Rudolf Rocker - Der Kampf ums tägliche Brot
Revolutionen kommen selten in der „rechten Zeit“. In Perioden   gesellschaftlicher Zersetzung begreift man zwar die Notwendigkeit einer   gründlichen Umwälzung, die sich aus der ganzen Entwicklung der   gesellschaftlichen Gegensätze folgerichtig ergeben muß, aber der   Zeitpunkt des Zusammenbruchs bleibt äußerst unbestimmt. So kommt es, daß   in der Phase, welche dem Ausbruch der revolutionären Ereignisse   unmittelbar vorausgeht, die Dinge sich gewöhnlich so überstürzen, daß   die Revolutionäre selber von den Begebenheiten überrascht werden und in   der Regel auf nichts vorbereitet sind. Das ist auch die Ursache, warum   sich jede Revolution in der ersten Phase ihres Entstehens so zögernd  und  tastend vorwärts bewegt und ihre Kräfte häufig in nutzlosen   Kleinigkeiten verzettelt, anstatt rasch entschlossen die wichtigsten   Hindernisse ihres endgültigen Triumphes aus dem Wege zu räumen und der   schöpferischen Initiative neuer Ideen die Bahn zu ebnen.
Erst   allmählich entwickelt sich bei den aufständigen Massen das Bewußtsein   der Kraft, die ihnen innewohnt, und drängt sie zu radikaleren   Forderungen und kühneren Handlungen. Hat nun die Revolution einen   solchen Umfang angenommen, der sie in den Stand setzt, ihre ersten   tastenden Versuche zu überwinden und zu einschneidenden Veränderungen   des gesellschaftlichen Lebens zu schreiten, so werden ihre   Errungenschaften ohne Zweifel größer sein und die Menschen ein gut Stück   weiterführen, als wenn diese ersten Versuche von Anfang an gestört   werden und dadurch eine weitere Entwicklung der schöpferischen   Volksinstinkte unterbunden wird. Eine soziale Revolution aber, welche   ungleich mehr als ein gewöhnlicher politischer Staatsstreich mit   revolutionären Mitteln bedeutet, und die sich mit einer einfachen   Namensänderung des parteipolitischen Aushängeschildes nicht begnügen   kann, bedarf erst recht der Möglichkeiten für eine zielsichere   Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte, da ihren Trägern von Anfang an   eine grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Einrichtungen,   eine Erneuerung aller Formen des sozialen Lebens als Ziel vor Augen   schwebt.
Es ist daher auch grundfalsch und ein verhängnisvoller   Irrtum, wenn man in der Revolution lediglich den gewaltsamen Umsturz   alter Gesellschaftsformen erblicken will und ausschließlich die rein   destruktive Seite ihres Wirkens in Betracht zieht. Der zerstörende   Charakter einer Revolution ist lediglich eine ihrer   Begleiterscheinungen, aber er erschöpft keineswegs ihr innerstes Wesen.   Denn nicht bloß in dem, was sie zerstört, sondern ungleich mehr in dem,   was sie Neues schafft und zur Entwicklung bringt, liegt die  eigentliche  Bedeutung der Revolution. Es sind letzten Endes ihre  schöpferischen  Tendenzen und Errungenschaften, nach welchen man später  die soziale und  historische Bedeutung einer Revolution beurteilen wird.
Eine   Revolution ist daher viel mehr und vielfach etwas ganz anderes wie  eine  gewöhnliche Revolte, obgleich auch diese von revolutionären Ideen   getragen sein kann. Eine Revolution ist die Entfesselung aller bisher  im  Schoße der alten Gesellschaft wirkenden neuen Kräfte und Elemente,  die  eine Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens erstreben, und die  nun, da  der Moment der Reife gekommen ist, die alten Formen sprengen,  um sich  ein neues Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen zu formen, dem  Kinde  vergleichbar, das im letzten Monat der Schwangerschaft die Hülle   sprengt, um ein selbständiges Dasein zu beginnen. Und eine weitere   Charakteristik der Revolution besteht darin, daß diese Erneuerung der   gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nicht von oben diktiert wird,   sondern aus der direkten und unmittelbaren Aktion breiter Volksmassen   emporblüht.
Aber diese Verjüngung des sozialen Lebens durch die   Revolution ist nur möglich durch die ununterbrochene Wirksamkeit der   revolutionären Kräfte im Schoße der alten Gesellschaft, durch ihren   inneren Zusammenschluß und die mehr oder weniger planmäßige Art ihres   Vorgehens. Durch ihre unermüdliche Agitation innerhalb der alten   Gesellschaft, ihre zersetzende Kritik der alten Lebensformen und die   Entwicklung ganz neuer moralischer Wertschätzungen, gelingt es den   Revolutionären allmählich, eine neue geistige Atmosphäre zu schaffen,   durch deren stete Ausbreitung das Prestige der alten Einrichtungen und   ihrer Träger fortgesetzt geschwächt wird, bis es endlich gänzlich in die   Brüche geht. Breitere Schichten der unterdrückten Massen begreifen   allmählich die Notwendigkeit einer gründlichen Änderung der sozialen   Lebensverhältnisse und erfassen instinktiv die Möglichkeit neuer   gesellschaftlicher Formen, welche den Interessen der Allgemeinheit   entsprechen. Und dieses zunächst rein instinktive Erfassen neuer   Lebensmöglichkeiten entwickelt sich bei vielen nach und nach zum   bestimmten Bewußtsein.
Ohne diese revolutionäre Erziehung der   Massen wäre eine wirkliche Revolution überhaupt nicht möglich; sie   bildet die erste Vorbedingung für die Möglichkeit der Revolution   schlechthin. Aber ihre eigentliche und entscheidende Bedeutung bekommt   die revolutionäre Agitation erst, wenn sie in den Alltagskämpfen um die   tägliche Existenz ihren Ausdruck findet und sich sozusagen in  praktische  Aktion umsetzt. In den ununterbrochenen Kämpfen um die  täglichen  Notwendigkeiten des materiellen Lebens erstarken die Kräfte  der Massen,  entwickelt sich ihr Selbstbewußtsein, ihre Initiative, ihr  soziales  Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Kämpfe um wirtschaftliche und  soziale  Verbesserungen oder um größere politische Rechte und Freiheiten  sind  sozusagen die Vorpostengefechte der Revolution. Sie erwecken in  den  Massen die Instinkte des Widerstands und entwickeln das Gefühl  ihrer  menschlichen Würde. Je stärker diese Gefühle in den Massen  vorhanden  sind, je mehr ihre Hirne von den Ideen eines neuen  gesellschaftlichen  Lebens erfüllt sind, desto rascher schreiten wir der  kommenden  Revolution entgegen, desto größere Möglichkeiten sind uns  gegeben für  die endgültige Befreiung der Massen. Aus diesem Grunde  dürfen wir die  große Wichtigkeit der revolutionären Erziehung der  Massen und ganz  besonders die Bedeutung der alltäglichen Kämpfe im  wirtschaftlichen und  politischen Leben der Gesellschaft nie außer acht  lassen, wenn wir der  Revolution die Wege bereiten und eine bessere  Zukunft vorbereiten  wollen.
Wenn wir die Revolution in diesem  Sinne auffassen und  diesen Maßstab an die Novemberereignisse des Jahres  1918 anlegen, so  können wir uns nicht verhehlen, daß jene  Begebenheiten herzlich wenig  mit einer wirklichen Revolution zu tun  hatten. Die deutsche  Novemberrevolution war nicht der elementare  Ausbruch eines empörten  Volkes, das mit fester Entschlossenheit an eine  gründliche Änderung  seiner bisherigen Lebensbedingungen herangeht; es  war vielmehr der  rettungslose Zusammenbruch eines Systems, das sich im  Kriege vollständig  abgewirtschaftet hatte und nun unter den siegreichen  Waffen seiner  militärischen Gegner zum Abdanken gezwungen war. Es war  nicht der Wille  eines erwachten Volkes, der hier zum Ausdruck kam,  sondern das  Machtgebot der alliierten Regierungen, welches die  Zertrümmerung des  kaiserlichen Regimes herbeiführte. In dieser Tatsache  liegt eigentlich  die ganze Tragödie der deutschen Revolution.
In  der Tat, was  konnte man von einer Revolution erwarten, wenn das  Zentralorgan der  Sozialdemokratie, die bisher den stärksten Einfluß auf  die werktätigen  Massen in Deutschland hatte, noch am Vorabend der  revolutionären  Novemberereignisse seinen Lesern sagen zu müssen  glaubte, daß das  deutsche Volk für eine Republik noch nicht reif sei.  Gewiß gab es auch  eine Anzahl entschlossener Revolutionäre unter der  deutschen  Arbeiterschaft, aber ihre Zahl war so gering, daß sie an der  Lage der  Dinge nichts ändern konnten.
Die deutsche Revolution  war kein  Ergebnis eines inneren Dranges, der jahrzehntelang in einem  Volke  brauste und gärte, bis er endlich die alten Formen zum Bersten  brachte  und sich zu selbständigem Leben durchrang. Sie war bloß das  Endergebnis  eines verlorenen Krieges, die letzte Rettungsplanke, die  allein aus der  zusammengebrochenen alten Herrlichkeit zum Frieden  führen konnte. Es  fehlte ihr darum der innere Schwung, die lebendige  Initiative, der  schöpferische Drang, die eine Bewegung erst zur  Revolution machen. Es  gab wohl kaum eine andere Revolution, welche so  erschreckend arm an  schöpferischen Gedanken war und sich fast  ausschließlich mit schlechten  Kopien alter Vorbilder begnügte, wie die  deutsche Novemberrevolution  1918.
Allerdings gab es vor dem  Kriege auch keine sozialistische  Arbeiterbewegung, die in allen ihren  theoretischen Voraussetzungen so  hoffnungslos dogmatisch eingestellt  und in ihrer praktischen Tätigkeit  so wenig an die schöpferische  Initiative der Massen appellierte wie die  deutsche. Die ganze deutsche  Sozialdemokratie war fast nichts anderes  als eine riesige Wahlmaschine,  deren Tätigkeit sich nahezu  ausschließlich in der Vorbereitung und  Durchführung der einzelnen  Wahlgänge erschöpfte. So konnte es denn  nicht ausbleiben, daß die  breiten Massen der deutschen Arbeiterschaft,  welche der Sozialdemokratie  Heeresfolge leisteten, sich um das Wie  einer sozialen Umwälzung  überhaupt nicht kümmerten und alles Heil von  oben erwarteten. In keinem  anderen Lande war denn auch die  Führergläubigkeit der Massen so stark  entwickelt, wie in Deutschland.  Die Gewerkschaften aber, die in ihrer  Entwicklung vollständig von  sozialdemokratischen Ideengängen beeinflußt  waren, versandeten völlig  im seichtesten Reformismus und bildeten  lediglich noch  Vermittlungsorgane zwischen Kapital und Arbeit, die jede  revolutionäre  Initiative weit von sich wiesen.
Niemals  beschäftigte man sich  in den Gewerkschaften, noch in den sozialistischen  Parteiorganisationen  mit der Frage der Übernahme der Produktion durch  die wirtschaftlichen  Verbände der Arbeiter. Niemals legte man den  Arbeitern nahe, daß das  Hauptaugenmerk der sozialistischen Erziehung  sich auf die Entwicklung  der administrativen Fähigkeiten in der  Arbeiterklasse richten müsse,  die sie allein in den Stand setzen können,  die Reorganisation der  Produktion und des Konsums auf sozialistischer  Basis vorzubereiten und  durchzuführen. In der ganzen gewerkschaftlichen  und  sozialdemokratischen Literatur Deutschlands vor dem Kriege gibt es   keine einzige Broschüre, in welcher man diesen wichtigen Fragen   nähergetreten wäre, um konstruktive Richtlinien zu entwerfen, die für   die praktische Verwirklichung des Sozialismus von ausschlaggebender   Bedeutung sind. Im Gegenteil, man verschrie alle diejenigen, welche die   unbedingte Notwendigkeit einer solchen Betätigung erkannten, als   unverbesserliche Utopisten, die vom „wissenschaftlichen Sozialismus“   keine blasse Ahnung hätten.
War es daher ein Wunder, wenn die   sogenannte deutsche Revolution über hohle Schlagworte nicht hinauskam   und besonders auf wirtschaftlichem Gebiete vollständig versagte? Die   ganze geistige Einstellung, welche die deutsche Arbeiterschaft durch die   Sozialdemokratie erfahren hatte, brachte es eben mit sich, daß sie den   wirtschaftlichen und sozialen Problemen völlig ratlos gegenüberstand,   als ihr die Revolution die Macht in die Hände spielte.
Als der   Krieg militärisch zu Ende war und das alte System in sich   zusammenstürzte, konnte es nicht ausbleiben, daß breite Massen deutscher   Arbeiter sich von der Sozialdemokratie abwendeten, die während der   ganzen Zeit des Krieges mit den Trägern des alten Systems durch dick und   dünn gegangen war und in jedem kritischen Moment ihren ganzen Einfluß   in die Wagschale warf, um das alte Regime am Leben zu erhalten. Wenn  man  heute Herrn Ebert und seinen Getreuen vorwirft, daß sie während des   Krieges Landesverrat verübt hätten, so tut man ihnen bitteres Unrecht,   und die Ankläger, die sich in ihren Beschuldigungen lediglich von   politischen Augenblickserwägungen leiten lassen, wissen das selber am   besten. Damals aber dachte man auf jener Seite nicht daran, solche   Anklagen zu erheben, wußte man doch zu gut, daß sich das bedrohte   Bürgertum nur an den Krücken der Sozialdemokratie wieder aufrichten   konnte. In den Massen aber wurden viele an der Sozialdemokratie irre,   deren Träger auch nach dem Kriege überall versagten, wo es galt, einer   neuen Zukunft die Wege zu bahnen. Und da es leichter ist, ein   „J'accusel“ (Ich klage an!) in die Welt zu schleudern, als geschehene   Dinge richtig zu deuten und aus der gewonnenen Erkenntnis Nutzen für die   Zukunft zu ziehen, so klagten die von Hunger und Entbehrungen aller  Art  zermürbten Massen die sozialdemokratischen Führer des Verrats an  der  Arbeiterbewegung an, ohne zu begreifen, daß die ganze Stellung der   Partei zum Kriege durch ihre geistige Einstellung bedingt und schon im   voraus gegeben war.
Sogar die geistigen Wortführer der   Opposition, die sich während des Krieges innerhalb der alten Partei   entwickelt hatte und sich später von ihr abspaltete, schienen nicht zu   verstehen, daß es sich hier weniger um den Verrat einer bestimmten   Führergruppe handelte, als um die schauerliche Auswirkung einer Methode,   auf welche der Staatssozialismus seit Jahrzehnten die Massen   einzustellen suchte, und die letzten Endes dazu führen mußte, daß die   gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung sich mehr und mehr als   Organ und notwendiges Zubehör des nationalen Staates entwickelte.
Es   begann nun die Zeit der Spaltungen innerhalb der deutschen   Arbeiterbewegung, die mit der Zeit einen geradezu krankhaften Charakter   annahmen. Hatte man früher die Einheit der Partei zum unantastbaren   Dogma erhoben, an dem nicht gerüttelt werden durfte, obwohl diese   fiktive Einheit die inneren Gegensätze nur mühsam verkleistern konnte   und lediglich den Zweck verfolgte, der Außenwelt den Schein der   Geschlossenheit vorzutäuschen, so fiel man nun - wie das in solchen   Situationen gewöhnlich der Fall ist - in das andere Extrem und rief um   jeder Nichtigkeit willen immer neue Spaltungen hervor. So konnte es denn   nicht ausbleiben, daß die Atmosphäre immer mehr vergiftet und die   gesamte Arbeiterbewegung so zerklüftet und zerrissen wurde, bis ihre   Feinde, welche die inneren Kämpfe der deutschen Arbeiterschaft sehr   geschickt auszunutzen verstanden und ihre durch die Revolution   zerstreuten Kräfte überraschend schnell reorganisieren konnten, ein   leichtes Spiel mit ihr hatten.
Jedes miserable Schlagwort, hinter   dem sich kein Funke von Geist verbarg, gab Anlaß zu neuen Spaltungen   und heftigen Auseinandersetzungen. Jeder Regentag brachte neue Parolen,   von denen eine immer blöder war als die andere. Besonders die   Kommunistische Partei, deren Träger nie einen selbständigen Gedanken zu   entwickeln verstanden und lediglich Mundstücke der Moskauer Exekutive   waren und sind, hat sich in dieser Hinsicht auf eine Weise hervorgetan,   die schlechterdings nicht mehr überboten werden kann. Würde man all die   Parolen dieser jedes freiheitlichen Empfindens baren Richtung, von  denen  die eine der anderen stets ins Gesicht schlug, einmal  chronologisch  ordnen und aneinanderreihen, so käme ein politischer  Heringssalat  zustande, der einem den Glauben an den gesunden  Menschenverstand  gründlich verderben könnte.
Das Schlimmste war,  daß durch diese  endlosen Spaltungen sich vielfach ein ganz  überspannter „Radikalismus“  entwickelte, der sich in sinnlosen  Schlagworten förmlich überschlug und  die vernünftigsten Ideen in  grausame Zerrbilder verwandelte. So wurde  jede an sich bedeutungsvolle  Erkenntnis zur sinnlosen Karikatur, aus der  man nur in den seltensten  Fällen einen gesunden Kern herausfinden kann.  Man gewöhnte sich daran,  Ideen nicht auf ihren inneren Wert hin zu  prüfen, sondern beurteilte  dieselben lediglich nach der  parteipolitischen Etikette ihres Ursprungs  und verurteilte dieselben im  vornhinein, wenn sie einem Lager  entstammten, dem man Kampf geschworen  hatte. Lagen aber die Dinge so,  daß man notgedrungen nach einer  bestimmten Maxime handeln mußte, so  suchte und sucht man sich in der  äußeren Aufmachung der Parolen  gegenseitig geräuschvoll zu überbieten,  je nach dem Grade des  „Radikalismus“, den man angeblich vertritt. Man  schlägt die tollsten  Purzelbäume und gefällt sich in dem hysterischen  Geschrei heulender  Derwische, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, ein  „Gemäßigter“ zu  sein. Und dieses blöde Possenspiel, das in Wirklichkeit  nur eine  Hanswurstiade ist, nennt man dann „revolutionäre“ Propaganda.  Es ist  deshalb auch nicht weiter verwunderlich, daß man in den Kreisen   sogenannter „Radikaler“ zu Schlüssen gelangte, die jeder gesunden   Auffassung der Dinge Hohn sprechen, und die letzten Endes, wenn auch   ungewollt, nur der sozialen Reaktion Vorschub leisten müssen.
Eine   der schlimmsten und verhängnisvollsten Erscheinungen innerhalb der   radikal eingestellten Arbeiterbewegung besteht darin, daß man sich in   manchen Kreisen daran gewöhnt hat, jeden Kampf für eine höhere   Lebenshaltung oder für Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer   Natur aus angeblich prinzipiellen Gründen rundweg abzulehnen mit der   Begründung, daß solche Versuche innerhalb der kapitalistischen   Gesellschaft total aussichtslos seien und die Arbeiter nur auf Abwege   leiten könnten. Man spricht in jenen Kreisen stets von einem „Kampf um   das Ganze“ und erblickt in jedem Eintreten für momentane und praktische   Ziele ein von sozialreformistischen Erwägungen diktiertes Vorgehen, das   nur dazu führen kann, in der Arbeiterschaft falsche Hoffnungen zu   erwecken und sie ihrem revolutionären Endziel zu entfremden.
Diese   verhängnisvolle Auffassung beruht auf zwei fundamentalen Irrtümern,  die  zwar schon längst als solche erkannt sind, die aber von Zeit zu  Zeit  immer wieder von neuem auftauchen und die noch ungeklärten  Elemente in  der Arbeiterbewegung häufig zu ganz falschen  Schlußfolgerungen  verleiten.
Die erste dieser Auffassungen geht  von dem Standpunkt  aus, daß man angebliche Verbesserungen innerhalb der  heutigen  Gesellschaft schon deshalb als konterrevolutionär prinzipiell  ablehnen  müsse, weil die sogenannten Arbeiterparteien solche  Verbesserungen auf  dem Wege der Gesetzgebung und parlamentarischer  Reformen zugunsten der  Arbeiter anstreben.
Der zweite Irrtum  findet seine Wurzel in der  falschen Vorstellung, daß eine Verbesserung  der allgemeinen  Lebensverhältnisse des Proletariats innerhalb der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung überhaupt nicht möglich sei, weil  ja die allgemeine  Lebenshaltung des Arbeiters sich schon deshalb stets  gleichbleiben  müsse, weil eine Steigerung der Löhne unvermeidlich zu  einer Steigerung  der Preise führe, andererseits der Kapitalist aber  durch die Gesetze der  Wirtschaft selbst gezwungen sei, den Arbeiter so  zu entlohnen, daß er  mit dem empfangenen Gehalt oder Lohn seine  durchschnittlichen  Lebensbedürfnisse bestreiten könne.
Zu diesen  beiden Auffassungen  gesellt sich gewöhnlich noch eine dritte, die  nicht minder anfechtbar  ist - der Glauben, daß durch ein Überhandnehmen  des sozialen Elends der  revolutionäre Geist der Arbeiter gestärkt und  ihre Empörung gegen das  bestehende System sich endlich in Taten  umsetzen werde. Diese naive  Auffassung verdient wohl kaum, daß man  näher darauf eingeht. Die  Geschichte und die praktischen Erfahrungen  der letzten Jahre haben uns  genugsam gezeigt, daß allzu großes Elend  nie ein revolutionärer Faktor  in unserem Sinne gewesen ist. Im  Gegenteil, es stumpft die Menschen ab  und zermürbt sie geistig und  seelisch. Menschen, die auf die Dauer  großem Elend und direktem Hunger  ausgesetzt sind, werden dadurch nicht  revolutionärer, sie degenerieren  vielmehr und entwickeln die  knechtseligsten Instinkte. Der Hunger wirkt  gewöhnlich nur dann  revolutionär, wenn er plötzlich kommt, z. B.  infolge großer  wirtschaftlicher Krisen, das heißt also, wenn die  Erinnerung an eine  bessere Lebenshaltung in den Menschen noch lebendig  ist und zu  naheliegenden Vergleichen herausfordert. Physischer Hunger  treibt  Menschen im besten Falle zur Verzweiflung, aber er ist nie  imstande,  jene schöpferischen Instinkte im Volke zu erwecken, die jeder  Revolution  unentbehrlich sind. Das ist auch die Ursache, weshalb alle   Revolutionen, von denen uns die Vergangenheit Kunde gibt, nie zum   Ausbruch kamen, wenn das Elend am schwersten auf den Menschen lastete,   sondern stets in Perioden, wenn die allgemeinen Lebensverhältnisse sich   bereits wieder etwas gebessert hatten und in den Menschen wieder neue   Hoffnungen erwachten. Wie wenig außergewöhnliches Elend die Massen mit   revolutionärem Geiste erfüllt und ihre Initiative zum Handeln anregt,   das haben wir ja während der sogenannten Inflationsperiode am besten   beobachten können. Die Arbeiter ließen sich in jener furchtbaren Zeit   den Achtstundentag und fast alle anderen wirtschaftlichen   Errungenschaften der Revolution von dem Unternehmertum widerstandslos   entreißen, aus Furcht, sonst noch mehr leiden zu müssen.
Was nun   die erste Behauptung anbetrifft, daß wir als Revolutionäre alle   Versuche, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft wirtschaftliche,   soziale und politische Verbesserungen zu erringen, prinzipiell ablehnen   müßten, weil es gerade diese Taktik gewesen, durch welche die   parlamentarisch eingestellten Arbeiterparteien und Gewerkschaften die   Arbeiter auf schiefe Wege geleitet und ihnen das Verständnis für ihre   endgültige Befreiung genommen hätten, so läßt sich dazu nur sagen, daß   eine solche Auffassung der Dinge von durchaus falschen Voraussetzungen   ausgeht und Erscheinungen verwechselt, die man unter keinen Umständen   miteinander verwechseln darf, wenn man den Sinn der Arbeiterbewegung   nicht in direkten Unsinn umformen will.
Wir unterscheiden uns   taktisch von den politischen Arbeiterparteien und den unter ihrem   geistigen Einfluß stehenden Zentralverbänden keineswegs dadurch, weil   diese schon heute Verbesserungen für die Arbeiter erstreben, die wir   ablehnen, sondern lediglich dadurch, daß wir über die Mittel, durch   welche solche Verbesserungen errungen werden, verschiedener Ansicht   sind. Kein Mensch mit fünf gesunden Sinnen, und wäre er der größte   Revolutionär vor dem Herrn, wird behaupten wollen, daß ihm die   Lebenslage des Arbeiters vollständig gleichgültig ist, besonders nicht,   wenn er selbst im Betriebe tätig ist. Kein Mensch, dessen Hirn nicht   irgendwie defekt ist, wird zu behaupten wagen, daß es ihm nicht darauf   ankomme, wenn er und seine Kameraden zehn und zwölf anstatt acht Stunden   arbeiten müssen, wenn der Lohn, den sie empfangen, gerade langt, um   sich von trockenem Brote und Kartoffeln nähren zu können, anstatt daß   auch noch etwas übrigbleibt, um andere Bedürfnisse zu befriedigen. Was   uns in dieser Hinsicht von den Anhängern der modernen Arbeiterparteien   unterscheidet, ist nicht der Zweck, sondern die Methode.
Die   Erfahrung hat uns gezeigt, daß Verbesserungen irgendwelcher Art nicht   auf dem Wege der parlamentarischen Gesetzgebung zu erreichen sind, daß   Regierungen und Parlamente sich niemals aus rein platonischen Gründen   entschließen, den Massen irgendwelche Konzessionen zu machen.   Parlamentarische Reformen kommen immer erst dann, wenn das dringende   Bedürfnis für gewisse Verbesserungen breite Massen des Volkes erfaßt hat   und sich in direkte und revolutionäre Aktionen umsetzt, bis die   allgemeine Unzufriedenheit endlich einen solchen Grad erreicht, daß die   Regierenden sich nunmehr entschließen müssen, den Forderungen des  Volkes  entgegenzukommen und die Unzufriedenheit durch gewisse Reformen  zu  beschwichtigen. Alle Reformen auf den verschiedensten Gebieten des   wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens sind auf diese Weise   zustande gekommen. Entweder sah sich die Regierung gezwungen, den   dringendsten Bedürfnissen des Volkes bis zu einem gewissen Grade   Rechnung zu tragen, oder die Massen hatten sich durch ihre Aktionen   außerhalb der Parlamente bereits selber gewisse Verbesserungen errungen,   die nun nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten, so daß den   gesetzgebenden Körperschaften schließlich nichts anderes übrig blieb,   als denselben den gesetzlichen Stempel aufzudrücken, sie zu   sanktionieren.
So wäre das berühmte Zehnstundengesetz in England,   von dem Marx sagte, daß es die Wiedergeburt des Proletariats bedeute,   nie zustande gekommen, ohne die zahllosen, mit schweren Opfern   verbundenen Kämpfe der englischen Arbeiterschaft, die sich in ihren   Gewerkvereinen ein Werkzeug geschaffen hatte, um ihren Forderungen   Geltung zu verschaffen. Erst als ganze Industrien und zahlreiche Gewerke   den Zehnstundentag bereits errungen hatten, beeilte sich das englische   Parlament, dieser gesellschaftlichen Reform den gesetzlichen Stempel   aufzudrücken. Ähnlich liegen die Dinge mit allen anderen angeblich   parlamentarischen Reformen, die für die breiten Massen wirklich eine   Bedeutung hatten.
Aus eigener Initiative entschließen sich   Regierungen und Parlamente nur in ganz seltenen Fällen zu gewissen   Reformen, und wo dies wirklich bisher geschah, fanden diese angeblichen   Verbesserungen keinen Widerhall und kein Verständnis im Volke, so daß   sie nur tote Buchstaben blieben in dem großen Wust der Gesetze. So   hatten die schüchternen Versuche des englischen Parlaments in der   Frühperiode des Kapitalismus und der Großindustrie, als die Gesetzgeber,   erschreckt durch die furchtbaren Ergebnisse der Fabrikausbeutung, die   sich in einer immer mehr überhandnehmenden Degeneration der   Arbeiterschaft kundgab, sich anschickten, durch Gesetze die   ungeheuerliche Ausbeutung besonders der Proletarierkinder milder zu   gestalten, gar keine Wirkung. Sie bestanden lediglich auf dem Papier, da   sie einerseits dem stumpfsinnigen Egoismus der Arbeiter, welche damals   noch auf einer sehr tiefen Entwicklungsstufe standen, kein Verständnis   abnötigen konnten, und andererseits von den Unternehmern direkt   sabotiert wurden.
Ähnlich ging es mit dem bekannten Gesetz,   welches das italienische Parlament in der Mitte der 90er Jahre erlassen   hatte, um den Frauen, die in den Schwefelgruben Siziliens arbeiten   mußten, das Mitnehmen ihrer Kinder nach ihren Arbeitsstätten zu   untersagen. Dieses Gesetz blieb ebenfalls ein toter Buchstabe, weil   diese unglücklichen Frauen so schmählich entlohnt wurden, daß sie   einfach gezwungen waren, dem Gesetz zuwiderzuhandeln. Erst viel später,   als es gelungen war, die Arbeiterinnen zu organisieren und  infolgedessen  ihre Lebenshaltung wesentlich zu heben, begann das Übel  zu  verschwinden. Solche Beispiele könnte man in wahlloser Menge  anführen.  Die moderne Geschichte jedes Landes ist voll davon.
Aber  sogar  die gesetzliche Bestätigung einer gewissen Reform ist noch lange  keine  Garantie für ihren Bestand, solange ihre Errungenschaften den  Massen  nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind und jeder Versuch  des  Unternehmertums, dieselbe wieder rückgängig zu machen oder auf eine   kluge Weise zu umgehen, eine offene Empörung der Arbeiter zur Folge   haben würde. So haben wir gesehen, daß die englischen Unternehmer trotz   des im Jahre 1848 durchgeführten Zehnstundengesetzes bald darauf eine   industrielle Krise ausnutzten, um die Arbeiter zu zwingen, wieder elf   und sogar zwölf Stunden zu arbeiten. Als die Fabrikinspektoren sich   anschickten, gegen einzelne Unternehmer gerichtlich vorzugehen, wurden   die Angeklagten nicht bloß freigesprochen, die Regierung gab sogar den   Inspektoren einen Wink, sich nicht „an den Buchstaben des Gesetzes zu   halten“, so daß die Arbeiter, als die wirtschaftliche Konjunktur wieder   besser wurde, noch einmal gezwungen waren, sich den Zehnstundentag aus   eigener Kraft zu erkämpfen.
Aber wir haben ja während der  letzten  Jahre in Deutschland dieselbe Erfahrung machen müssen. Die  spärlichen  wirtschaftlichen Errungenschaften, welche die  Novemberrevolution uns  beschert hatte, unter denen der Achtstundentag  die bedeutendste war,  wurden der deutschen Arbeiterschaft von dem  Unternehmertum fast restlos  wieder entrissen, trotzdem der  Achtstundentag gewissermaßen in der  Gesetzgebung oder in der  Konstitution der Republik gesetzlich  „verankert“ war.
Verbesserungen  werden also den Regierungen durch  den Druck der Massen außerhalb der  Parlamente direkt abgenötigt, und je  stärker sich dieser Druck  bemerkbar macht und den Regierern auf den  Fingernägeln brennt, um so  einschneidender werden ihre Reformen sein. Da  aber der oberflächliche  Beobachter, dessen Blick bloß auf die  Äußerlichkeit der Dinge  eingestellt ist, in der Regel nur die mit großem  öffentlichen Aplomb  parlamentarisch ins Werk gesetzten Reformen zu  sehen vermag und ihm die  inneren Zusammenhänge und tieferliegenden  Gründe derselben gänzlich  entgehen, so kann es nicht ausbleiben, daß er  die Wirkung mit der  Ursache der Erscheinungen verwechselt und aus diesem  Grunde ein  eifriger Befürworter der parlamentarischen Betätigung wird.  Er sieht  nur das Gesetz und vergißt ganz und gar die äußeren Ursachen,  welche zu  dem Zustandekommen desselben entscheidend beigetragen haben.  So geht  ihm die Erkenntnis für die eigentliche Bedeutung großer  Massenaktionen  nur schwer auf, besonders in Ländern wie Deutschland, wo  sein Glaube an  die große Wirksamkeit der parlamentarischen Tätigkeit  durch eine stark  entwickelte Arbeiterpartei in jeder Weise gefördert  wird.
Aber  in derselben Position befindet sich auch mancher  angeblich radikal und  revolutionär eingestellte Arbeiter, der geneigt  ist, jede Verbesserung  wirtschaftlicher oder politischer Natur innerhalb  der heutigen  Gesellschaft als zwecklos und irreführend abzulehnen, weil  er sich  eingeredet hat, daß der Kampf für dergleichen Dinge lediglich  ein  Monopol der politischen Arbeiterparteien sei. Auch er verwechselt  Dinge  verschiedener Art miteinander und verliert sich infolge seiner   falschen Voraussetzungen in einer sinnlosen Phraseologie, die ihm den   Mangel klarer Ideen und Gedankengänge ersetzen muß.
Wiederholen   wir es noch einmal: Wir unterscheiden uns von den Anhängern   parlamentarischer Methoden nicht dadurch, weil diese die Notwendigkeit   wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verbesserungen anerkennen und   wir dieselben prinzipiell ablehnen und nur dann mittun wollen, wenn es   einmal um die Abschaffung der Lohnsklaverei im allgemeinen gehen wird.   Nein, auch wir anerkennen die Notwendigkeit beständiger Verbesserungen   innerhalb der heutigen Gesellschaft, und unser sozialistisches Endziel   wäre nicht mehr wie eine Schatzanweisung auf den Mond, wenn wir uns  den  fortgesetzten Kämpfen um diese Verbesserungen entziehen wollten.  Aber  wir unterscheiden uns von den anderen durch die Wahl der Mittel  und  durch den revolutionären Inhalt unserer Methoden. Wir sind der  Meinung,  daß jede Verbesserung in der Lebenshaltung des Arbeiters  innerhalb der  kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie die endgültige  Befreiung des  Proletariats nicht in den gesetzgebenden Körperschaften  des modernen  Klassenstaates durchgeführt werden können, sondern einzig  und allein  durch die direkte und revolutionäre Aktion der  Arbeiterschaft außerhalb  der Parlamente und ganz besonders durch den  aktiven Kampf ihrer  revolutionären Wirtschaftsorganisationen. Nicht auf  dem Gebiete  parlamentarischer Politik liegt die Stärke des modernen  Lohnarbeiters,  sondern auf dem Gebiete der Produktion, in seiner  Eigenschaft als  Produzent und Schöpfer gesellschaftlicher Werte.
Alle   wirtschaftlichen Errungenschaften und Verbesserungen, welche die   Arbeiter sich im Laufe der Jahrzehnte erstritten haben, haben sie nicht   den Parlamenten, sondern ihren wirtschaftlichen Organisationen und den   alltäglichen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit zu verdanken. Die   parlamentarische Betätigung hat nur dazu beigetragen, diese   Errungenschaften zu verzögern und ihren Erfolg abzuschwächen. Denn wer   auf die Hilfe von oben wartet, hat wenig Eile, sich in eigener Person   für neue Rechte einzusetzen.
Wir haben gerade in Deutschland, wo   die Arbeiterschaft von Anfang an der parlamentarischen Tätigkeit   huldigte, so manches Schulbeispiel für die Richtigkeit dieses Erkennens.   Ich erinnere nur an den großen Kampf in der Textilindustrie von   Crimmitschau im Jahre 1904. Crimmitschau gilt als eines der ältesten   Bollwerke der Sozialdemokratischen Partei, allein die wirtschaftliche   Lage der Weberbevölkerung blieb stets die denkbar schlechteste. Im Jahre   1882 war es einem Teil der Arbeiter gelungen, den Elfstundentag zu   erringen, während die große Mehrheit noch zwölf und dreizehn Stunden   fronen mußte, bis es Mitte der 80er Jahre endlich gelang, den   Elfstundentag auch auf andere Teile der Textilindustrie auszudehnen. Von   damals an aber bis 1904 waren die Arbeiter nicht mehr imstande, ihre   Arbeitszeit um eine Minute zu kürzen. Nicht nur das: ihre allgemeine   Lebenslage wurde von Jahr zu Jahr erbärmlicher, und sie mußten die   schamlose Ausbeutung eines herrenstolzen Unternehmertums willig über   sich ergehen lassen, ohne sich auch nur zur Wehr setzen zu können. Denn   obzwar sie bei allen Wahlen geschlossen für die Sozialdemokratie   stimmten und, wenn ich nicht irre, sogar sozialdemokratische Vertreter   im Kirchenrate sitzen hatten, lag aber ihre gewerkschaftliche   Organisation sehr im argen.
So zahlte man den Webern bei der   Einführung des mechanischen Webstuhls für ein sogenanntes „Band“ von   sechs Leipziger Ellen (das alte Maß wurde auch später beibehalten) 1,20   Mark. Später aber setzte man den Arbeitspreis auf 1 Mark und endlich  gar  auf 90 Pfennig herab. Damit nicht genug, wendeten die Fabrikanten   direkt betrügerische Mittel an, um die Arbeiter um einen Teil ihres   schwer verdienten Lohnes zu prellen. Man verlängerte allmählich die   „Bande“ von sechs auf sieben Ellen, so daß die Weber für jedes Stück   Ware sieben bis acht Ellen zu weben hatten, für die sie keine Bezahlung   erhielten.
Vergeblich unterschrieben fast alle Crimmitschauer   Arbeiter die sozialdemokratische Petition für den   Arbeiterschutzgesetzentwurf; vergebens wies man darauf hin, daß die   überlange Arbeitszeit besonders bei den Frauen schwere Schädigungen der   Organe verursache und die Kindersterblichkeit gerade in Crimmitschau   außerordentlich groß sei. Alles Appellieren an die gesetzgebenden   Körperschaften hatte keinen Erfolg, und da die Arbeiter nicht imstande   waren, ihren Forderungen durch eine entsprechende gewerkschaftliche   Organisation Nachdruck zu verschaffen, so blieb es die ganzen langen   Jahre fast ausschließlich beim Petitionieren. Die Arbeiter blieben nach   wie vor einem stockreaktionären Unternehmertum, das aus der Haut der   Proleten buchstäblich Riemen schnitt, auf Gnade und Ungnade   preisgegeben.
Als man endlich zwanzig Jahre später sich dazu   entschloß, einen Versuch zu wagen, den Zehnstundentag einzuführen, hatte   das Unternehmertum für diese so berechtigte Forderung nur ein   kategorisches Nein übrig. Als darauf zirka 600 Arbeiter ihre Kündigung   einreichten, beantworteten die Fabrikanten dies mit einer allgemeinen   Aussperrung. So kam es, daß von einer Bevölkerung von 23.000 Seelen   9.000 feiern mußten. Aber während das Unternehmertum vor keinem Mittel   zurückschreckte und durch einen rücksichtslosen Terrorismus die Empörung   der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands und im Auslande hervorrief,   wagten die Arbeiter, die im Kampfe standen, überhaupt nicht, ihre   Machtmittel zu entfalten und den Fabrikanten mit gleicher Münze   heimzuzahlen. Die Gewerkschaften begnügten sich mit der Finanzierung der   Ausgesperrten. Man begriff nicht, oder wollte nicht begreifen, daß   gerade deshalb, weil man bisher den Generalstreik nur als   Generalblödsinn hinzustellen beliebte, das Unternehmertum nur um so   skrupelloser die Generalaussperrung gegen die Arbeiter ins Feld führen   konnte, wußte man doch in jenen Kreisen nur zu gut, daß man von der   anderen Seite nichts Ernstliches zu befürchten hatte.
So konnte   es denn nicht ausbleiben, daß auch der Kampf von 1904 an der   Unzulänglichkeit der gewerkschaftlichen Kampfmittel, die man in   Anwendung brachte, für die Arbeiter verlorengehen mußte und mit einer   vollständigen Niederlage der Weber sein Ende erreichte, obwohl in der   Streikkasse noch erhebliche Mittel vorhanden waren. Der Streik wurde von   den Gewerkschaftsführern einfach abgeblasen, wobei man die   fadenscheinige Ausrede gebrauchte, daß es den Arbeitern nicht   gleichgültig sein könne, wenn durch die Hartnäckigkeit des   Unternehmertums ihre Vaterstadt ruiniert werde. Das Unternehmertum aber,   das von solchen Skrupeln nicht geplagt wurde, fragte den Teufel nach   dem Wohl und Wehe der Vaterstadt, sondern hatte nur ein Ziel vor Augen -   den Arbeitern den Fuß in den Nacken zu setzen und jeden Widerstand   erbarmungslos niederzuschlagen.
Niemals hätten die Fabrikanten   gewagt, den Arbeitern solches zu bieten, wenn sie nicht überzeugt   gewesen wären, daß sich die Gewerkschaftsoligarchie nie zu einer   energischen Kampfführung aufraffen würde, und voraussichtlich alle   Mittel anwenden werde, um eine Übertragung des Kampfes auf andere   Industriegebiete zu verhindern. Die Arbeiter aber, die sich seit langem   daran gewöhnt hatten, in den Ratschlägen ihrer Führer die Hand der   Vorsehung zu erblicken, fügten sich widerstandslos diesem Beschluß, der   sie zu jener schmählichen Kapitulation bewegte. Hier sah man so recht   deutlich die Folgen einer Erziehung, welche den Arbeitern vorspiegelt,   daß ihnen nur Heil von oben erwachsen könne und infolgedessen schon im   vornherein jeden echten Kampfeswillen unter ihnen zermürbt und   systematisch untergräbt. Solche Beispiele ließen sich leider noch viele   anführen, trotzdem wird der Kampf der Weber von Crimmitschau sogar in   der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ein Kapitel für sich   bleiben, da er uns diese Wahrheit mit geradezu klassischer Deutlichkeit   vor Augen führte und sogar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus  die  Arbeiterschaft zu ernsten Betrachtungen anregte.
Was nun  jene  andere Behauptung anbetrifft, derzufolge eine Verbesserung der   proletarischen Lebenslage innerhalb der heutigen Gesellschaft überhaupt   nicht möglich sei, weil jede Lohnerhöhung unwiderruflich eine  Steigerung  der Preise nach sich ziehen müsse, das Unternehmertum aber  andererseits  gezwungen sei, den Arbeitern so viel in Gestalt von Löhnen  auszuzahlen,  als dieselben zur Befriedigung ihrer durchschnittlichen   Lebensbedürfnisse unbedingt notwendig haben, so steht auch diese   Voraussetzung mit den Erfahrungen der praktischen Wirklichkeit im   schreiendsten Widerspruch.
In der Wirklichkeit ist diese   Auffassung, die heute wieder in sogenannten „radikalen“ Kreisen eine   Rolle spielt, nicht mehr und nicht weniger als eine teilweise   Wiederauferstehung der alten, durch die Tatsachen des Lebens längst   widerlegten Theorie vom „ehernen Lohngesetz“, das Lassalle und seinen   Anhängern als unumstößliche Wahrheit vor Augen schwebte. Im „Offenen   Antwortschreiben“ definierte Lassalle dieses angebliche ökonomische   Gesetz in folgender Weise:
„Das eherne ökonomische Gesetz,   welches unter den heutigen Verhältnissen unter der Herrschaft von   Angebot und Nachfrage nach Arbeit den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses:   daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen   Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig   zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies   ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen   jederzeit herumgravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben   erheben, noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich   nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben - denn sonst entstünde   durch die leichtere, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der   Arbeiterehen und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der   Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den   Arbeitslohn wieder auf und unter den früheren Stand herabdrücken würden.   Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen   Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen Auswanderungen,   Ehelosigkeit, Enthaltung von der Kinderzeugung und endlich eine durch   Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche somit das Angebot   von Arbeiterhänden noch verringert und den Arbeitslohn daher wieder auf   den früheren Stand zurückbringt. Der wirkliche durchschnittliche   Arbeitslohn besteht somit in der Bewegung, ständig um jenen seinen   Schwerpunkt, in den er fortdauernd zurücksinken muß, herumzukreisen,   bald etwas über demselben (Periode der Prosperität in allen einzelnen   Arbeitszweigen), bald etwas unter ihm zu stehen (Periode des mehr oder   weniger allgemeinen Notstandes und der Krisen). Die Beschränkung des   durchschnittlichen Arbeitslohnes auf die in einem Volke gewohnheitsmäßig   zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderliche   Lebensnotdurft - das ist, ich wiederhole es Ihnen, das eherne und   grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn unter den heutigen   Verhältnissen beherrscht. Dieses Gesetz kann von niemand bestritten   werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner   anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen   Wissenschaft gibt, und zwar aus der liberalen Schule selbst, denn gerade   die liberale ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz   entdeckt und nachgewiesen hat.“
Man begreift, daß Lassalle bei   dieser Auffassung kein Freund der gewerkschaftlichen Organisation der   Arbeiter sein konnte, ja daß er in derselben sogar ein direktes   Hindernis für die gedeihliche Entwicklung der von ihm gegründeten neuen   Partei erblickte. Und in der Tat, wenn man der Überzeugung ist, daß die   Frage des Arbeitslohnes und der proletarischen Lebenshaltung durch ein   unabänderliches ökonomisches Gesetz bestimmt wird, das sich ganz von   selber auswirkt, ohne der Hilfe der Menschen zu bedürfen, welchen Zweck   haben dann die Gewerkschaften, welchen Zweck hat dann jeder Kampf der   Arbeiter für eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage?
Es war   daher nur begreiflich, wenn Lassalle den Streiks jede Bedeutung absprach   und 1862, als die Berliner Buchdrucker das preußische Ministerium um   die Verleihung des Koalitionsrechts angingen, um Lohnbewegungen führen   zu können, sogar so weit ging, jede Beteiligung des „Allgemeinen   Arbeitervereins“ an diesen Bestrebungen schroff abzulehnen mit der   Begründung, daß das Koalitionsrecht den Arbeitern keinen Vorteil bringen   könne. Und es war nur folgerichtig, wenn die Lassalleaner zunächst den   Gewerkschaften vollständig feindlich gegenüberstanden und noch 1872  auf  Tölckes Antrag die Auflösung der beistehenden Gewerkschaften, die  unter  ihrem Einflusse standen, beschlossen hatten.
Und doch  mußte sich  jeder vorurteilsfreie Beobachter, der sich nicht von  vornherein durch  willkürliche Voraussetzungen den Ausblick verbaut  hatte, sagen, daß es  mit der Richtigkeit dieses angeblich „ehernen“  Gesetzes nicht weit her  war. Die Tatsache allein, daß die Arbeiter  fortwährend gezwungen sind,  als kollektive Macht in die Gestaltung der  sogenannten Lohnverhältnisse  einzugreifen, um sich bessere  Arbeitspreise und geringere Arbeitszeit zu  erringen, ist an und für  sich schon ein Beweis dafür, daß das  sogenannte eiserne Lohngesetz  nicht mit der Unabänderlichkeit eines  ökonomischen Faktums arbeitet,  sondern daß ihm die Menschen stets ins  Handwerk pfuschen müssen.
Der  Arbeiter streikt schließlich nicht  zu seinem Vergnügen. Im Gegenteil,  in den weitaus meisten Fällen ist  jeder Streik für ihn verbunden mit  einer ganzen Reihe materieller  Entbehrungen und unvorhergesehener  Konsequenzen, die ihm den Entschluß  zum Kampf wahrlich nicht leicht  machen. Jeder, der an den  Wirtschaftskämpfen der Arbeiter je  teilgenommen hat, weiß aus eigener  Erfahrung, wieviel Energie,  Agitation und Aufklärung seitens der  zielklaren Minderheit nötig sind,  um die Mehrheit zum Kampfe zu bewegen.  Und diese ganze unermüdliche  Arbeit und die noch mühseligere des  Organisierens wäre ganz und gar  überflüssig, wenn wir es wirklich mit  der Auswirkung eines eisernen  Gesetzes zu tun hätten, demgegenüber jedes  Eingreifen des Menschen  schlechterdings vergeblich wäre. In  Wirklichkeit ist es mit diesem  sogenannten „ehernen Lohngesetz“ ebenso  bestellt, wie mit soviel  anderen „ökonomischen Gesetzen“, die lediglich  der Einbildungskraft der  Menschen entsprungen sind, und deren ganze  Wirksamkeit lediglich darin  besteht, daß sie die Aktionskraft derjenigen  lähmen, die ihnen Glauben  schenken.
Ebenso wie die  wirtschaftlichen Kampforganisationen  der Arbeiter, sind auch die  täglichen Lohnkämpfe ein Ergebnis der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung, die von bestimmten Notwendigkeiten  diktiert werden,  und die der breiten Masse der Arbeiter so  unentbehrlich sind, daß sie in  einem Abgrund von Elend versinken würde,  wenn sie je auf dieselben  verzichten wollte, solange sie unter das  Joch der Lohnsklaverei  gezwungen wird. Wer das bis heute noch nicht  begriffen hat, der hat  wirklich keine Ursache, sich mit seinem  angeblichen „Radikalismus“ zu  brüsten, denn er ist trotz seines  Revolutionarismus nicht mehr wie ein  harmloser Pfahlbürger, dem der  tiefere Sinn der Arbeiterbewegung bis  heute verborgen geblieben ist.
Gewiß  kann durch Lohnkämpfe die  soziale Frage nicht gelöst werden, aber sie  sind der beste  Anschauungsunterricht, um die Arbeiter mit dem Wesen der  sozialen Frage  und dem Problem ihrer Befreiung aus wirtschaftlicher  und sozialer  Sklaverei bekannt zu machen, und für den Endkampf  heranzubilden. Es mag  auch als richtig gelten, daß der Arbeiter,  solange er gezwungen ist,  Hirn und Hände einem Unternehmer zu  verkaufen, mit anderen Worten,  solange er Lohnsklave ist, von wenigen  Ausnahmen abgesehen, welche nur  die allgemeine Regel bestätigen, nie  mehr verdienen wird, wie er zur  Bestreitung seiner notwendigen  Lebensbedürfnisse nötig hat. Aber diese  Lebensbedürfnisse sind nicht  gleich, sie sind vielmehr einem steten  Wechsel unterworfen und wachsen  proportional mit den Ansprüchen, welche  der Arbeiter an das Leben  stellt.
Wer wird z.B. zu behaupten  wagen, daß die Lebenshaltung  des Proletariers aus der  frühkapitalistischen Periode dieselbe war wie  die des heutigen  Arbeiters? Der moderne Proletarier hat außer den rein  materiellen  Ansprüchen seiner Lebenshaltung noch eine ganze Reihe  kultureller  Bedürfnisse, von denen sein Vorgänger vor hundert Jahren  sogar nicht  träumte. Um diese Bedürfnisse befriedigen zu können, mußte  er  fortgesetzt im Kampfe stehen, um sich die Mittel für eine Hebung  seiner  physischen und geistigen Lebenslage zu erringen. Und es waren  und sind  gerade diese Kämpfe, welche der modernen Arbeiterbewegung ihr  besonderes  Gepräge geben, das sie von allen anderen Bewegungen früherer  Zeiten  unterscheidet.
Man sage uns nicht, daß man von einer  Hebung der  proletarischen Lebenslage nicht sprechen könne, da sogar der  Sklave des  Altertums und der Zunftgeselle vergangener Jahrhunderte  sich, rein  wirtschaftlich betrachtet, vielfach besser gestanden hätten  wie der  heutige Lohnarbeiter, daß deren wirtschaftliche Existenz viel  mehr  gesichert war und man folglich nur eine Verschlechterung der   proletarischen Lebenslage heute konstatieren müsse. Will man wirkliche   Vergleiche ziehen und feststellen, ob eine Steigerung oder Senkung in   der allgemeinen Lebenshaltung stattgefunden hat, so ist dies nur   möglich, wenn man die Vergleiche auf eine bestimmte gesellschaftliche   Periode begrenzt und nicht Dinge zusammenmischt, bei deren   Zustandekommen ganz verschiedene Vorbedingungen mitgewirkt haben. So   läßt sich ein Urteil über die Ergebnisse der fortgesetzten Kämpfe des   modernen Industrieproletariats nur dann bilden, wenn wir die Vergleiche   nur im Rahmen des modernen kapitalistischen Systems anstellen, da jeder   andere Vergleich zu unvermeidlichen Trugschlüssen führen muß.
Und   nun lese man einmal die düsteren Beschreibungen über die allgemeinen   Lebensbedingungen der Arbeiterschaft in der frühkapitalistischen   Periode, wie sie in den Berichten der englischen Fabrikinspektoren, die   Marx in seinem „Kapital“ so glücklich zu verwerten wußte, niedergelegt   sind. Oder man nehme Bücher zur Hand wie Burets „Vom Elend der   arbeitenden Klassen in England und Frankreich“ (De la misere des classes   laborieuses en Angleterre et en France), dem Friedrich Engels bei der   Abfassung seines Erstlingswerks: „Die Lage der arbeitenden Klassen in   England“ soviel zu verdanken hatte, und man wird das fürchterliche Elend   der proletarischen Bevölkerung jener Zeit erst richtig verstehen   lernen. Wenn der Engländer Arthur Young in der bekannten Beschreibung   seiner Reisen durch Frankreich vor dem Ausbruch der großen Revolution   erklärte, daß man breite Teile der französischen Landbevölkerung nur mit   Tieren vergleichen könne, denen infolge ihres ungeheuerlichen Elends   alles Menschliche abhanden gekommen sei, so dürfte dieselbe Bezeichnung   für breite Massen des Industrieproletariats in den Anfangsperioden der   kapitalistischen Entwicklung wohl kaum übertrieben sein.
Die   ungeheuere Mehrheit der Arbeiter lebte in elenden Löchern und mußte   vierzehn und fünfzehn Stunden den Tag fronen im Bagno der Industrie, wo   durch keinerlei hygienische Vorrichtungen dem Leben und der Gesundheit   der Ausgebeuteten Rechnung getragen wurde. Und dies für einen Lohn, der   nicht einmal ausreichte, um nur die allerprimitivsten Bedürfnisse des   Lebens befriedigen zu können. Wenn der Arbeiter jener Zeiten am Ende  der  Woche so viel erübrigen konnte, um sich in einem Fuselrausch für  einige  Stunden das Himmelreich zu erkaufen, so war damit das Höchste  erreicht,  was er überhaupt erreichen konnte. Und man lese erst, was   zeitgenössische Autoren über die sittliche Verkommenheit und den   geistigen Tiefstand jener Unglücklichen zu berichten wissen. Die Haare   stehen einem zu Berge, wenn man diese Beschreibungen liest, die heute   fast unglaublich erscheinen. Und diese furchtbare Ausbeutung   menschlicher Arbeitskraft beschränkte sich nicht bloß auf die Männer und   Frauen des Proletariats, sie zog auch die proletarischen Kinder in   ihren verderblichen Kreis und förderte die Sterblichkeit derselben bis   zu einem Grade, daß Richard Carlile und andere mit Recht von einer   grauenhaften Wiederholung des bethlehemitischen Kindermordes in größerem   Maßstabe sprechen durften.
Und wie in England, so war der   Zustand überall, wo der Kapitalismus sich zum System entwickelte.   Jahrzehnte vergingen, ehe die Arbeiter mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen   Organisationen überhaupt imstande waren, eine allmähliche Hebung ihrer   allgemeinen Lebenshaltung zu erzielen. Die kleinste Verbesserung mußte   dem Unternehmertum im steten Kampfe entrissen werden. Kein Gesetz,  keine  Regierung kam den Proleten zu Hilfe, sie mußten sich jeden  Fußbreit  Boden ihrer Rechte selbst erkämpfen, wobei sie ungeheuerliche  Opfer zu  bringen hatten. Sogar dort, wo die gesetzgebenden  Versammlungen oder  Regierungsorgane sich durch den Druck von draußen  gezwungen sahen,  gewissen Verbesserungen ihre gesetzliche Sanktion zu  geben, durften sich  die Arbeiter dieser Errungenschaften noch nicht  ungestört erfreuen,  denn bei der geringsten Gelegenheit machte ihnen  das beutehungrige  Unternehmertum diese Verbesserungen wieder streitig,  sogar dann, wenn  die Regierung denselben den Stempel des Gesetzes  aufgedrückt hatte.
Gewiß  ist der Arbeiter auch heute noch allen  Krisen und Wechselfällen des  kapitalistischen Systems unterworfen, und  das soziale Elend ist noch  immer eine der charakteristischsten  Erscheinungen der bestehenden  Gesellschaft. Das wird eben so lange der  Fall sein, wie das fluchwürdige  System der Ausbeutung des Menschen  durch den Menschen seine Existenz  noch fristen kann. Trotzdem aber wäre  es falsch, wenn man behaupten  wollte, daß die Lebenshaltung des  heutigen Arbeiters noch immer dieselbe  sei, wie die seines Vorgängers  in der Anfangsperiode des Kapitalismus.  Nur sinnloser Sophismus könnte  eine solche Behauptung zu rechtfertigen  versuchen.
Ja, es ist  ein Unterschied, ob ein Mensch acht und  neun Stunden anstatt dreizehn  und vierzehn Stunden täglich fronen muß.  Ja, es ist ein Unterschied, ob  ich gerade so viel verdiene, um die  allerdringendsten Bedürfnisse  meiner materiellen Existenz befriedigen zu  können, oder ob mir auch  noch etwas übrigbleibt, um mir eine gewisse  Ausbildung meines geistigen  und sittlichen Menschen zu ermöglichen. Der  Arbeiter von heute stellt  nicht bloß höhere materielle Ansprüche an das  Leben, er hat auch eine  ganze Menge von Bedürfnissen, die seinem  Vorgänger absolut unbekannt  waren. In weiten Kreisen der Arbeiter weiß  man heute den Wert und  Besitz eines guten Buches zu schätzen. Man hat  das Bedürfnis, von Zeit  zu Zeit ein Theater oder ein Konzert zu besuchen  oder sich an anderen  kulturellen Errungenschaften zu erfreuen. Diese  Bedürfnisse sind heute  schon Millionen von Proletariern in Fleisch und  Blut übergegangen und  erheischen kategorisch eine Befriedigung. Es ist  daher nur  folgerichtig, wenn der Arbeiter sich mit seinesgleichen   zusammenschließt, um sich die materiellen Möglichkeiten für diese   Befriedigung zu verschaffen. Dieser fortgesetzte Kampf für die   Befriedigung höherer Lebensansprüche bildet eine der wichtigsten Seiten   der modernen Arbeiterbewegung. Wäre dies nicht der Fall, so hätte die   ganze Bewegung, hätten all die zahllosen Kämpfe der Arbeiter gegen das   Unternehmertum für die Verbesserung ihrer Lebenslage überhaupt keinen   Zweck gehabt. Nur ein Tor oder ein Mensch, der dem Leben völlig   weltfremd gegenübersteht, dürfte dies zu behaupten wagen.
Hier   kommen wir zu der allgemeinen kulturellen Bedeutung der   Arbeiterorganisationen und ihrer steten Kämpfe gegen die Träger der   kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der wirtschaftliche   Zusammenschluß der Produzenten ist dem Proletarier nicht bloß eine Waffe   für die Erringung besserer materieller Lebensbedingungen, er wird ihm   in der selben Zeit zur praktischen Schule und Erziehungsstätte, wo ihm   Belehrung und Aufklärung im reichsten Maße gespendet werden. Die   praktischen Erfahrungen und Ergebnisse seiner täglichen Kämpfe finden in   der Organisation der Arbeiter ihren geistigen Niederschlag, vertiefen   seine innere Erkenntnis und erweitern seine geistige Perspektive. Durch   diese fortgesetzte geistige Verarbeitung der gewonnenen   Lebenserfahrungen entwickeln sich in den Einzelnen neue Bedürfnisse und   Anregungen auf den verschiedensten Gebieten des geistigen Lebens. Auf   diese Weise erwachen bei Millionen von Arbeitern Wünsche höherer Art,   für die der Proletarier vergangener Perioden nicht das kleinste   Verständnis hatte. Und gerade in dieser Entwicklung der Dinge liegt eine   der größten Errungenschaften der proletarischen Kämpfe gegen die  Klasse  der Kapitalisten. Aber auch diese Errungenschaften, die nicht  hoch  genug zu werten sind, haben die Arbeiter ihrer eigenen Initiative  zu  verdanken und dem organisatorischen Zusammenschluß mit  ihresgleichen.  Durch die Initiative der besitzenden Klassen und Kasten  hätten sie wohl  niemals eine Bereicherung ihres geistigen Lebensinhalts  erfahren.
Man  wende nicht etwa ein, daß es bei der reichen  geistigen Kultur des  bürgerlichen Zeitalters ganz unvermeidlich war,  daß ein Teil dieser  Kulturwerte auch den Arbeitern zugute kommen mußte,  ganz unabhängig von  der Existenz und dem inspirierenden Einfluß der  Arbeiterorganisationen.  In der Tat hat man solche Behauptungen  aufgestellt. Aber jede Periode  hatte ja schließlich ihre besondere  geistige Kultur, womit jedoch noch  lange nicht bewiesen ist, daß schon  die bloße Existenz einer solchen es  mit sich bringen müsse, daß auch  die unteren Schichten der Gesellschaft  sich ihrer bis zu einem gewissen  Grade erfreuen dürfen. Wer könnte z. B.  behaupten, daß die geistige  und künstlerische Kultur des  Rokokozeitalters den unteren Schichten der  Bevölkerung - in diesem Falle  den breiten Massen der leibeigenen  Bauern - irgendwie zugute gekommen  wäre?
Eine gewisse geistige  Kultur und das Bedürfnis für  kulturelle Genüsse des Lebens ist immer  erst dann möglich, wenn sich ein  Volk, oder besser gesagt, eine  Gesellschaftsklasse, eine gewisse  materielle Lebenshaltung errungen  hat, welche sie zur Betätigung  geistiger und kultureller Bedürfnisse  befähigt. Ohne diese Voraussetzung  ist eine geistige Betätigung höherer  Art überhaupt ausgeschlossen.  Menschen, die fortgesetzt im tiefsten  Elend zu versinken drohen, und die  nicht einmal so viel aufbringen  können, um den allernotwendigsten  Ansprüchen des materiellen Lebens  auch nur halbwegs zu genügen, haben in  der Regel kein Interesse für  Kulturwerte geistiger Art. Deshalb konnte  auch bei den Proleten der  Frühzeit des Kapitalismus von solchen  Bedürfnissen keine Rede sein, die  sich erst entwickeln konnten, nachdem  die Arbeiter im Laufe der  Jahrzehnte sich von den Unternehmern eine  Hebung ihrer materiellen  Lebenslage ertrotzt hatten. Damit war erst die  Vorbedingung gegeben,  auf Grund derer eine Entfaltung geistiger und  allgemein kultureller  Bedürfnisse unter der Arbeiterschaft überhaupt  möglich wurde.
Das  Unternehmertum hat diese geistigen  Bestrebungen der Arbeiter nicht  gefördert. Im Gegenteil, es hat  dieselben stets mit scheelsüchtigen und  mißtrauischen Augen verfolgt und  kein Mittel unversucht gelassen, sie  zu hintertreiben. Bis zum heutigen  Tage läßt der Kapitalist keine  Gelegenheit ungenützt vorübergehen, die  ihm die Möglichkeit gibt, die  Lebenshaltung des Arbeiters auf ein  tieferes Niveau herabzudrücken, und  er fragt den Teufel danach, wenn  durch diese brutale Wahrnehmung  seiner habsüchtigen Interessen die  Bildungsbestrebungen der Arbeiter  gehemmt oder ganz ausgeschaltet  werden. Für die Kapitalisten als Klasse  gilt noch immer das Wort des  spanischen Ministers Juan Bravo Murillo:  „Wir benötigen in Spanien keine  denkfähigen Leute; was wir brauchen,  das sind Arbeitstiere.“
Es  ist also unbestreitbar, daß sich die  Arbeiter im steten Kampfe mit dem  Unternehmertum bessere  Lebensbedingungen errungen haben, die sich nicht  bloß auf eine Hebung  ihrer rein materiellen Lebenshaltung beschränkten,  sondern auch ihre  Bedürfnisse für geistige und allgemein kulturelle  Werte wesentlich  gefördert und entwickelt haben. Nun könnte man  allerdings einwenden,  daß diese winzigen Errungenschaften ganz  nichtssagend und bedeutungslos  seien im Vergleich mit dem  sozialistischen Endziel der revolutionären  Arbeiterbewegung. Tatsächlich  gibt es eine ganze Anzahl sogenannter  „Radikaler“, die, von einem  solchen Standpunkt ausgehend, jeden Versuch  für eine Hebung der  proletarischen Lebenslage innerhalb der heutigen  Gesellschaft als  hoffnungslos und „reformistisch“ ablehnen und nur von  einem Kampfe „um  das Ganze“ sprechen, wobei es notwendigerweise stets  beim Sprechen  bleiben muß.
Wenn man die Dinge rein abstrakt  nimmt und die reale  Wirklichkeit ganz außer acht läßt, so scheint es  allerdings, daß alle  Kämpfe der Arbeiter um praktische Verbesserungen  zwecklos seien. In der  Tat, welchen Wert haben all diese  Verbesserungen, welche die Arbeiter im  steten und zähen Kampfe der  Jahrzehnte den Kapitalisten entrissen  haben, wenn man sie vergleicht  mit dem Ideal einer sozialistischen  Zukunft? Allein solch rein  abstrakte Betrachtung der Dinge hat schon  viel Unheil angerichtet. Man  verliert dabei allzusehr die harte  Wirklichkeit des Lebens aus den  Augen und ersetzt den festen Willen,  Änderungen zu ertrotzen, durch  fromme Wünsche und sophistische  Schaumschlägereien, hinter denen sich  kein klarer Gedanke verbirgt. Mag  man, von der Vogelperspektive des  „reinen Prinzips“ aus gesehen, die  praktischen Errungenschaften der  proletarischen Kämpfe noch so sehr  verkleinern und als bedeutungslos  abtun, für den einzelnen Proletarier  bedeuten sie nichtsdestoweniger  unendlich viel.
Fragt doch einmal  den Proleten selber, den Mann,  der sich in harter Fron tagtäglich im  Betrieb, im Schacht, auf dem  Felde oder am Hochofen abmühen muß, um die  kärglichen Mittel für des  Lebens Notdurft zu gewinnen, fragt ihn einmal,  was diese winzigen  Verbesserungen für ihn und seine Familie zu bedeuten  haben. Versucht  ihm doch einmal klarzumachen, daß es im Grunde genommen  nichts zu  bedeuten habe, ob er acht oder zwölf Stunden schuftet, da er  ja in dem  einen und in dem anderen Falle doch nur Lohnsklave bleibe.
Oder   erklärt einmal der Frau aus dem Volke, die mit dem Lohn, den ihr der   Mann am Sonnabend nach Hause bringt, die Bedürfnisse der Familie   bestreiten muß, erklärt ihr, daß es an und für sich bedeutungslos sei,   ob der Lohn so bemessen, daß sie damit nur trocknes Brot und Kartoffeln   einhandeln kann, wie wir es ja in der Inflationsperiode erlebt haben  und  leider auch heute noch tagtäglich erleben müssen, oder so, daß es  zur  Bestreitung anderer Bedürfnisse auch noch langt. Erklärt ihr, daß  ihr  diese Dinge ganz gleich sein könnten, da ja dadurch der Bestand der   kapitalistischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt werde. Versucht   einmal, ihr dieses klarzumachen, und diese einfache Frau aus dem Volke   wird ob eurer Weisheit bloß die Achseln zucken und euch für   hirnverbrannte Narren halten.
Diese kleinen Verbesserungen oder   Verschlechterungen in der proletarischen Lebenshaltung haben für die   einzelne Arbeiterfamilie eine ganz eminente Bedeutung, und man muß   tatsächlich blind sein, wenn man sich dieser Tatsache verschließen will.   Denn schließlich lebt der Arbeiter - auch der radikalste Sozialist und   Revolutionär - doch in der heutigen Gesellschaft, deren Bannkreis er   sich nicht entziehen kann. Seine tägliche Arbeit bildet für ihn den   wesentlichen Inhalt seines Lebens, die materielle Basis seiner   individuellen und gesellschaftlichen Existenz, durch welche jede andere   Betätigung, die er ausübt, mehr oder weniger bestimmt wird. Aus diesem   Grunde kann er an Dingen nicht gleichgültig vorübergehen, die aufs   engste mit seiner persönlichen Existenz verbunden sind.
Wer den   Arbeitern stets nur von dem großen Endziel zu erzählen weiß und ihnen im   übrigen einzureden versucht, daß jede Verbesserung innerhalb der   heutigen Gesellschaft für sie zwecklos, ja unmöglich ist, der handelt   ungeachtet seines angeblichen „Radikalismus“ nicht anders wie die   Pfaffen, die den Hungrigen das Himmelreich versprechen, damit sie sich   leichter über die Hölle ihres irdischen Daseins hinwegtäuschen. Was   anderes ist denn die stete Anpreisung auch des schönsten Ideals, wenn   man darüber die naheliegenden Aufgaben des täglichen Kampfes vergißt und   dem Arbeiter die Überzeugung beizubringen sucht, daß dieser Kampf für   ihn keinen Wert hat?
Will man sich davon überzeugen, daß es wohl   einen Unterschied in der Lebenshaltung des Proletariers gibt, so ist  es  übrigens gar nicht nötig, die Proleten der frühkapitalistischen  Periode  als Beispiel heran; zuziehen. Es genügt vollständig, die  Erfahrungen der  deutschen Arbeiterschaft während der letzten Jahre  etwas näher ins Auge  zu fassen und dieselben mit ihrer Lebenshaltung  vor dem Kriege zu  vergleichen. Man könnte mit diesem Material ganze  Bücher ausfüllen, aber  einige Beispiele genügen für unseren Zweck  vollständig.
So ist  vor einigen Monaten von Fritz Reuter eine  Schrift erschienen, welche die  Exportmöglichkeiten der deutschen  Maschinenindustrie behandelt. In  diesem Werkchen befindet sich auch  eine statistische Lohntabelle, in  welcher die Löhne, die während der  letzten Jahre in der englischen und  deutschen Metallindustrie gezahlt  wurden, zum Vergleich herangezogen  werden. Hinter diesen trockenen  Zahlen verbirgt sich die ganze  beispiellose Tragödie der deutschen  Arbeiterklasse nach dem Kriege. Vor  dem Kriege betrug der Minimallohn  des deutschen Metallarbeiters ungefähr  70 Pfennig die Stunde, während  es der englische Metallarbeiter auf 83  Pfennig Stundenlohn brachte,  mithin ungefähr 20% mehr verdiente wie sein  Berufskollege in  Deutschland.
Wie sich dieses Verhältnis später gestaltet hat, davon möge die folgende Tabelle Zeugnis ablegen:
| 1922 | Deutschland | England | ||
| In Goldpf. p. Stunde | In Proz. des Vorkriegslohns | In Goldpf. p. Stunde | In Proz. des Vorkriegslohns | |
| 30. Januar | 25 | 37 | 137 | 165 | 
| 6. März | 18,4 | 26 | 139 | 168 | 
| l.Mai | 29,15 | 41,5 | 136 | 164 | 
| 31. Juli | 17,73 | 25,4 | 138 | 166 | 
| 23. Oktober | 11,2 | 16 | 133 | 169 | 
| 20. November | 9,5 | 13,55 | 136 | 164 | 
| 4. Dezember | 13,5 | 19,6 | 139 | 168 | 
| 1923 | ||||
| 29. Januar | 8,2 | 11,7 | 141 | 170 | 
| 5. März | 25,5 | 36,5 | 141 | 170 | 
| 14. Mai | 14 | 20 | 134 | 161,5 | 
| 4. Juni | 9,6 | 13,7 | 131 | 158 | 
| 2. Juli | 22,86 | 32,7 | 132 | 159 | 
| 24. September | 52,63 | 75,2 | 134 | 161,5 | 
| 1. Oktober | 35,7 | 51 | 135 | 163 | 
| 5. November | 52 | 74,3 | 134 | 161,5 | 
| 31. Dezember | 48 | 68,5 | 131 | 158 | 
| 
 | 
 | 
 | ||
| 1924 | 
 | 
 | ||
| 14. Januar | 48 | 68,5 | 131 | 15 | 
Während der Lohn des englischen Metallarbeiters vor dem Kriege   ungefähr 20 Prozent höher stand wie der seines deutschen Berufsgenossen,   verdient er heute nahezu das Dreifache. Während der Inflationsperiode   aber verdiente er oft zehnmal und fünfzehnmal soviel als der deutsche   Metallarbeiter. Und nun behaupte einer, daß es keine wesentlichen   Unterschiede in der Lebenshaltung des Proletariers gebe!
In der   Kohlenindustrie ist der Unterschied nicht ganz so kraß, immerhin noch   alarmierend genug. Nach der letzten statistischen Berechnung beträgt der   Minimallohn des englischen Bergmanns bei einer Schicht von sieben   Stunden etwas weniger wie elf Schilling täglich. Das ist ungefähr   doppelt soviel, als der deutsche Bergmann an Lohn erhält. Ähnlich ist   das Verhältnis in vielen anderen Industrien. Die allgemeine   Lebenshaltung des deutschen Arbeiters hat sich also unzweifelhaft in   einem erschreckenden Maße verschlechtert. Zieht man dabei noch in   Betracht, daß die Preise der notwendigsten Lebensmittel die   Vorkriegspreise um vieles übersteigen, Gebrauchsgegenstände des   täglichen Bedarfs, wie Kleider, Schuhe, Wäsche usw., aber fast   unerschwinglich geworden sind, so wird das Bild von der Lebenslage des   deutschen Arbeiters nur noch trostloser. Macht man sich nun noch klar,   daß das deutsche Volkseinkommen durch Steuern, Abgaben und Zölle mit 46%   pro Kopf der Bevölkerung belastet ist, während die Belastung in   Frankreich nur 22% und in England nur 18% beträgt, die besitzenden   Klassen aber kein Mittel unversucht lassen, um von dieser Belastung   soviel als irgend möglich ist, auf die Schultern des werktätigen Volkes   in Deutschland abzuwälzen, so begreift man erst richtig den Leidensweg   der deutschen Arbeiterklasse seit der Beendigung des Krieges.
Sogar   die verspäteten Verfechter des Lassalleschen Lohngesetzes dürften bei   einigermaßen gutem Willen daraus ersehen, daß die Frage der   Lebenshaltung für die Arbeiterschaft nicht so unwesentlich ist, wie sie   glauben, und daß jenes angebliche „Gesetz“ jeder tieferen Begründung   ermangelt.
Vergessen wir dabei nicht, daß diese ungeheuerliche   Senkung der proletarischen Lebenshaltung zu einer Zeit vor sich ging,   als die deutsche Schwerindustrie unter Führung von Stinnes fabelhafte   Gewinne einheimste und unsere Großagrarier das deutsche Volk „bei vollen   Scheunen langsam verhungern“ ließen. In derselben Zeit aber suchte   sozialdemokratische Führerweisheit und zentralverbändlerische   Abgeklärtheit dem Arbeiter einzureden, daß man nach einem verlorenen   Kriege mit Lohnforderungen zurückhalten müsse, wenn man das deutsche   Wirtschaftsleben nicht völlig ruinieren wolle. Und die Arbeiter waren   töricht genug, diesen Einflüsterungen stattzugeben, während Unternehmer,   Agrarier und Börsenspekulanten sich die Taschen füllten. Diese Herren   wurden nicht von dergleichen Skrupel geplagt; sie dachten gar nicht   daran, sich angesichts des verlorenen Krieges mit kleineren Profiten zu   begnügen, sondern rafften zusammen, was nur zu ergattern war, während   die breite Masse der werktätigen Bevölkerung sich kaum noch mit   trockenem Brote und Kartoffeln nähren konnte. Keinem dieser Schmarotzer   kam es auch nur für eine Minute in den Sinn, daß ihre ungezügelte   Gefräßigkeit ein ganzes Volk rettungslos dem Verderben preisgab.
Tatsache   ist, daß ein großer Teil der heutigen Preise, die in gar keinem   Verhältnis zu den durchschnittlichen Arbeitslöhnen stehen, sich   überhaupt nicht durch wirtschaftliche Ursachen, sondern nur   psychologisch erklären lassen. In normalen Zeiten begnügt sich der   Unternehmer und Kaufmann mit einem gewissen Profit, dessen Höhe zum   großen Teile durch die gegenseitige Konkurrenz reguliert wird. Auf diese   Weise entwickelt sich sogar eine gewisse Ethik unter Geschäftsleuten,   die ein sogenanntes anständiges Geschäft von direktem Wucher wohl zu   trennen weiß. Aber in der Zeit nach dem Kriege und besonders in der   sogenannten Inflationsperiode gingen alle ethischen Begriffe und jeder   natürliche Maßstab in die Brüche. Das laissez faire, laissez aller der   Besitzenden verlor sich ins Uferlose. Jeder Unternehmer, jeder Kaufmann   wurde in derselben Zeit Spekulant, Spekulant auf das grenzenlose Elend   seines eigenen Volkes, und ergatterte Profite, von denen er früher  nicht  einmal zu träumen wagte. Raffke wurde Trumpf in Deutschland, der   Schieber nahm den Platz des Geschäftsmannes vergangener Jahre ein. Kein   Wunder, daß es vielen dieser Herren heute schwerfällt, sich in der   Periode sogenannter Stabilität wieder zurechtzufinden. Die Preise legen   dafür beredtes Zeugnis ab.
Was nun die Behauptung anbetrifft,  daß  jede Steigerung der Löhne unwiderruflich eine Steigerung der Preise   nach sich ziehen müsse und daß der Kapitalist das, was er mit einer  Hand  dem Produzenten mehr zahle, dem Konsumenten wieder mit der anderen  Hand  aus der Tasche stehle - eine Behauptung, mit der man heute wieder   eifrig hausieren geht in sogenannten „radikalen“ Kreisen - so ist sie   ebenso irrig wie das „eherne Lohngesetz“. Es war kein Geringerer als   Marx in eigener Person, den viele unserer „Radikalen“ stets im Munde   führen, welcher das Unzulängliche und Falsche dieser Behauptung   überzeugend nachgewiesen hat. In seinem bekannten Vortrag im Generalrat   der Internationale (1865) zerpflückte er die Ausführungen des Owenisten   Weston, der jenen Standpunkt vertrat, so gründlich, daß von denselben   überhaupt nichts mehr übrigblieb.
In der Tat, jene Behauptung   könnte erst dann einen gewissen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit machen,   wenn man, wie Marx sagt, beweisen könnte: 1. „daß die Menge der   nationalen Produktion etwas Feststehendes ist, eine gleichbleibende   Menge oder Größe, wie der Mathematiker sagen würde; 2. daß der Betrag   der wirklichen Löhne, d. h. der Löhne, gemessen an der Menge der   Gebrauchsgegenstände, die mit ihnen gekauft werden können, ein   feststehender Betrag, eine gleichbleibende Größe ist.“
In diesem   Falle könnte man die Behauptung wenigstens noch verständlich finden.  Nun  wissen wir aber, daß die allgemeine Produktion sich fortgesetzt   steigert und daß dadurch dem Unternehmer allein schon die Möglichkeit   geboten ist, Lohnerhöhungen wieder auszugleichen, ohne daß er gezwungen   wäre, zu einer Steigerung der Preise seine Zuflucht zu nehmen.
Wäre   es wirklich eine ökonomische Tatsache, daß eine Steigerung der Löhne   notwendigerweise eine Steigerung der Preise zur Folge habe, so wäre auf   Grund dieser Tatsache eine Veränderung der proletarischen Lebenshaltung   in der Tat unmöglich. In diesem Falle müßte aber der moderne Arbeiter   noch immer unter denselben Verhältnissen leben, wie sein Vorgänger in   der frühkapitalistischen Periode. Und da, wie bereits ausgeführt wurde,   eine Entwicklung geistiger und sittlicher Bedürfnisse erst stattfinden   kann, wenn sie durch die materielle Lebenshaltung ermöglicht wird, so   müßten all diese Erscheinungen, die wir heute auf Schritt und Tritt   innerhalb der Arbeiterbewegung wahrnehmen können, einfach auf optischen   Täuschungen beruhen. Dann wären allerdings all die unzähligen Kämpfe  der  Arbeiterschaft gegen das Unternehmertum, um eine Besserung ihrer   Lebenslage zu erzielen, rein für die Katz gewesen. Dann wären aber auch   alle Versuche des Unternehmertums, die Löhne der Arbeiter bei jeder  sich  bietenden Gelegenheit herabzusetzen, ebenso belang- und zwecklos   gewesen, da sie ja an dem Stand der Dinge nicht das Geringste ändern   konnten. So viel Scharfsinn aber muß man dem Unternehmertum schon   zutrauen, daß es nicht zwecklos Dinge provoziert, auf die die Arbeiter   bei der ersten besten Gelegenheit wieder reagieren müssen und die mithin   zu einer  ortgesetzten Erschütterung des Wirtschaftslebens führen, an   welcher der Kapitalist absolut kein Interesse haben kann. Ein solches   Vorgehen wäre nicht bloß töricht, es wäre der hellste Wahnsinn.
Es   ist überhaupt absurd, anzunehmen, daß der Kapitalist zu jeder Zeit   imstande wäre, eine Erhöhung der Preise vornehmen zu können, sobald das   Lohnverhältnis sich etwas zugunsten der Arbeiter verschoben hat. Bei  der  Bestimmung der Preise spielen eben noch ganz andere Faktoren eine   Rolle, und auch der Kapitalist kann in dieser Hinsicht nicht einfach   seinem Willen folgen, sondern ist vielmehr an gewisse Bedingungen   gebunden, die er nicht willkürlich ändern kann, und die ihm in vielen   Fällen direkt von der Konkurrenz aufgezwungen werden. Wäre das nicht der   Fall, dann wäre, wie Marx sehr richtig sagt: „das Auf und Ab, die   unaufhörliche Veränderung der Marktpreise ein unlösbares Rätsel“.
Es   würde zu weit führen, den Beziehungen zwischen Lohn und Preis hier in   allen Einzelheiten nachzuspüren, da ja der Zweck dieser Schrift ein  ganz  anderer ist. Wer sich dafür interessiert, der lese das Schriftchen  von  Marx (Karl Marx: Lohn, Preis und Profit), welches diese Frage in   erschöpfender Weise behandelt. Die ganze Behauptung, daß die Erhöhung   der Löhne, zwangsläufig eine Erhöhung der Preise zur Folge haben müsse,   ist nicht mehr wie eine Mystifikation, wie so viele andere ökonomische   „Gesetze“, die nur dazu beigetragen haben, Verwirrung unter den   Arbeitern anzurichten und sie auf Irrwege zu führen.
Wohl ist es   möglich, daß Lohnerhöhungen eine Steigerung der Preise nach sich ziehen   können, aber auch das Gegenteil kann eintreten, wie Marx in einer  Reihe  von Beispielen treffend nachgewiesen hat, wo Lohnerhöhungen und  eine  Senkung der Preise gleichzeitig eintraten. Daß aber auch das  Umgekehrte  der Fall sein kann, haben wir ja zu unserem eigenen Schaden  während der  letzten Jahre hier genugsam erfahren müssen. Denn obwohl  die Löhne in  Deutschland sogar rein zahlengemäß noch lange nicht die  Höhe der  Vorkriegszeit erreicht haben, verhält es sich bei den Preisen  gerade  umgekehrt. Wäre aber die Behauptung richtig, daß eine Steigerung  der  Löhne automatisch eine Steigerung der Preise zur Folge habe, dann  müßte  nach derselben Logik nach einer Senkung der Arbeitslöhne auch  eine  Senkung der Preise eintreten. Der gegenwärtige Zustand in  Deutschland  ist der beste Beweis, daß dies nicht der Fall ist.
Nein,  alle  sogenannten eisernen „Gesetze“ sind nicht imstande, den täglichen   Kämpfen der Arbeiterschaft, dem Kampf ums tägliche Brot, auch nur ein   Jota ihrer Bedeutung zu nehmen. Sie geben der Arbeiterbewegung ihren   eigentlichen Charakter und sind mit ihrem innersten Wesen aufs innigste   verwachsen. Allein diese Kämpfe haben nicht bloß eine unmittelbar   praktische Bedeutung, sie bilden auch die notwendige Voraussetzung für   die endgültige Befreiung des Proletariats vom Joche der Lohnknechtschaft   und jeder anderen Form der Ausbeutung. Obwohl in der Gegenwart und in   der praktischen Wirklichkeit des Lebens wurzelnd, tragen sie   nichtsdestoweniger die Keime eines künftigen Werdens in sich, aus denen   der Menschheit eine bessere Zukunft erstehen wird. Denn alles Neue und   Kommende entspringt der unmittelbaren Wirklichkeit des lebendigen  Seins.  Nicht aus den luftleeren Räumen abstrakter Vorstellungen wird  uns eine  neue Welt geboren werden, aus den Kämpfen ums tägliche Brot  wird sie  emporwachsen, aus dem ununterbrochenen harten Ringen, das die  Not und  Sorge der Stunde erheischt, und das allen bitteren  Notwendigkeiten  Rechnung zu tragen weiß. Im fortgesetzten Kampfe gegen  das Alte und  Bestehende formt sich das Neue und reift seiner Vollendung  entgegen. Wer  die Errungenschaft der Stunde nicht zu schätzen weiß,  wird nie imstande  sein, sich selber und seinen Mitmenschen eine bessere  Zukunft zu  erkämpfen.
Aus den täglichen Kämpfen der Arbeiter  gegen das  Unternehmertum und seine Verbündeten geht ihnen allmählich  der tiefere  Sinn dieser Kämpfe auf. Zunächst verfolgen dieselben nur  den  unmittelbaren Zweck, die allgemeine Lage des Produzenten innerhalb  der  heutigen Gesellschaft besser zu gestalten, bis sie den Arbeitern  nach  und nach die Wurzel des Übels enthüllen - das Lohnsystem, die   kapitalistische Monopolwirtschaft. Zur Erringung dieser Erkenntnis   bieten die Kämpfe des Alltags einen besseren Anschauungsunterricht wie   die schönsten theoretischen Abhandlungen. Nichts kann den Geist und die   Psyche des Arbeiters so stark beeinflussen, als dieser andauernde Kampf   ums tägliche Brot, nichts macht ihn so empfänglich für die  Gedankengänge  des Sozialismus wie jenes fortwährende Ringen um des  Lebens Notdurft.
Und  darin liegt letzten Endes die große soziale  Bedeutung dieser Kämpfe,  die auch dann bestehen bleibt, wenn die  Arbeiter des öfteren als die  Geschlagenen aus ihnen hervorgehen und  ihre Energien scheinbar nutzlos  vergeudet haben. Auch solche  Niederlagen sind ungemein lehrreich und  entwickeln in den Köpfen der  Arbeiter mit unerbittlicher Logik das  Verständnis für bessere und  wirksamere Methoden des Kampfes, auch dann,  wenn die erhaltene Schlappe  sie zunächst mutlos macht und ihre  Kampfesstimmung arg herabsetzt.
Wie  die leibeigenen Bauern zur  Zeit der Feudalherrschaft durch zahllose  Revolten und größere  Insurrektionen, die zunächst nur den Zweck  verfolgten, den Feudalherren  gewisse Zugeständnisse zu entreißen und  eine Besserung ihrer traurigen  Lebenslage zu erzielen, gerade durch  diese fortgesetzten Aufstände der  großen Revolution den Weg ebneten und  die Abschaffung der feudalen  Rechte vorbereiteten, so bilden die  zahllosen Arbeiterkämpfe ums  tägliche Brot im Schoße der  kapitalistischen Gesellschaft sozusagen die  Einleitung für die kommende  soziale Revolution, aus der uns der  Sozialismus erwachsen wird. Ohne  die ununterbrochenen Revolten der  Bauernschaft - Taine berichtet, daß  von 1781 bis zur Erstürmung der  Bastille über fünfhundert solcher  Revolten fast in allen Teilen  Frankreichs stattgefunden haben - hätte  sich der Gedanke über die  Verderblichkeit des ganzen Systems der  Hörigkeit und des Feudalismus in  den Köpfen der Massen nie eingenistet.  Dieser Gedanke mußte erst aus den  fortgesetzten Kämpfen der Bauern  langsam heranreifen und allmählich  Form und Gestalt annehmen, bis er  endlich mit unwiderstehlicher Gewalt  zur Abschaffung der  Leibeigenschaft und der sogenannten Feudalrechte  führte.
Ebenso  verhält es sich mit den wirtschaftlichen und  sozialen Kämpfen der  modernen Arbeiterschaft. Es wäre total falsch, wenn  man dieselben  lediglich auf ihren materiellen Ursprung hin und nach  ihren praktischen  Ergebnissen einschätzen wollte und ihre tiefe  psychologische Bedeutung  für die Aufrüttelung der Massen und die  Erweiterung ihres geistigen  Horizonts vollständig verkennen würde. Nur  durch die täglichen  Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter und  Unternehmertum konnte der  Gedanke des Sozialismus, der in den Köpfen  einzelner Denker zum Leben  erwachte, erst Fleisch und Blut bekommen und  jenen besonderen Charakter  annehmen, der ihn zu einer Bewegung der  Massen machte, zum Träger  eines neuen sozialen Kulturideals.
Ideen  allein schaffen noch  keine Bewegung, sind sie doch selber nur ein  Ergebnis konkreter  Lebensverhältnisse, der geistige Niederschlag  bestimmter materieller  Bedingungen. Bewegungen entstehen aus den  unmittelbaren und praktischen  Notwendigkeiten des Lebens und sind nie  das Ergebnis rein abstrakter  Vorstellung. Aber sie bekommen erst ihre  unwiderstehliche Kraft und  innere Siegesgewißheit, wenn sie von einer  großen Idee befruchtet  werden, die ihnen Inhalt und Seele gibt. Nur in  diesem Sinne läßt sich  das Verhältnis der revolutionären  Arbeiterbewegung zum Sozialismus  verstehen und richtig würdigen. Ist  dies aber der Fall, so geht daraus  sonnenklar hervor, daß revolutionäre  Sozialisten aller Schattierungen  dem Kampf ums tägliche Brot, welcher ja  den ganzen Inhalt der gesamten  Arbeiterbewegung bildet, nicht weltfremd  gegenüberstehen können,  sondern gerade in diesem Kampfe die  unvermeidliche Vorbedingung für die  endliche Verwirklichung des  freiheitlichen Sozialismus erblicken  müssen. Gerade ihre Aufgabe muß es  sein, an den Alltagskämpfen der  Arbeiterschaft aktiv teilzunehmen, alle  Mittel anzuwenden, dieselben  tiefgründiger und umfangreicher zu  gestalten und den Massen den inneren  Zusammenhang ihrer Forderungen mit  dem großen Endziel der Bewegung  immer wieder vor Augen zu halten.
Wer  da glaubt, daß er für  diese Arbeit zu gut ist oder sich um dieselbe zu  drücken sucht, unter  dem nichtigen Vorwand, daß jede Hebung der  proletarischen Lebenshaltung  innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung  unmöglich sei und nur die  Arbeiter von ihrem eigentlichen Ziele  ablenke, der mag sich nicht  wundern, wenn er bei den Proleten kein  Verständnis findet oder, wenn  ihm gesagt wird, daß man seinen Rat  entbehren könne. Die Tatsache  allein, daß er den inneren Zusammenhang  zwischen dem Kampf ums tägliche  Brot und dem sozialistischen Endziel der  Bewegung nicht begriffen hat,  ist ein Beweis dafür, daß ihm der  Wesensinhalt sowohl des Sozialismus  als auch der Arbeiterbewegung bis  dato ein Buch mit sieben Siegeln  geblieben ist. Mag er sich immerhin  seines „Radikalismus“ freuen, im  Grunde genommen ist er nicht mehr wie  einer jener billigen  Mondscheinphilosophen, die jenseits von Raum und  Zeit schweben und für  die bittere Notdurft des Lebens kein Verständnis  aufbringen.
Solche  Leute hat uns die Novemberrevolution eine  ganze Menge beschert, die  vorübergehend kurze Gastrollen in unserer  eigenen und in verwandten  Bewegungen gespielt haben und hie und da noch  spielen. Meist sind es  weiche, zwitterhafte Geschöpfe, die stets wie ein  Rohr im Winde  schwanken und nie richtig wissen, wo sie eigentlich  hingehören. Sie  haben von allen Parteien und Richtungen etwas genascht,  kennen aber  stets nur die Fassade der Dinge, da ihnen Energie fehlt, in  die Tiefe  zu schürfen und das Innerste einer Bewegung kennenzulernen. Da  sie  gelernt haben, ihre Weisheit mit dem nötigen Pathos an den Mann zu   bringen und unreife Geister mit einem Gallimathias hohler und   bombastischer Schlagworte besoffen zu machen, so hält sie der Unverstand   Einzelner oft für „starke Männer“ und leistet ihnen vorübergehend   Heeresfolge, bis die unvermeidliche Enttäuschung einsetzt, die in der   Regel nicht lange auf sich warten läßt. Meistenteils haben sie die ganze   Farbenskala aller Entwicklungsmöglichkeiten der sozialen Bewegung mit   dem Fahrrad durchlaufen, waren Unabhängige, Kommunisten, Rätebündler   usw., bis man sie eines Tages als „Buddhisten“ oder in dem angenehmen   Kreise von Geistersehern, Tischklopfern usw. wiederfindet. Von dort geht   die Reise gewöhnlich durch den Häusserbund, wo der eine oder der  andere  eines Tages entdecken mag, daß er selber das Zeug zum modernen  Christus  in sich trägt und mit der subalternen Rolle des Apostels nicht  mehr  zufrieden ist. Andere landen schließlich in einem stillen Winkel,  wo sie  in stiller Seligkeit und mit Wonnegrunzen die Schönheit ihres  eigenen  Nabels bewundern. Wir wollen sie nicht stören in dieser  lieblichen  Beschäftigung und hoffen nur, daß sie auch uns fürderhin  ungeschoren  lassen.
Für das kämpfende Proletariat aber bleibt  der alte  Grundsatz bestehen: „Nur im Kampfe findest du dein Recht!“ Aus  dem  Kampfe ums tägliche Brot entwickelt sich das Gefühl der   Zusammengehörigkeit, die proletarische Solidarität, das Bewußtsein der   menschlichen Würde. Nur auf diesen Pfeilern wird die Brücke gebaut   werden, welche die Arbeiterschaft aus der Hölle des sozialen Elends und   der industriellen Leibeigenschaft in das Neuland der sozialistischen   Zukunft führen wird.
Der Kampf ums tägliche Brot spielt sich   nicht bloß auf Wirtschaftlichem Gebiete ab, er greift auch tief in die   Sphäre des politischen und sozialen Lebens ein, und seine äußeren Formen   sind zum großen Teil durch den jeweiligen politischen Zustand eines   Landes direkt bedingt. Wir berühren hier ein Gebiet, über welches   vielfach noch dieselben Unklarheiten verbreitet sind, wie in den Fragen   des wirtschaftlichen Kampfes für eine bessere Lebenshaltung des   Arbeiters. Und es ist auch hier wieder derselbe mißgeleitete und bis zum   Zerrbild entstellte „Radikalismus“, welcher für diese Unklarheiten   verantwortlich ist. Auch hier begegnen wir uns wieder mit jener   vollständigen Verkennung gegebener Tatsachen, durch welche fortgesetzt   Dinge miteinander verwechselt werden, die man, will man sich den klaren   Blick nicht trüben lassen, unter keinen Umständen miteinander   verwechseln darf.
Weil wir den Standpunkt vertreten, daß die   Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf das innigste verwachsen   ist mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, daß folglich   zusammen mit dem Monopol der Ausbeutung auch das Monopol der Macht aus   dem Leben der Gesellschaft verschwinden muß, haben manche gefolgert, daß   die besonderen politischen Formen eines Landes für die Arbeiterschaft   und ihre Kämpfe keinerlei Interesse haben. Wozu sich um die Formen des   Staates kümmern, wenn man sich über sein eigentliches Wesen und die   Mission, die er erfüllt, einig ist? Solche Behauptungen hört man nicht   selten. Wenn man des öfteren gezwungen ist, den Meinungen zu lauschen,   die von „Überradikalen“ in öffentlichen Versammlungen vertreten werden   oder in gewissen Blättern zum Ausdruck kommen, so stehen einem die Haare   manchmal zu Berge, und man fragt sich vergebens, wie so etwas möglich   ist. Es ist daher schon angebracht, daß wir uns auch mit dieser Frage   etwas näher beschäftigen, um so mehr, als sie mit den Dingen, die wir   bisher behandelt haben, eng verbunden ist.
Im Gegensatz zu den   verschiedenen staatssozialistischen Richtungen von der Sozialdemokratie   bis zum Bolschewismus und allem, was dazwischen liegt, vertreten wir  den  Standpunkt, daß der Sozialismus nicht von oben herab durch  irgendeine  gesetzgebende Körperschaft oder Regierungsdiktatur  dekretiert werden  kann, sondern daß er sich vielmehr aus dem Schoße des  Volkes organisch  entwickeln muß, wobei ihm die revolutionäre Aktion  der Massen  Geburtshilfe leisten muß. Wir sind der Meinung, daß jedes  staatliche  System mit der jeweiligen Form der wirtschaftlichen  Ausbeutung der  breiten Massen durch privilegierte Minderheiten  innerlich aufs engste  verwachsen ist, und daß seine besonderen  politischen Formen an dieser  Tatsache selbst nichts ändern können, da  ja der Staat nie etwas anderes  gewesen ist, noch sein kann, als der  Gewaltapparat der besitzenden  Klassen, der Verteidiger der  wirtschaftlichen Monopole und der  Klassengegensätze innerhalb des  gesellschaftlichen Verbandes. Mag er nun  unter monarchistischer Flagge  segeln oder das Banner der Republik  entfalten, nie wird er dieser  seiner Mission untreu werden können, die  ja in seinem innersten Wesen  begründet ist.
Wir sind daher der  Auffassung, daß zusammen mit  dem System der Ausbeutung auch das System  der Herrschaft fallen muß,  und daß jeder Versuch in der Richtung zum  Sozialismus unwiderruflich  zum Scheitern verdammt ist, wenn die  Initiatoren eines solchen  Versuches den politischen Herrschaftsapparat  aufrechterhalten und in  Funktion belassen. Das Experiment der  Bolschewisten in Rußland hat uns  in dieser Hinsicht eine Lehre gegeben,  die auch den Blindesten  überzeugen müßte, wenn er nicht von vornherein  die Absicht hat, sich  nicht überzeugen zu lassen und jede Belehrung aus  parteipolitischen  oder anderen Gründen ablehnt.
Jede neue  Wirtschaftsordnung  fordert kategorisch eine neue Form der politischen  Organisation,  innerhalb derer sie sich auswirken und in natürlicher  Weise entwickeln  kann. Aus diesem Grunde muß es eine der ersten Aufgaben  des Sozialismus  und der Sozialisten sein, das bestehende Staatssystem  durch eine neue  Form der politischen Organisation zu ersetzen, in  welcher das Regieren  der Menschen dem Verwalten der Dinge weichen muß.
Von  diesem  Standpunkt ausgehend, erblicken wir in der Eroberung der  politischen  Macht keine Vorbedingung für die Verwirklichung des  Sozialismus - eine  Auffassung, wie sie von den Arbeiterparteien der  verschiedenen Länder  noch bis heute vertreten wird - unsere ganze  Aufmerksamkeit ist  vielmehr darauf gerichtet, jede politische Macht und   Herrschaftseinrichtung aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschalten,   weil dieselbe unvermeidlich zu neuen Formen der Ausbeutung führen müßte.
Wir   begnügen uns indessen keineswegs mit dem Zukunftsideal einer   herrschaftslosen Gesellschaft, unsere Bestrebungen sind auch schon heute   darauf eingestellt, die Wirkungssphäre des Staates, wo immer sich eine   Gelegenheit dazu bietet, zu beschränken und seinen Einfluß auf die   verschiedenen Zweige des gesellschaftlichen Lebens nach Kräften   einzudämmen. Es ist gerade diese Taktik, welche uns in erster Linie von   den Methoden der sogenannten Arbeiterparteien unterscheidet, deren  ganze  Bestrebungen darauf gerichtet sind, den Wirkungskreis der  staatlichen  Macht fortgesetzt zu erweitern und dieselbe auch im  weitesten Maße auf  das Wirtschaftsleben auszudehnen, wodurch einer  Periode des  Staatskapitalismus der Weg geebnet wird, der seinem ganzen  Wesen nach  nur das Gegenteil von dem sein kann, was der Sozialismus  eigentlich  erstrebt.
Diese Auffassung besagt aber keineswegs,  daß die  bestehenden politischen Formen eines Landes für uns gar keine  oder nur  nebensächliche Bedeutung haben. Gerade wir dürfen die  allerletzten sein,  welche die Arbeiter zu dem Wahn verführen wollen,  daß ihnen die  jeweilige Regierungsform gleichgültig sein kann und es  für sie kein  Unterschied ist, ob sie gezwungen sind, in einem  zaristisch oder  faschistisch regierten Staate leben zu müssen, oder ob  sie sich gewisser  politischer Rechte und Freiheiten erfreuen können,  die ihnen sowohl für  ihre täglichen Kämpfe gegen das Unternehmertum,  als auch für jede Art  der Propaganda, welche ihre soziale Befreiung zum  Ziele hat, von  allergrößter Wichtigkeit sind.
Fragt doch einmal  unsere  syndikalistischen und anarchistischen Genossen in Italien und  Spanien,  fragt doch die organisierte Arbeiterschaft jener Länder, ob  ihnen die  Diktatur eines Mussolini oder eines Primo de Rivera in der  Tat so ganz  gleichgültig ist. Nur wer von den ungeheuerlichen  Verfolgungen, welchen  unsere Kameraden in jenen Ländern, besonders aber  in Spanien während der  letzten Jahre unterworfen sind, keinen blassen  Schimmer hat, könnte  etwas Ähnliches behaupten. In Spanien befindet  sich die  anarcho-syndikalistische Arbeiterschaft seit 1920 in einem   unerbittlichen und furchtbaren Kampfe gegen die reaktionären Mächte des   Staates und des Unternehmertums, der periodenweise den Charakter einer   förmlichen Vendetta angenommen hatte und dem Hunderte unserer Kameraden   zum Opfer gefallen sind. Wenn wir heute trotz alledem ein Erlahmen der   Reaktion in Spanien wahrnehmen können, so ist dies sicher nicht zum   wenigsten dem heldenmutigen Kampfe unserer spanischen Arbeitsbrüder zu   danken, die auch unter den schwersten Verfolgungen nie den Mut verloren   haben.
Auch wir Revolutionäre und freiheitliche Sozialisten  leben  ja schließlich nicht auf dem Monde, sondern in einer  Gesellschaft, die  wir zwar bekämpfen, deren unmittelbaren Einflüssen  wirtschaftlicher,  politischer und sozialer Natur wir uns aber vorläufig  nicht entziehen  können. Wir können daher nicht Dinge ignorieren, die  uns fortgesetzt auf  den Fingernägeln brennen und die, wenn wir schon  mit ihnen nichts zu  schaffen haben möchten, sich aber mit uns zu  schaffen machen, ob es uns  angenehm ist oder nicht.
Wenn man  daher behauptet, daß ja die  verschiedenen Formen der staatlichen Macht  an dem Wesen und der Existenz  des Staates selbst nichts ändern könnten,  und daß folglich die Frage,  wer uns regiert und wie wir regiert  werden, eine ganz untergeordnete  Rolle spiele, so ist das ungefähr  dasselbe, als wenn man den Standpunkt  vertritt, daß es für die Arbeiter  ganz gleich sei, ob sie acht oder  zwölf Stunden arbeiten, ob ihre  Entlohnung den Ansprüchen ihrer  Lebensbedürfnisse angemessen ist oder  nicht, da ja durch solche  Kleinigkeiten an dem Bestehen der  kapitalistischen Gesellschaft nichts  geändert werde. Wir haben bereits  in dem ersten Abschnitt dieser  Abhandlung gezeigt, daß diese Auffassung  der Dinge bedenklich hinkt und  zu den Verderblichsten  Schlußfolgerungen führen muß.
Nein,  ebensowenig wie die Frage  seiner Lebenshaltung innerhalb der heutigen  Gesellschaft dem Arbeiter  gleichgültig sein kann, ebensowenig kann es  ihm gleichgültig sein,  welche Formen die politische Gestaltung seines  Landes annimmt. Sowohl  für seine unmittelbaren Bedürfnisse als auch für  seine endgültige  Befreiung aus wirtschaftlicher, politischer und  sozialer Sklaverei  benötigt der Arbeiter die denkbar größten politischen  Freiheiten, die  er sich gegebenenfalls erkämpfen muß, dort, wo sie ihm  versagt werden,  und die er mit aller Energie verteidigen muß, dort, wo  die Reaktion  Anstalten trifft, ihm dieselben zu entreißen. Man kann  solche Dinge,  die mit der gedeihlichen Entwicklung der Arbeiterbewegung  aufs innigste  verknüpft sind, nicht ignorieren oder mit ein paar leeren  Phrasen  abtun.
Wie in so vielen anderen Fällen, so geht man auch  in der  Beurteilung dieser Frage vielfach von ganz irrigen  Voraussetzungen aus  und kann sich dann schließlich nicht wundern, wenn  man zu solch  ungereimten und verhängnisvollen Schlußfolgerungen kommt.  Die meisten  unserer Überradikalen messen politischen Rechten und  Freiheiten  innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung schon deshalb  keinen Wert  bei, weil dieselben in einer staatlichen Verfassung  niedergelegt sind.  Sie stoßen sich an der gesetzlichen Form, ohne sich  auch nur einmal die  Frage zu stellen, welche Kräfte am Werk gewesen  sind, um die  „Verankerung“ gewisser Rechte und Freiheiten in der  Verfassung  überhaupt zuwege zu bringen.
In der Wirklichkeit ist  diese  Einstellung ja nicht neu. Sie war besonders unter den russischen   Revolutionären ziemlich weit verbreitet und führte nicht selten zu den   sonderbarsten Auffassungen. So faßte ein Teil unserer anarchistischen   Genossen in Rußland im Jahre 1905 auf einer besonderen Konferenz den   Beschluß, daß, falls Rußland sich infolge der damaligen Revolution in   einen konstitutionellen Staat verwandeln werde, die Anarchisten unter   keinen Umständen von gesetzlich garantierten Rechten und Freiheiten   Gebrauch machen dürften, um die Arbeiter vor falschen Hoffnungen zu   bewahren. Man beschloß daher, daß die Propaganda auch weiterhin und   unter allen Umständen ihren geheimen Charakter beibehalten und die   anarchistischen Blätter nach wie vor unterirdisch hergestellt werden   sollten. Es wäre töricht, solche Beschlüsse allzu tragisch zu nehmen,   und wir sind überzeugt, daß, wäre die Revolution von 1905 wirklich   erfolgreich gewesen und Rußland in der Tat ein konstitutioneller Staat   geworden, so würde sich auch jener Teil der Anarchisten seinen Beschluß   noch zweimal überlegt haben. Immerhin verdienen solche Dinge schon  etwas  Aufmerksamkeit, denn sie zeigen uns, wie grausam auch die beste  und  schönste Idee mißverstanden werden kann, und zu welch  hirnverbrannten  Schlüssen man oft gelangen muß, wenn man der Entstehung  gewisser  Einrichtungen in der Gesellschaft jede Aufmerksamkeit  versagt. Es ist  übrigens bezeichnend, daß eine ganze Anzahl jener  „Überradikalen“ sich  später dem Bolschewismus angeschlossen hat und  heute mehr oder weniger  einflußreiche Mitglieder der Kommunistischen  Partei Rußlands sind.
Später  entwickelte sich unter den  russischen Revolutionären die Richtung der  sogenannten „Machajewzes“,  deren Anhänger nicht nur jedes sozialistische  Gesellschaftsideal als  religiöse Schwärmerei behandelten und  Sozialdemokraten, Anarchisten und  Syndikalisten alle in einen Topf  warfen, sondern die auch den  Standpunkt vertraten, daß jede öffentlich  betriebene Propaganda und  revolutionäre Tätigkeit der Arbeiter zu  verwerfen sei, weil sie nur zu  einer fruchtlosen Vergeudung der Kräfte  führten. Von dieser Überzeugung  ausgehend, redeten sie einer großen  internationalen Verschwörung der  Arbeiter das Wort, die sich nie mit  Fragen der Zukunft, sondern  ausschließlich mit den unmittelbaren  Forderungen des Alltags befassen  sollte. Und zwar sollten die Arbeiter  alle Mittel des ökonomischen  Terrors in Anwendung bringen, um ihren  praktischen Forderungen Geltung  zu verschaffen.
Man konnte das  Auftauchen solcher Richtungen in  Rußland zur Not noch verstehen. In  einem Lande, dessen Bevölkerung nie  vorher politische Freiheiten  irgendwelcher Art genossen hatte, sind  solche Auffassungen immerhin  verständlich. Daß man sich aber auch  außerhalb Rußlands über diese Dinge  noch nicht vollständig klar  geworden ist, ist in der Tat bedauerlich.
Man  mag über  Verschwörungen und geheime Bewegungen denken, wie man will,  eines ist  sicher, daß sie niemals zu Trägern großer Massenbewegungen  werden  können. Es gibt Zeiten, wo die Gründung geheimer Organisationen  für die  Arbeiter nicht zu umgehen ist. Wenn eine brutale, ungezügelte  Reaktion  die Entfaltung jeder öffentlichen Tätigkeit unterbindet und  durch  Ausnahmegesetze oder mit der Hilfe diktatorischer Gewaltmittel  jedes  freie Wort zu ersticken droht, dann bleibt den aktiven Elementen  einer  revolutionären Bewegung kein anderer Ausweg, als der Gewalt zu  trotzen  und zu konspirativen Verbindungen ihre Zuflucht zu nehmen. Dabei  aber  darf man niemals vergessen, daß diese Form der Bewegung nicht  normal  ist und ihr durch äußere Verhältnisse aufgezwungen wurde. In  diesem  Falle muß die Bewegung ihr ganzes Augenmerk darauf lenken, diese   Verhältnisse bei der ersten Gelegenheit zu Fall zu bringen, damit sie   wieder imstande ist, ihren natürlichen Charakter anzunehmen. Alle   wirklich sozialen Bewegungen mit weitgesteckten Zielen bedürfen eben der   breitesten Öffentlichkeit, um die Massen zu erfassen und in ihrem  Sinne  beeinflussen zu können, was eine Geheimbewegung nie zustande  bringt.  Schon von diesem Standpunkt aus gesehen erscheinen uns alle  politischen  Rechte und Freiheiten, welche sich im Laufe der Jahrzehnte  in den  verschiedenen Ländern durchgesetzt haben, in einem ganz anderen  Lichte.
Alle  politischen Rechte, welche wir heute in mehr oder  weniger beschränktem  Maße genießen, haben die Völker nicht dem guten  Willen oder der Gunst  ihrer Regierungen zu danken. Im Gegenteil, die  Regierungen haben alle  Mittel, die ihnen nur zur Verfügung standen,  angewendet, um das  Zustandekommen solcher Rechte zu unterbinden und  illusorisch zu machen.  Große Massenbewegungen, ja ganze Revolutionen  sind notwendig gewesen, um  den herrschenden Klassen und Gewalten diese  Rechte zu entreißen, zu  denen sie sich freiwillig nimmer mehr  entschlossen hätten. Ungeheuere  Opfer waren nötig, um solche Rechte zu  erkämpfen, die uns heute als  etwas ganz Selbstverständliches  erscheinen.
an studiere doch  einmal die Geschichte der letzten  hundertfünfzig Jahre, um zu verstehen,  welch unerbittliche Kämpfe  notwendig gewesen sind, um jeden Zollbreit  eines gewissen Rechtes den  Klauen des Despotismus zu entreißen. Wieviel  Ströme Blutes mußten erst  vergossen werden, wieviel Märtyrertum war  erforderlich, wieviel  Verfolgungen haben in jedem Lande stattgefunden im  Laufe langer  Jahrzehnte, um einen mehr oder weniger freien Ausdruck der  Meinung in  Wort und Schrift zu ermöglichen! Lest doch einmal die  Geschichte der  Zensur, dieser verhaßten und fluchwürdigen Einrichtung,  welche der  geistigen Entwicklung Europas so lange an der Gurgel saß und  teilweise  noch immer sitzt! Wieviel ungeheuere Opfer und revolutionäre  Erhebungen  waren nötig, um jenem Monstrum in ununterbrochenen  Zusammenstößen  allmählich den Boden abzugraben!
Und welch  mühevolle und  opferreiche Kämpfe mußten die Arbeiter fast in jedem Lande  bestehen, um  sich das Koalitionsrecht zu erringen, die Freiheit, sich  mit  ihresgleichen zu organisieren, um dem Unternehmertum eine  geschlossene  Front entgegensetzen zu können. Wir machen heute von diesen  Rechten  Gebrauch, aber die wenigsten geben sich Rechenschaft darüber  ab, was  dieselben die Arbeiterschaft gekostet haben. Wenn wir imstande  waren,  alle Opfer an Gut, Blut, Leben und Freiheit, welche die Arbeiter  der  verschiedenen Länder der Eroberung dieser Rechte bringen mußten, nur   kurz wiederzugeben, so würde vor unseren Augen ein Bild entstehen, von   dem wir uns jetzt sogar keine blasse Vorstellung machen können.
Wie   mußte zum Beispiel die englische Arbeiterklasse ringen und streiten,  um  sich das öffentliche Recht ihrer Organisation zu ertrotzen. Die   berüchtigten Gesetze von 1799 - 1800 hatten es den Arbeitern unmöglich   gemacht, öffentliche Verbindungen einzugehen, um ihre wirtschaftlichen   Interessen gegen die unbegrenzte Habsucht des Unternehmertums zu   verteidigen. So mußten sie sich denn in geheimen Körperschaften   zusammenfinden, um den Kampf ums tägliche Brot zu führen und ihren   Forderungen Geltung zu verschaffen. Aber wie groß war die Zahl derer,   die in die Schlingen der Gesetze gerieten und auf administrativem Wege,   das heißt, ohne Prozeß und öffentliche Gerichtsverhandlung, nach den   Strafkolonien Australiens deportiert wurden, um niemals die Heimat   wiederzusehen! Jede Zuwiderhandlung gegen den Buchstaben des Gesetzes   wurde mit geradezu ungeheuerlichen Strafen geahndet. Und sogar nachdem   im Jahre 1824 die sogenannten Trades Unions gesetzlich anerkannt wurden,   hörten diese furchtbaren Verfolgungen noch lange nicht auf.   Gewissenlose Richter, die in der offenkundigsten und zynischsten Weise   die brutalsten Klasseninteressen des Unternehmertums wahrnahmen,   verhängten über unbotmäßige Arbeiter Hunderte von Jahren Zuchthaus, und   es vergingen noch Jahrzehnte, bis ein einigermaßen erträglicher Zustand   eintrat. Doch mußten die Arbeiter stets auf ihrer Hut sein, um sich   gegen neue Angriffe zu schützen, die sich bis in die letzte Zeit hinein   fortsetzten.
Und mußte nicht die französische Arbeiterschaft   ähnliche Opfer bringen, um sich ihr Organisationsrecht zu erringen?   Sogar der „revolutionäre Konvent“ versagte ihnen dieses Recht und   bedrohte jedes Zuwiderhandeln mit dem Tode. Erst die Februarrevolution   des Jahres 1848 verschaffte der französischen Arbeiterklasse das   Koalitionsrecht, das in jener berühmten von Louis Blanc entworfenen   Erklärung der Provisorischen Regierung folgenden Ausdruck fand: „Die   Provisorische Regierung der Republik verpflichtet sich, die Existenz des   Arbeiters durch die Arbeit zu garantieren. Sie verpflichtet sich,  allen  Bürgern Arbeit zu verschaffen. Sie erkennt an, daß alle Arbeiter  sich  untereinander verbinden müssen, um den Ertrag ihrer Arbeit zu  genießen."
Allein  die Arbeiter durften sich dieses Rechtes nicht  lange erfreuen, denn als  nach dem furchtbaren Aderlaß der Junischlacht  Louis Bonaparte Präsident  der Republik wurde, gingen diese  Errungenschaften bald wieder zugrunde,  und die ersten Ansätze der rasch  entstandenen Arbeiterorganisationen  fielen jenem infamen Gesetz zum  Opfer, das die Zahl der Mitglieder einer  Organisation auf zwanzig  beschränkte und jede Verbindung unter den  einzelnen Organisationen  untersagte. Damit war der Zustand vor 1848  wiederhergestellt. Im Jahre  1864 anerkannte die kaiserliche Regierung  zwar sehr gegen ihren Willen  das Recht der Arbeiter, zu streiken, aber  sie erlaubte ihnen nicht,  Gewerkvereine zu gründen, ohne die das  Streikrecht wenig Bedeutung  hatte. Allein die Arbeiter, welche der  Regierung das Streikrecht  entrissen hatten, indem sie einfach auf das  Verbot der  Arbeitsniederlegung keine Rücksicht mehr nahmen, so daß die  Regierung  vor eine fertige Tatsache gestellt wurde, die sich nicht mehr   rückgängig machen ließ, ertrotzten sich auch das Organisationsrecht,   indem sie einfach trotz dem Gesetz gewerkschaftliche Verbindungen ins   Leben riefen, ungeachtet aller Verfolgungen. Nach der Niederlage der   Pariser Kommune, von 1871 bis 1878, suchte die republikanische Regierung   diese Verbindungen mit allen Mitteln zu unterdrücken, aber sogar die   schlimmsten Verfolgungen waren nicht mehr imstande, die Arbeiter dem   Buchstaben des Gesetzes zu unterwerfen, bis man endlich im Jahre 1886   das Organisationsrecht gesetzlich anerkennen mußte, wobei man den   einzelnen Organisationen noch immer genug Beschränkungen auferlegte.   Ohne diese fortwährenden Kämpfe der Arbeiterschaft um ihr   Vereinigungsrecht gäbe es in der französischen Republik noch heute kein   Koalitionsrecht. Erst nachdem die Arbeiter das Parlament vor vollendete   Tatsachen gestellt hatten, sah sich die Regierung genötigt, der neuen   Lage Rechnung zu tragen und die Gewerkschaften gesetzlich zu   sanktionieren.
Und welch harte und blutige Kämpfe hatte die   spanische Arbeiterschaft zu bestehen, ehe sie den Gewalthabern ihres   Landes das Organisationsrecht abtrotzte. In der Provinz Katalonien   bestanden schon seit 1840 gewerkschaftliche Organisationen, besonders in   der Textilindustrie, die von dem Weber Munts gegründet wurden. Die   Regierung setzte diesen Vereinigungen zunächst keinen Widerstand   entgegen, aber nach einigen Jahren unterdrückte sie plötzlich die   Organisationen der Arbeiter mit militärischer Gewalt. Die Arbeiter   vereinigten sich nun in geheimen Verbänden, die immer größere   Verbreitung fanden, bis im Jahre 1855 der General Zapatero, ein   finsterer Reaktionär unseligen Angedenkens, die drakonischsten Maßregeln   in Anwendung brachte, um die geheimen Verbindungen der Arbeiter, deren   Stärke er allerdings nicht kannte, im Keime zu ersticken. Nun   beschlossen die Arbeiter einen Generalstreik, und am 2. Juni 1855   verließen 50.000 Proleten die Betriebe. Von Barcelona verbreitete sich   die Bewegung fast über ganz Katalonien. In Sans, Igualada und Vieh kam   es zu blutigen Zusammenstoßen, die den Charakter eines bewaffneten   Aufstandes annahmen. In Barcelona hatten die Arbeiter die Worte   „Associación ó Muerte!" (Vereinigung oder den Tod!) auf ihre Fahne   geschrieben.
Die Lage wurde für die Regierung sehr kritisch, um   so mehr als in den baskischen Provinzen um dieselbe Zeit ein neuer   Aufstand der Karlisten ausgebrochen war. Der Gouverneur von Barcelona   wandte sich endlich in einem bewegten Aufruf an die Arbeiter und   beschwor sie, den Streik aufzugeben, da die Regierung alles tun werde,   ihre gerechten Forderungen zu erfüllen. Darauf brachen die Arbeiter am   neunten Tage den Streik ab, aber die Versprechungen, die man ihnen   gegeben hatte, wurden in schnöder Weise gebrochen und ganz Katalonien   mit Militär überschwemmt. Eine Anzahl Arbeiter wurde erschossen,   Hunderte in die Gefängnisse geworfen oder nach den Philippinen verbannt.
Aber   die Aufstände wiederholten sich, bis sich die Regierung im Laufe der   Jahre doch entschließen mußte, den Forderungen der Arbeiter nachzugeben,   was zunächst unter allen möglichen Vorbehalten geschah, wobei die   Arbeiter sich buchstäblich Stück für Stück ihrer Rechte erkämpfen   mußten. Und sogar dann, als den Proletariern das Koalitionsrecht schon   gesetzlich garantiert war, wurde es ihnen des öfteren durch   Ausnahmegesetze und Proklamation der Militärdiktatur wieder entrissen,   so daß sie stets von neuem in die Schranken treten mußten, um sich Recht   zu verschaffen.
Es würde zu weit führen, wenn wir hier alle   Kämpfe registrieren wollten, welche die Arbeiter auch in anderen Ländern   führen mußten, um sich bestimmte politische Rechte zu erobern, die   ihnen als Grundlage ihrer Organisationen dienen mußten. Alle diese   Rechte und Freiheiten mußten den herrschenden Klassen in endlosen   Kämpfen direkt entrissen werden. Dies geschah stets mit innerem   Widerstreben und immer erst dann, wenn die Unzufriedenheit der Massen   größere Dimensionen angenommen hatte und sich in revolutionären Aktionen   Luft machte, welche die Regierung zum Nachdenken zwangen. Ebensowenig   wie das Unternehmertum den Arbeitern je die geringste Verbesserung aus   eigenem Antrieb gewährte und immer erst durch die Aktion der Arbeiter   dazu gezwungen werden mußte, ebensowenig hat je eine Regierung aus   freien Stücken ihren Bürgern politische Rechte und Freiheiten verliehen.   Diese Rechte mußten vielmehr in stetem Kampfe mit der Autorität des   Staates errungen werden, und es gingen oft Jahrzehnte darüber hin, bis   die Massen sich so stark fühlten, den Widerstand der Regierung zu   brechen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen.
Es ist   daher eine vollständige Verkennung der geschichtlichen Tatsachen, wenn   man den Standpunkt vertritt, daß politische Rechte und Freiheiten, wie   sie in sogenannten konstitutionellen Staaten mehr oder weniger üblich   sind, für die Arbeiter schon deshalb keinen Wert hätten, weil die   Regierungen sie sonst nie und nimmer sanktioniert und gesetzlich   bestätigt hätten. Nicht weil den Regierungen diese Rechte sympathisch   waren, hat man sie gegeben, sondern weil sie stets durch den Druck der   äußeren Umstände dazu gezwungen wurden, weil das Volk sie vor vollendete   Tatsachen stellte, die man nicht mehr ungeschehen machen konnte und  die  man notgedrungen sanktionieren mußte, um ihnen einen gesetzlichen   Anstrich zu geben. Anderenfalls hätte sonst das Volk leicht auf die Idee   kommen können, daß es diese Errungenschaften seiner eigenen Kraft und   nicht der Gnade seiner Regierung zu verdanken habe.
Politische   Rechte und Freiheiten werden nicht in den Parlamenten erworben, sie   werden den Parlamenten vielmehr von außen her aufgezwungen. Sogar ihre   gesetzliche Gewährleistung ist noch lange keine Garantie dafür, daß das,   was unter gewissen Umständen gesetzlich niedergelegt wurde, nunmehr   auch Bestand hat. Nein, und tausendmal nein! Ebenso wie das   Unternehmertum jedes Zugeständnis, welches es den Arbeitern zu machen   gezwungen war, bei der ersten Gelegenheit wieder rückgängig zu machen   sucht, sobald ihm die Lage dazu günstig erscheint oder sobald sich in   den Organisationen der Arbeiter Zeichen innerer Schwäche bemerkbar   machen, ebenso sind Regierungen stets geneigt, gewisse politische Rechte   und Freiheiten wieder aufzuheben, wenn sie glauben annehmen zu dürfen,   daß ihnen draußen kein nennenswerter Widerstand entgegengesetzt wird.
Das   ist auch die Ursache, weshalb sogar in solchen Ländern, wo gewisse   Rechte, wie z. B. die Freiheit der Presse, das Versammlungsrecht, die   Koalitionsfreiheit usw. sich bereits seit langen Jahrzehnten beim Volke   eingebürgert haben, die Regierung trotzdem immer wieder Versuche macht,   diese Rechte zu beschränken oder ihnen durch juristische   Spitzfindigkeiten eine andere Auslegung zu geben. England und Amerika   haben uns in dieser Hinsicht manche interessante Lehre gegeben. Rechte   bestehen eben nicht deshalb, weil sie auf einem Stück Papier gesetzlich   niedergelegt sind, nein, Rechte bestehen nur dann, wenn sie zu einem   unentbehrlichen Bedürfnis des Volkes geworden, ihm sozusagen in Fleisch   und Blut übergegangen sind. Und man wird sie stets nur so lange achten,   als im Volke dieses Bedürfnis lebendig ist. Wo dies nicht der Fall  ist,  hilft auch keine parlamentarische Opposition und keine Berufung  auf die  Verfassung.
Haben wir doch ein Schulbeispiel für die  Richtigkeit  unserer Behauptung in der berühmten, fast hätte ich  geschrieben  „berüchtigten“, Verfassung von Weimar. Die Weimarer  Verfassung, die man  mit Stolz als die freieste der Welt bezeichnet,  garantiert ihren  Bürgern, vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft  aus gesehen, in  der Tat ziemlich weitgehende Rechte und Freiheiten.  Aber diese Rechte  haben eben nur die kleine Unannehmlichkeit, daß man  sie nie gebrauchen  kann, wenn man sie am nötigsten hat, denn an jedem  Regentag hebt man die  Verfassung auf und verhängt über Land und Bürger  den  Belagerungszustand. Wobei wir es erleben mußten, daß sogar die   „Schutztruppe der Republik“, die deutsche Sozialdemokratie, sich nicht   entblödet hat, die sogenannte Regierungsgewalt in die Hand der Generäle   zu legen, weil das Vaterland angeblich in Gefahr war. Und wann wäre das   Vaterland nicht in Gefahr gewesen, sobald unsere Regierer ein  Interesse  daran haben?
So geht es den guten Deutschen mit der  Weimarer  Verfassung, wie es den Franzosen mit der berühmten  demokratischen  Gesetzgebung von 1793 ergangen ist, die bekanntlich  niemals in Kraft  getreten ist. Man zeigt sie dem Volke an hohen  Festtagen, wie der  katholische Priester den Gläubigen in der Kirche für  einen Augenblick  die Monstranz zeigt, um sie gleich darauf wieder  fürsorglich im heiligen  Schrein zu verschließen.
Politische  Rechte und Freiheiten haben  eben nur dann einen praktischen Wert, wenn  sie einem Volke zur inneren  Gewohnheit geworden sind und wenn jeder  Versuch, dieselben zu  beeinträchtigen, mit dem heftigsten Widerstand  der Massen rechnen muß.  Respekt erzwingt man sich, indem man seine  Würde als Mensch zu wahren  weiß. Das ist nicht bloß im Privatleben so,  das ist auch im politischen  Leben nie anders gewesen. Aus diesem Grunde  haben die glutvollen Worte,  welche Kropotkin vor nahezu einem halben  Jahrhundert niederschrieb, auch  heute noch ihre Richtigkeit. Ja, es ist  wahr:
„Wollen wir die  Freiheit haben, zu sagen und zu  schreiben, was uns gefällt, wollen wir  uns versammeln und organisieren,  so dürfen wir nicht von einem  Parlamente die Erlaubnis dazu erbitten,  wir dürfen nicht um ein Gesetz  beim Senat betteln. Laßt uns eine  organisierte Macht sein, fähig,  jedesmal die Zähne zu weisen, wenn, wer  immer es wagt, unsere  Redefreiheit und unser Versammlungsrecht zu  beschränken. Seien wir  stark, und wir können sicher sein, daß niemand  es wagen wird, uns das  Recht streitig zu machen, all das zu sagen, zu  schreiben, zu drucken,  was wir wollen, und uns zu versammeln, wann und  wo es uns Vergnügen  macht. Am Tage, wo es uns gelungen ist, unter den  Ausgebeuteten eine so  starke Einigkeit zu schaffen, daß Tausende von  Menschen bereit sind, in  den Kampf für ihre Rechte einzutreten, oder  dieselben zu verteidigen, an  diesem Tage wird es niemand wagen, uns  diese Rechte - und noch viele  andere, welche wir dann fordern können -  streitig zu machen. Dann, aber  nur dann werden wir diese Rechte  wirklich errungen haben, um die wir bei  den Parlamenten jahrzehntelang  betteln würden. Dann werden uns diese  Rechte ganz anders gewährleistet  sein, als wenn man sie wiederum auf ein  Stück Papier aufzeichnen würde.  Freiheiten werden nicht geschenkt, man  muß sie sich nehmen!"
Aber  dies ist nur möglich, wenn wir  jederzeit bereit sind, auch die  kleinste Errungenschaft gegen jeden  reaktionären Angriff zu  verteidigen, und indem wir unermüdlich dafür  wirken, in den Massen das  Verständnis für die unbedingte Notwendigkeit  bestimmter Rechte und  Freiheiten wachzurufen. Denn nur dies allein ist  imstande, sie für die  Wahrnehmung und Verteidigung ihrer Rechte zu  veranlassen. Dies aber  geschieht nicht in den Parlamenten, dazu sind in  erster Linie die  wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft  berufen, die ihr  gleichzeitig als Bollwerk dienen müssen, hinter dem sie  ihren  Forderungen Geltung verschaffen kann.
Politische Rechte  und  Freiheiten deshalb für die Arbeiterklasse als nebensächlich und   bedeutungslos zu bezeichnen, weil dieselben von einer Verfassung   gesetzlich gewährleistet werden, wäre ebenso töricht, als wenn man eine   Verbesserung der Arbeitsbedingungen nur deshalb ablehnen wollte, weil   dieselbe von den Unternehmern offiziell anerkannt und bestätigt wurde.
Nicht   darauf kommt es an, daß Regierungen sich entschlossen haben, dem Volke   gewisse Rechte zu gewährleisten, sondern darauf, weshalb sie sich   entschließen mußten, dieselben zu gewährleisten! Hier liegt des Pudels   Kern. Wer diesen Zusammenhang der Dinge nicht begreift, der wird auch   nie imstande sein, ein klares Urteil über diese Frage zu fällen, dem mag   es allerdings vorkommen, daß von der Kirchturmspitze des „reinen   Prinzips“ betrachtet, diese Dinge für die Arbeiter keinen Wert haben.
Es   ist eine durchaus natürliche Erscheinung, daß, wenn ein Mensch  zwischen  zwei Übeln zu entscheiden hat, er das geringere wählt. Diese  Maxime hat  auch Geltung für das politische und soziale Leben. Wenn wir  zwischen  Dingen zu entscheiden haben, welche der Erfüllung unserer  innersten  Wünsche noch so ferne stehen, so bevorzugen wir trotz alledem  die Sache,  die uns relativ am besten erscheint und uns die größten  Vorteile  gewährt. Im politischen und sozialen Leben nennt man das  „Stellung  nehmen“. Und weil wir nun einmal in der heutigen Gesellschaft  leben,  ohne an dieser Tatsache etwas ändern zu können, so sind auch  wir  gezwungen, Stellung zu nehmen zu den verschiedenen Fragen, welche  das  praktische Leben auf wirft. Tun wir das nicht, so dürfen wir uns  nicht  wundern, wenn andere uns keinerlei Bedeutung beimessen und ohne  unser  Zutun die Rechnung machen. Eine solche Rolle aber wäre gerade für   Revolutionäre die blamabelste von allen.
Wenn wir also die Wahl   zu treffen haben zwischen acht Stunden Arbeitszeit und zehn Stunden   Arbeit, zwischen einer besseren oder einer schlechteren Entlohnung für   unsere Arbeitskraft, so entscheiden wir uns natürlich für die acht   Stunden und den besten Lohn. Wohl wissen wir, daß damit an der Existenz   der Lohnsklaverei nichts geändert wird, der wir auch weiterhin   unterworfen sind. Aber wir haben unsere Entscheidung unter der Erwägung   getroffen, daß zwei Stunden weniger Sklaverei und eine Entlohnung, die   uns die Möglichkeit gibt, größere Bedürfnisse zu befriedigen, eine   Errungenschaft sind, die kein vernünftiger Mensch unterschätzen wird.   Außerdem sind wir der Meinung, daß wenn schon eine Verbesserung der   Arbeitsverhältnisse uns den Sozialismus nicht bringen kann, eine   Verschlechterung derselben oder stumpfe Gleichgültigkeit den gegebenen   Verhältnissen gegenüber ihn uns sicher nicht bringen werden. Ein Mensch,   der bereit ist, für seines Lebens Notdurft zu kämpfen, wird sich auch   einsetzen, wenn es sich einmal um seine endgültige Befreiung handeln   wird, ein Mensch aber, dem seine Lebenshaltung gleichgültig ist, ist   weder für den Kampf des Alltags noch für das Ringen ums Ganze zu   gebrauchen.
Und wenn wir vor die Wahl gestellt werden, zwischen   der Möglichkeit eines diktatorischen oder faschistischen   Regierungssystems und einem bürgerlichen Verfassungsstaate zu   entscheiden, so ziehen wir den letzteren unbedingt vor. Und indem wir   dies tun, geben wir uns nicht der geringsten Täuschung hin. Wir wissen   ganz gut, daß unser Entscheid uns nicht vom Joche der staatlichen   Bevormundung noch von der Tyrannei der bürgerlichen Gesetzgebung   befreien wird. Aber wir wissen auch, daß es ein Unterschied ist, ob wir   gezwungen sind, unter einem unverhülltem Gewaltregime zu leben, wo  jedes  freie Wort erdrosselt, alle in zahllosen Kämpfen errungenen  Rechte  vernichtet, jede Betätigung für die Interessen der Unterdrückten  im  Keime erstickt werden und unsere menschliche Würde fortgesetzt mit  Füßen  getreten wird, oder ob wir unter einem politischen System leben,  wo ein  Ausdruck der Meinung in Wort und Schrift, die Möglichkeit, uns  zu  organisieren und eine gewisse Betätigungsfreiheit dem Einzelnen  gewahrt  ist, die ihm einen mehr oder weniger breiten Spielraum für die   Wahrnehmung und Verteidigung seiner gesellschaftlichen Interessen  geben.
Es  war diese Erwägung, welche einen Most veranlaßte, der  Republik über die  Säbeldiktatur des Kaiserreichs den Vorzug zu geben,  die Bakunin  seinerzeit den Sieg der französischen Republikaner über die   monarchistische Reaktion begrüßen ließ und die erst vor kurzem unseren   alten Freund Malatesta in einem ausgezeichneten Artikel, „Diktatur und   Konstitution“ betitelt, dieselben Schlüsse ziehen ließ. Und das ist  ganz  natürlich, denn einen anderen Standpunkt in dieser Frage  vertreten,  hieße ja der Reaktion direkt in die Hände arbeiten. Die  Arbeiter aber  haben sicher kein Interesse daran, den Reaktionären ihr  Spiel zu  erleichtern, indem sie aus angeblichem Radikalismus errungene  Rechte  gleichgültig preisgeben. Hüten wir uns davor, solche Ideen unter  den  Massen zu verbreiten! Die Konsequenzen könnten furchtbar sein.  Richten  wir vielmehr unser ganzes Augenmerk darauf, daß unsere  Tätigkeit den  Schildträgern der Reaktion in keiner Weise Vorschub  leistet. Auch für  uns steht der schlimmste Feind rechts!
Wer  dies auch nur einen  Augenblick lang vergißt, der fördert, wenn auch  ungewollt, die  Bestrebungen der monarchistischen und militaristischen  Reaktion, die  stets auf der Lauer liegt, um auch den letzten  Errungenschaften der  Revolution den Garaus zu machen. Weit genug ist  der Zug nach rechts ja  bereits gegangen. Aber das Schlimmste, was der  deutschen Arbeiterklasse  passieren könnte, wäre ein vollständiger Sieg  jener stockreaktionären  Meute, welche ihr früher schon zum Fluche  wurde, und deren gewissenlose  und beutehungrige Politik nicht zum  wenigsten dazu beigetragen hat, jene  schauerliche Katastrophe zu  entfesseln, welche eine ganze Welt in Tod  und Verderben stürzte. Wenn  die deutsche Arbeiterschaft sich auch dieses  noch bieten ließe, ohne  ihr Veto einzulegen, so hätte sie allerdings  nichts Besseres verdient.
Die  Begriffsverwirrung innerhalb der  deutschen Arbeiterschaft hat schon zu  manchen verhängnisvollen Dingen  Anlaß gegeben. Haben wir es doch schon  erleben müssen, daß ein  eingefleischter Reaktionär wie Graf von  Reventlow in dem Zentralorgan  der Kommunistischen Partei eine Gastrolle  geben durfte, daß dieselbe  Partei mit monarchistischen Offizieren und  völkischen Nationalisten  liebäugelte und ein Bündnis mit ihnen in  Erwägung zog. Allerdings hat  man später behauptet, daß man die anderen  nur benutzen wollte, um sie  später zu düpieren. Das ist ein  gefährliches, ein frevelhaftes Spiel,  und wer sich als Revolutionär  darauf einläßt, der wird stets selbst der  Düpierte sein. Denn es ist  nur die Reaktion, die bei einem solchen  Handel gewinnen kann, während  es in den Reihen der Arbeiter nur  bodenlose Verwirrung und heilloses  Mißtrauen auslösen muß, das zuletzt  jede Bewegung vergiftet.
Hüten  wir uns davor, das Chaos noch  größer zu machen durch hohle Schlagworte  und mißverstandene Begriffe!  Wenn man freilich sich die zynischen  Worte Lenins zu eigen macht und die  Freiheit lediglich als  „bürgerliches Vorurteil“ auffaßt, dann  allerdings haben politische  Rechte und Freiheiten für die Arbeiter  keinerlei Bedeutung. Dann aber  haben auch all die zahllosen Kämpfe der  Vergangenheit, alle Aufstände  und Revolutionen, denen wir diese Rechte  verdanken, keinen Wert gehabt,  und wir können uns ruhig den Luxus  gestatten, alle Errungenschaften  vergangener Massenaktionen kampflos  preiszugeben, weil sie ihren Zweck  ja doch verfehlt haben. Um diese  Weisheit zu verkünden, wäre es  allerdings auch nicht nötig gewesen, den  Zarismus zu stürzen, denn auch  die Zensur Nikolai des Letzten hätte  sicher nichts dagegen einzuwenden  gehabt, wenn man die Freiheit ein  bürgerliches Vorurteil genannt  hätte. Das haben übrigens, wenn auch mit  anderen Worten, die großen  Theoretiker der Reaktion, de Maistre und  Bonald, auch getan, und die  Träger des alten Absolutismus waren ihnen  sehr dankbar dafür.
Wir  aber wollen uns von solchen billigen  Spitzfindigkeiten den gesunden  Sinn nicht trüben lassen. Wissen wir doch  nur zu gut, daß sich hinter  allen diesen Vorbehalten das Prinzip der  Reaktion verbirgt. Und gerade  deshalb stehen wir im Kampfe ums tägliche  Brot, gerade deshalb begrüßen  wir jede neue Errungenschaft der  revolutionären Arbeiterbewegung auf  allen Gebieten des wirtschaftlichen,  politischen und sozialen Lebens,  gerade deshalb sind wir stets bereit,  gewonnene Positionen gegen die  Angriffe unserer Gegner zu verteidigen.  Denn noch einmal sei es gesagt:  Nur im Kampfe wird uns das Recht! Aus  dem täglichen Ringen um die  Notdurft des Lebens erwächst uns das  Flammenzeichen einer neuen Zeit,  das unserer Sehnsucht Flügel gibt. Und  dieses Zeichen wird uns  Wegweiser sein, bis daß die Zeit sich erfüllen  wird, wo jede Form der  Ausbeutung, jedes System der Herrschaft in  Trümmer fallen wird, um  Platz zu machen einer Welt der Freiheit, der  Gleichheit und der  Solidarität.
Originaltext: Rudolf  Rocker - Der Kampf ums  tägliche Brot, Verlag Freie Gesellschaft, 2.  Ausgabe Frankfurt 1975.  Die Erstausgabe der Broschüre erschien in den  20er-Jahren im Verlag  „Der Syndikalist“, Berlin, ohne Jahresangabe.
Gescannt von anarchismus.at

 
  
  
  
  
  
  
 

