen Gründen entschließen, den Massen irgendwelche Konzessionen zu machen. Parlamentarische Reformen kommen immer erst dann, wenn das dringende Bedürfnis für gewisse Verbesserungen breite Massen des Volkes erfaßt hat und sich in direkte und revolutionäre Aktionen umsetzt, bis die allgemeine Unzufriedenheit endlich einen solchen Grad erreicht, daß sich die Regierenden sich nunmehr entschließen müssen, den Forderrungen des Volkes entgegenzukommen und die Unzufriedenheit durch gewisse Reformen zu beschwichtigen. Alle Reformen auf den verschiedensten Gebieten des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens sind auf diese Weise zustande gekommen. (...)
Die spärlichen wirtschaftlichen Errungenschaften, welche die Novemberrevolution uns beschert hatte, unter denen der Achtstundentag die bedeuternste war, wurden der deutschen Arbeiterschaft von dem Unternehmertum fast restlos wieder entrissen, trotzdem der Achtstundentag gewissermaßen in der Gesetzgebung oder in der Konstitution der Republik gesetzlich "verankert" war. Verbesserungen werden also den Regierungen durch den Druck der Massen außerhalb der Parlamente direkt abgenötigt, und je stärker sich dieser Druck bemerkbar macht und den Regierungen auf die Fingernägeln brennt, um so einschneidender werden die Reformen sein. (...)
Alle wirtschaftlichen Errungenschaften und Verbesserungen, welche die Arbeiter sich im Laufe der Jahrzehnte erstritten haben, haben sie nicht den Parlamenten, sondern ihren wirtschaftlichen Organisationen und den alltäglichen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit zu verdanken. Die parlamentarische Betätigung hat nur dazu beigetragen, diese Errungenschaften zu verzögern und ihren Erfolg abzuschwächen. Denn wer auf die Hilfe von oben wartet, hat wenig Eile, sich in eigener Person für neue Rechte einzusetzen. (...)
Ebenso wie die wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter, sind auch die täglichen Lohnkämpfe ein Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die von bestimmten Notwendigkeiten diktiert werden, und die der breiten Masse der Arbeiter so unentbehrlich sind, daß sie in einem Abgrund von Elend versinken würde, wenn sie je auf dieselben verzichten wollte, solange sie unter das Joch der Lohnsklaverei gezwungen wird. Wer das bis heute noch nicht begriffen hat, der hat wirklich keine Ursache, sich mit seinem angeblichen "Radikalismus" zu brüsten, denn er ist trotz seines Revolutionarismus nicht mehr als ein Pfahlbürger, dem der tiefere Sinn der Arbeiterbewegung bis heute verborgen geblieben ist. Gewiß kann durch Lohnkämpfe die soziale Frage nicht gelöst werden, aber sie sind der beste Anschauungsunterricht, um die Arbeiter mit dem Wesen der sozialen Frage und dem Problem ihrer Befreiung aus wirtschaftlicher und sozialer Sklaverei bekannt zu machen, und für den Endkampf heranzubilden.(...)
"Radikale" und Staatskritik
Der Kampf ums tägliche Brot spielt sich nicht bloß auf wirtschaftlichem Gebiete ab, er greift auch tief in die Sphäre des politischen und sozialen Leben ein, und seine äußeren Formen sind zum großen Teil durch den jeweiligen politischen Zustand eines Landes direkt bedingt. Wir berühren hier ein Gebiet, über welches vielfach noch dieselben Unklarheiten verbreitet sind, wie in den Fragen des wirtschaftlichen Kampfes für eine bessere Lebenshaltung des Arbeiters. Und es ist auch hier wieder derselbe mißgeleitete und bis zum Zerrbild entstellte "Radikalismus", welcher für diese Unklarheiten verantwortlich ist. Auch hier begegnen wir uns mit jener vollständigen Verkennung gegebener Tatsachen, durch welche fortgesetzt Dinge miteinander verwechselt werden, die man, will man sich den klaren Blick nicht trügen lassen, unter keinen Umständen verwechseln darf. Weil wir den Standpunkt vertreten, daß die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen auf das innigste verwachsen ist mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, daß folglich zusammen mit dem Monopol der Ausbeutung auch das Monopol der Macht aus dem Leben der Gesellschaft verschwinden muß, haben manche gefolgert, daß die besonderen politischen Formen eines Landes für die Arbeiterschaft und ihre Kämpfe keinerlei Interesse haben. Wozu sich um die Formen des Staates kümmern, wenn man sich über sein eigentliches Wesen und die Mission, die er erfüllt, einig ist? Solche Behauptungen hört man nicht selten. Wenn man des öfteren gezwungen ist, den Meinungen zu lauschen, die von "Überradikalen" in öffentlichen Versammlungen vertreten werden oder in gewissen Blättern zum Ausdruck kommen, so stehen einem die Haare manchmal zu Berge, und man fragt sich vergebens, wie so etwas möglich ist. Es ist daher schon angebracht, daß wir uns mit dieser Frage etwas näher beschäftigen, um so mehr, als sie mit den Dingen, die wir bisher behandelt haben, eng verbunden ist.
Im Gegensatz zu den verschiedenen staatssozialistischen Richtungen von der Sozialdemokratie bis zum Bolschewismus und allem, was dazwischen liegt, vertreten wir den Standpunkt, daß der Sozialismus nicht von oben herab durch irgendeine gesetzgebende Körperschaft oder Regierungsdiktatur dekretiert werden kann, sondern daß er sich vielmehr aus dem Schoße des Volkes organisch entwickeln muß, wobei ihm die revolutionäre Aktion der Massen Geburtshilfe leisten muß. Wir sind der Meinung, daß jedes staatliche System mit der jeweiligen Form der wirtschaftlichen Ausbeutung der breiten Massen durch privilegierte Minderheiten innerlich aufs engste verwachsen ist, und daß seine besonderen politischen Formen an dieser Tatsache selbst nichts ändern können, da ja der Staat nie etwas anderes gewesen ist, noch sein kann, als der Gewaltapparat der besitzenden Klassen, der Verteidiger der wirtschaftlichen Monopole und der Klassengegensätze innerhalb des gesellschaftlichen Verbandes. Mag er nun unter monarchistischer Flagge segeln oder das Banner der Republik entfalten, nie wird er dieser seiner Mission untreu werden können, die ja in seinem innersten Wesen begründet ist. (...)
Aus den täglichen Kämpfen der Arbeiter gegen das Unternehmertum und seine Verbündeten geht ihnen allmählich der tiefere Sinn dieser Kämpfe auf. Zunächst verfolgen dieselben nur den unmittelbaren Zweck, die allgemeine Lage des Produzenten innerhalb der heutigen Gesellschaft besser zu gestalten, bis sie den Arbeitern nach und nach die Wurzeln des Übels enthüllen - das Lohnsystem, die kapitalistische Monopolwirtschaft. - Zur Erinnerung dieser Erkenntnis bieten die Kämpfe des Alltags einen besseren Anschauungsunterricht wie die schönsten theoretischen Abhandlungen. Nichts kann den Geist und die Psyche des Arbeiters so stark beeinflussen, als dieser andauernde Kampf ums tägliche Brot, nichts macht ihn so empfänglich für die Gedankengänge des Sozialismus wie jenes fortwährende Ringen um des Lebens Notdurft.
Und darin liegt letzten Endes die große soziale Bedeutung dieser Kämpfe, die auch dann bestehen bleibt, wenn die Arbeiter des öfteren als die Geschlagenen aus ihnen hervorgehen und ihre Energien scheinbar nutzlos vergeudet haben. Auch solche Niederlagen sind ungemein lehrreich und entwickeln in den Köpfen der Arbeiter mit unerbittlicher Logik das Verständnis für bessere und wirksamere Methoden des Kampfes, auch dann, wenn die erhaltene Schlappe sie zunächst mutlos macht und ihre Kampfesstimmung stark herabsetzt. (...)
Ebenso verhält es sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Kämpfen der modernen Arbeiterschaft. Es wäre total falsch, wenn man dieselben lediglich auf ihren materiellen Ursprung hin und nach ihren praktischen Ergebnissen einschätzen wollte und ihre tiefe psychologische Bedeutung für die Aufrüttelung der Massen und die Erweiterung ihres geistigen Horizonts vollständig verkennen würde. Nur durch die täglichen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter und Unternehmertum konnte der Gedanke des Sozialismus, der in den Köpfen einzelner Denker zum Leben erwachte, erst Fleisch und Blut bekommen und jenen besonderen Charakter annehmen, der ihn zu einer Bewegung der Massen machte, zum Träger eines neuen Kulturideals.
Durruti und Ascaso
Die Regierung war in den Händen der Sozialdemokraten, der Demokraten und der katholischen Zentrumspartei.(...) Im Falle Durruti und Ascaso kam hauptsächlich in Betracht, daß sie den erzreaktionären Kardinal Soldevila in Saragossa erschossen hatten, einer der grimmigsten Feinde der spanischen Arbeiterbewegung, der mit seinem Gelde die Pistoleros unterstützte, denen viele unserer Genossen zum Opfer gefallen waren. "Hätten sie den König von Spanien erschossen", sagte Kampffmeyer zu mir, "so hätte ich immerhin noch etwas für sie tun können. Doch die Erschießung eines der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche wird ihnen die Zentrumspartei nie verzeihen. Es ist daher ganz ausgeschlossen, den beiden politisches Asylrecht in Deutschland zu verschaffen." (...) Es gab damals in Europa kein Land, das sie freiwillig aufgenommen hätte.(...) Sie kamen nach langer Beratung zu dem Schluß, das Mexico vielleicht das einzige Land sei, wo sie Zuflucht finden könnten. (...) Das Geld mußte schnell beschafft werden. Ich sprach daher mit meinen Freund Erich Mühsam über die Sache, und dieser machte den Vorschlag, daß wir beide den bekannten Schauspieler Alexander Granach aufsuchten, der uns vielleicht helfen konnte. (...) "Da kommt ihr gerade in der rechten Zeit!" sagte er fast schreiend. "Hier habt ihr, was ich heute morgen verdient habe!" Er holte drei oder vier Hundertmarkscheine aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. Mit soviel hatten wir wirklich nicht gerechnet und freuten uns daher um so mehr, denn das war ein guter Anfang. Der gute Granach hat nie erfahren, wem er mit seinem Geld geholfen hat. Es genügte ihm, daß wir seine Hilfe für einen guten Zweck benötigten; alles andere kümmerte ihn nicht. (...)
Rassentheorien
Die Rassentheorie trat zuerst als Geschichtsauffassung auf, doch bekam sie mit der Zeit eine politische Bedeutung und kristallisierte sich später in Deutschland zu einer neuen Reaktionstheorie, die für die Zukunft unabsehbare Gefahren in sich birgt. (...)
Die "Theorien"
Ernst nehmen könnte man diese Behauptungen nur, wenn ihre Vertreter in der Lage wären, für folgende drei Punkte schlüssige Beweise zu erbringen: erstens, daß Erbanlagen in der Tat unveränderlich sind und von den Einflüssen der Umwelt nicht berührt werden; zweitens, daß körperliche Merkmale als untrügliche Zeichen für bestimmte seelische und geistige Eigenschaften betrachtet werden müssen; drittens, daß das Leben des Menschen lediglich durch seine angeborenen Anlagen bestimmt wird und erworbene oder anerzogene Eigenschaften auf sein Geschick keinen wesentlichen Einfluß haben können. Was die erste Frage betrifft, so wurde bereits früher ausgeführt, daß die Wissenschaft eine ganze Reihe verbürgter Tatsachen kennt, aus denen unwiderruflich hervorgeht, daß Einflüsse der Umwelt auf die Erbanlagen bestehen und Änderung dieser zur Folge haben können. Der Umstand, daß es zahlreichen Forschern gelungen ist, durch Bestrahlungen, Temperaturveränderungen usw. eine Umgestaltung der Erbanlagen zu bewirken, spricht dafür. Dazu kommen die Einflüsse der Domestikation, deren Bedeutung besonders von Eduard Hahn und Eugen Fischer stark hervorgehoben wurde und den letzteren zu dem Ausspruch veranlaßte: Der Mensch ist eine Domestikationsform, und die Domestikation ist es, die seine starke Variabilität verursacht oder mitverursacht. Über die zweite Frage hilft keine Spitzfindigkeit hinweg. Läßt sich doch nicht der Schatten eines Beweises dafür erbringen, das äußere Rassenmerkmale wie die Form des Schädels, Farbe des Haares, schlanker oder gedrungener Körperbau usw. in irgendwelcher Beziehung zu den geistigen, seelischen oder sittlichen Anlagen des Menschen stehen, so daß zum Beispiel ein hochgewachsener, blondhaariger und blauäugiger Norde auf Grund seiner äußeren Körpermerkmale über Eigenschaften sittlicher und geistiger Natur verfügt, die man bei Abkömmlingen anderer Rassen nicht finden könnte. Unsere Rassenideologien behaupten das zwar, aber darin liegt ja die ganze Haltlosigkeit ihrer Lehre, daß sie Dinge behaupten, für deren Richtigkeit auch nicht der bescheidenste Beweis zu erbringen ist.
Es wurde bereits früher betont, daß in der langen Reihe der genialen Persönlichkeiten, die sich um die geistige Kultur Deutschlands verdient gemacht haben, kaum einer zu finden ist, dessen Aussehen den Idealvorstellungen vom nordischen Menschen auch nur halbwegs entspricht; und gerade den größten unter ihnen stehen körperlich den Phantasiegebilden der Günter, Hauser, Claus usw. am fernsten. Man denke an Luther, Goethe, Beethoven, denen die äußeren Merkmale der sogenannten nordischen Rasse fast gänzlich fehlen und die sogar von den hervorragendsten Vertretern des Rassengedankens als ausgesprochene Mischlinge mit ostischen, vorderasiatischen und negerisch-malaiischen Bluteinschlag bezeichnet werden. - Noch schlimmer würde es aussehen, wenn man ersteinmal dazu überginge, die Schwerathleten in der Arena des Rassenkampfes, die Hitler, Alfred Rosenberg, Goebbels, Streicher usw. der Blutprobe zu unterziehen, um diesen würdigen Vertretern der nordischen Rasse und der nationalen Belange die Gelegenheit zu geben, ihre Anwartschaft auf das Dritte Reich auch blutmäßig zu erhärten.
Beethoven u.a.
Wenn es unbestreitbar ist, daß Männer wie Sokrates, Horaz, Michelangelo, Dante, Luther, Galilei, Rembrandt, Goya, Rousseau, Pestalozzi, Herder, Goethe, Beethoven, Byron, Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Balzac, Dumas, Poe, Strindberg, Ibsen, Zola und hundert andere Mischlinge gewesen sind, so ist doch damit der Beweis erbracht, daß äußere Rassenmerkmale für die geistigen und seelischen Anlagen des Menschen überhaupt nicht in Frage kommen. Es wirkt geradezu erheiternd, wenn man sieht, mit welchen Ausflüchten unsere modernen Rassenfetischisten sich über diese schwierigen Dinge hinwegsetzen. So fand sich Dr. Clauß mit der unbequemen Rassenzugehörigkeit Beethovens einfach damit ab, daß er erklärte: "Beethoven war, was seine musikalische Begabung angeht, ein nordischer Mensch. Das erweist deutlich genug der Stil seines Werkes; daran wird nichts geändert durch die Tatsache, daß sein Leib- anthropologisch betrachte, d.h. also: die Maße und Gewichte seines Leibes - vielleicht ziemlich rein ostisch waren." Wie wir sehen, die reinste Seelenwanderung. Welche geheimnisvollen Kräfte da wohl am Werk gewesen sind, um die nordische Rassenseele Beethovens in einen schnöden ostischen Körper fahren zu lassen?
Mussolini
So gab der Popolo d`Italia, das Organ des späteren Diktators Mussolini, über die Rumänen, ehe diese in den Krieg eintraten und sich auf die Seite der Alliierten schlugen, folgendes liebenswürdige Urteil ab: "Man höre doch endlich auf, die Rumänen unsere Schwesternation zu nennen. Sie sind keine Romanen, wenngleich sie sich mit diesem edlen Namen zieren. Es ist ein Gemisch von barbarischen Urvölkern, die von den Römern unterjocht wurden, mit Slawen, Petschengen, Charazen, Avaren, Tataren, Mongolen, Hunnen, Türken und Griechen, und da kann man sich leicht denken, was für ein Lumpenpack dabei herauskam. Der Rumäne ist noch heute ein Barbar und minderwertiges Individuum." Kaum aber waren die Rumänen in den Krieg eingetreten, um auf der Seite der Alliierten zu fechten, schrieb dieselbe Zeitung Mussolinis von ihnen: "Die Rumänen haben jetzt auf das glänzendste bewiesen, daß sie würdige Söhne der alten Römer sind, von denen sie ebenso abstammen wie wir selbst. Es sind also unsere nächsten Brüder, die jetzt mit dem ihnen eigenen Mute und Entschlossenheit sich dem Kampfe der lateinischen und slawischen Rasse gegen die germanische anschließen, mit anderen Worten dem Kampfe für Freiheit, Kultur und Recht gegen preußische Tyrannei, Willkürherrschaft, Barbarei und Selbstsucht. So wie die Rumänen 1877 gezeigt haben, was sie an der Seite unserer tapferen russischen Bundesgenossen gegen türkische Barbarei zu leisten vermochten, so werden sie auch jetzt mit denselben Bundesgenossen gegen österreichisch-ungarisch-deutsche Barbarei und Unkultur ihr scharfes Schwert in die Waagschale werfen und diese zum sinken bringen. Es war ja gar nicht anders zu erwarten von einem Volke, das die Ehre hat, der lateinischen Rasse anzugehören, die einst die Welt beherrschte."
Texte:
- R. Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Edition Suhrkamp 711, Ffm 1974
- R. Rocker, Nationalismus und Kultur Bd. 2
Originaltext: http://www.fau.org/archiv/art_021112192507