Rudolf Rocker - Das Ende Gustav Landauers

Es war in jener blutigen Woche, dass auch Gustav Landauer seinen Mördern zum Opfer fiel, obgleich es allgemein bekannt war, dass er nach dem Sturz der kurzlebigen ersten Räterepublik zu den weiteren Ereignissen keine Beziehungen mehr hatte. Wie er der kommunistischen Diktatur gegenüberstand, geht aus dem aufgefundenen Entwurf eines Schreibens hervor, das vom 16. April datiert und an den neuen Aktionsausschuss gerichtet war. Man liest dort unter anderem:

„Inzwischen habe ich sie am Werke gesehen, habe Ihre Aufklärung, Ihre Art den Kampf zu führen, kennengelernt. Ich habe gesehen, wie im Gegensatz zu dem, was sie Schein-Räte-Republik nennen, Ihre Wirklichkeit aussieht. Ich verstehe unter dem Kampf, der Zustände schaffen will, die jedem Menschen gestatten, an den Gütern der Erde und der Kultur teilzunehmen, etwas anderes als Sie. Der Sozialismus, der sich verwirklicht, macht sofort alle schöpferischen Kräfte lebendig; in Ihrem Werke aber sehe ich, dass Sie auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiet, ich beklage es, sehen zu müssen, sich nicht darauf verstehen.– Es liegt mir fern, das schwere Werk der Verteidigung, das Sie führen, im geringsten zu stören. Aber ich beklage aufs schmerzlichste, dass es nur noch zum geringsten Teil mein Werk, ein Werk der Wärme und des Aufschwungs, der Kultur und der Wiedergeburt ist, das jetzt verteidigt wird.“

Im Gegensatz zu Erich Mühsam, der den Kommunisten damals noch volles Vertrauen entgegenbrachte und es gar nicht fassen konnte, dass die Partei die Beteiligung an der ersten Räterepublik schroff ablehnte, hatte Landauer den reaktionären Kern der kommunistischen Bewegung von Anfang an erkannt und sie als verspätetes Jakobinertum im neuen Gewande richtig beurteilt. Nach dem Ende der ersten Räterepublik, der er sein reiches Wissen und Können rückhaltlos zur Verfügung gestellt hatte, lebte er im Hause der Witwe seines Freundes Kurt Eisner, wo er am ersten Mai nachmittags verhaftet wurde. Einige seiner intimen Freunde hatten ihm schon einige Tage vorher geraten, sich in Sicherheit zu bringen, als er sich noch leicht retten konnte. Doch er hatte alle Vorstellungen in den Wind geschlagen und blieb. Man brachte ihn zunächst mit anderen Gefangenen auf einem Lastwagen nach dem Amtsgefängnis in Starnberg. Von dort sollte er mit einigen anderen am nächsten Tage nach Stadelheim überführt werden. Doch auf dem Wege dahin wurde er von entmenschten Landsknechten auf die Anstiftung ihrer Offiziere in furchtbarer Weise misshandelt. Einer dieser Mordbuben, Freiherr von Gagern, schlug ihm mit der umgekehrten Reitpeitsche über den Kopf und gab damit das Signal zur Ermordung des wehrlosen Opfers. Ein Augenzeuge berichtete später, dass Landauer unter Aufwand seiner letzten Kräfte seinen Mördern zugerufen habe: „Erschlagt mich doch! Dass Ihr Menschen seid!“ Man trampelte den unglücklichen Mann buchstäblich zu Tode. Als er trotz alledem noch schwache Lebenszeichen von sich gab, schoss ihm einer seiner herzlosen Peiniger eine Kugel hinter das Ohr.

Das war das schauerliche Ende Gustav Landauers. Mit ihm ging einer der geistvollsten und hochsinnigsten Männer Deutschlands dahin. Von allen ruchlosen Verbrechen jener blutigen Tage war die Ermordung Landauers vielleicht das grausigste. Dass ein Mann von seiner geistigen Größe und seinen außergewöhnlichen Charakteranlagen den Mörderscharen eines geistlosen Tropfes wie Noske zum Opfer fallen musste, ist geradezu symbolisch und zeigt mit grausamer Klarheit, weshalb die Deutsche Revolution später mit dem Dritten Reich ihren schauerlichen Abschluss finden sollte.

Landauer war einer der wenigen hervorragenden Geister in Deutschland, die der Krieg nicht irre machen konnte, den er lange vorausgesehen, und von dem er überzeugt war, dass er in die Revolution ausmünden musste. Gerade weil Deutschland den Krieg verloren hatte, deshalb glaubte er mit der ganzen Inbrunst seines grossen Herzens, dass nun die Zeit der Umkehr angebrochen, die grosse Wiedergeburt, wenn die Kräfte, die bisher dem Moloch der Zerstörung dienten, sich nunmehr zum schöpferischen Werk eines neuen sozialen und kulturellen Aufbaus zusammenfinden würden, um die Menschheit auf neuen Wegen neuen Zielen entgegenzuführen. In seinem bereits 1907 erschienenen funkensprühenden Büchlein Die Revolution, das heute wie das Mahnwort eines Propheten anmutet, hatte er die ganze innere Hohlheit und Unkultur der Zeit mit ihrer toten Dogmatik und ihren überlieferten Denkformen unbarmherzig zerpflückt und der Revolution machtvoll das Wort gesprochen. Denn die Revolution war dem Denker und Seher Landauer kein Mittel zur Befriedigung persönlicher Machtbedürfnisse, sondern der kommende Frühling, die brausende, unfassbare Urkraft, die aus dem Chaos neue Formen des Daseins löst, der Geist, der wieder über die Menschen kommen muss, um sie aus dem Sumpfe geistiger Verwesung und totgelaufener Begriffe zu befreien, die von keinem Hauch des Lebens mehr umfächelt werden.

Als dann nach einem vier Jahre langem sinnlosen Völkermorden die Revolution endlich kam, war Landauer einer der wenigen, die damals wirklich wussten, was sie wollten. Er eilte nach München, weil ihm dort die Möglichkeiten einer freien Entwicklung am besten gegeben schienen.

Und da auch dort die meisten kaum ahnten, was in dieser Feuerseele vorging, so entwickelte er ihnen in grossen eindringlichen Worten die wahre Aufgabe der Revolution, – die föderative Vereinigung der Gruppen, Gemeinden und Völker zum grossen Bunde einer kommenden sozialistischen Kultur, deren Fundamente sie selber legen sollten.

Gerade weil es Landauer vor allem darauf ankam, etwas Neues zu schaffen, das auf den alten ausgetretenen Wegen nie erreicht werden konnte, wurde ihm der ursprüngliche Sinn des Rätegedankens zum Inbegriff eines freiheitlichen Sozialismus, der unmittelbar aus dem Schosse des werktätigen Volkes emporwächst und für jede schöpferische Betätigung Verwendung findet. Er hatte erkannt, was die meisten damaligen Anhänger der Räteorganisatlon in Deutschland und anderswo nie erfasst oder grausam missverstanden hatten; dass eine Erneuerung des geistigen und wirtschaftlichen Lebens nur aus den Stätten menschlicher Arbeit und einem Bunde freier Gemeinden hervorgehen kann und gerade deshalb keinen äußeren Zwang verträgt, dessen Träger stets danach trachten, die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zu untergraben und alles soziale Geschehen auf bestimmte Normen festzulegen. Er wusste, dass gerade die Diktatur für die Erreichung eines neuen menschenwürdigen Zusammenlebens das allerungeeignetste Mittel war und erkannte damals schon, dass weil in Russland die Diktatur siegte, es dort keine Sowjets mehr gibt und das, was sich dort heute noch mit diesem Namen brüstet, nur ein grausames Zerrbild eines an sich fruchtbaren Gedankens ist, der durch die Diktatur entmannt und zum toten Schlagwort erniedrigt wurde.

In seinem würdigen und vornehmen Schreiben, An die Herren Referenten und Mithilfsarbeiter im bisherigen Ministerium, das einige Tage nach der Ausrufung der ersten Räterepublik geschrieben wurde, entwickelte Landauer mit grosser Eindringlichkeit seine Auffassung einer politischen und sozialen Dezentralisation als notwendige Vorbedingung eines neuen Aufbaus und schloss mit den bedeutsamen Worten:

„Zu einer solchen Durchführung und Umgestaltung an Haupt und Gliedern ist der Weg der parlamentarischen Gesetzgebung undenkbar: darum sind wir in einer Revolution, ihr sind wir es schuldig, da die Menschheit von Zeit zu Zeit einen Ruck braucht, revolutionär zu handeln. Unter Räterepublik ist nichts anders zu verstehen, als dass das, was im Geiste lebt und nach Verwirklichung drängt, nach irgendwelcher Möglichkeit durchgeführt wird. Wenn man uns in unsrer Arbeit nicht stört, so bedeutet das keine Gewalttätigkeit; nur die Gewalt des Geistes wird aus Hirn und Herzen in die Hand und aus den Händen in die Einrichtungen der Außenwelt hineingehen.“

Man hat Landauer oft einen Träumer genannt und das war er, wie jeder Mensch ein Träumer ist, der rastlos nach höheren Ausblicken des Lebens sucht, denn nur aus Träumen werden neue Wirklichkeiten geboren. Ein Kulturmensch in des Wortes umfassendster Bedeutung, war ihm der Sozialismus keine gewöhnliche Messer- und Gabelfrage, sondern das Ergebnis eines neuen Werdens auf allen Gebieten menschlicher Betätigung. Gerade die Größe seiner Auffassung brachte es mit sich, dass er den Dingen der Wirklichkeit nicht weltfremd gegenüberstand, sondern stets bestrebt war, sie in ihren inneren Zusammenhängen ahnend zu erfassen. Er kannte die Verhältnisse in Deutschland zu gut, um sich überschwenglichen Hoffnungen hinzugeben. Er wusste, zu genau, dass erst ein neuer Geist über das Volk kommen musste, um es zu einem neuen Aufbau zu befähigen und setzte seinen ganzen Geist, seine ganze Seele ein, um diesen Geist zu erwecken, wer ihn anders beurteilt, hat ihn nie verstanden, denn er gehörte zu denen, die so handeln müssen, weil sie nicht anders können. Er hatte einst in einem herrlichen Aufsatz zum Todestag Bakunins all seinem Hoffen und Sehnen, allem, was er im tiefsten fühlte, einen prächtigen Ausdruck gegeben:

„Aber muss man denn an die Erfüllung dessen glauben, wofür man kämpft? Ist es denn nötig, hoffnungsfreudig zu sein, um tapfer zu sein? Muss man das Ergebnis seines Schaffens erleben wollen, um zu schaffen? Das, meine ich, sollte uns dieser Moment der Erinnerung an Bakunin lehren, dieses Eine: Man hat entweder einen obersten Trieb oder man hat ihn nicht. In wem der Trieb, volle und ganze Menschenkultur zu schaffen größer ist als die Lust an persönlichem Wohlleben, als die Trägheit und Bequemlichkeit, der wird diesen Trieb über sein Leben bestimmen und walten lassen, was auch der Verstand und die Beobachtung der jetzt lebenden Menschen dazu sagen mag. Das also bedeutet uns Bakunin, dieses ewig Alte und ewig Neue: Das Leben an eine Idee setzen.“

Deshalb ist auch die Frage, weshalb ein Mensch mit dem Geiste Landauers sich auf ein so unsicheres Unternehmen wie die Münchner Räterepublik einlassen konnte, durchaus hinfällig. Philister werden das nie verstehen. Doch ein Mann, der so fühlte und dachte wie er, konnte sich in jener sturmbewegten Zeit nicht mit der Rolle des kühlen Beobachters begnügen. Er musste handelnd mit eingreifen, umsomehr, da er so viel zu geben hatte. Wie gut er die ganze Lage beurteilte, geht aus den wenigen Worten hervor, die er am Entstehungstage der Räterepublik an seinen Freund Fritz Mauthner richtete:

„Ich bin nun Beauftragter für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft, Künste und noch einiges. Lässt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich, etwas zu leisten; aber leicht möglich, dass es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum.“ – Ein Traum blieb es allerdings, ein Traum, der ihm das Leben kostete, aber den er träumen musste, was immer der Preis sein mochte. Mit Gustav Landauer hatte der Anarchismus einen seiner hervorragendsten Köpfe und Deutschland einen seiner kühnsten und feingeistigsten Denker verloren, dessen vielseitigen Wirken und Streben mit dem Besten und Unvergänglichsten, das die geistige Kultur seines Heimatlandes im Laufe der Jahrhunderte hervorbrachte, aufs innigste verwachsen war. Er war sowohl als Mensch wie als Denker einzig in seiner Art. Was er erkannte, das wollte er, und was er wollte, das versuchte er in die Tat umzusetzen. Deshalb blieb er der ewige Sucher, der stets im Werden begriffen war und jeder Versuchung auswich, den Geist auf feste Normen und Systeme festzulegen. Als er 1908 sein Blatt, Der Sozialist, wieder neu ins Leben rief, eine der vortrefflichsten Zeitschriften, die unsere Bewegung je besessen hat, erklärte er in seinen Richtlinien:

„Der Sozialist ist ein Blatt der Gärung, der Gestaltung das Lebens. In ihm wird nicht von ewig Gleichbleibenden mit ermüdender Routine stets das ewig Gestrige gesagt. Leben heisst: sein bestes Wesen immer stärker, immer reiner, immer neu in sich befestigen und ans Licht bringen.“

Trotz seiner außerordentlichen geistigen Fähigkeiten und seiner philosophischen Schulung war er kein kalter Verstandsmensch, der blutlosen Gedankenbildern nachjagte und darüber den Menschen und das Leben vergass. Er gehörte vielmehr der kleinen auserwählten Schar an, die mit dem Herzen denken und dem Hirne fühlen. Deshalb vermochte er auch den kleinsten Dingen einen tieferen Sinn abzugewinnen und im Kleinen das Grosse zu erkennen. Das war seine Stärke, die ihm zum geschworenen Feind alles Philistertums machte, das ohne feste Normen und ausgetretene Gedankenwege nicht gedeihen kann. Und da er den Philistern niemals die kleinsten Zugeständnisse machte, auch nicht, wenn sie sich als Sozialisten oder gar als Anarchisten ausgaben, – und an solchen fehlte es in Deutschland nie – so stand er oft allein im Felde und ging seinen eigenen Weg, unbekümmert um das Urteil der Menge.

Als Landauer 1899 den Sozialist eingehen lassen musste, weil die Mehrheit der deutschen Genossen seine Haltung nicht billigte oder ihm geistig nicht zu folgen vermochte, war dies für ihn ein schwerer Schlag, denn er hatte für das Blatt sein Bestes getan, doch entmutigt wurde er auch jetzt nicht. Lange Jahre wirkte er von nun an im engeren Kreise und beschäftigte sich hauptsächlich mit rastlosem Studium und literarischen Arbeiten. Es war in jenen Jahren, dass er sich eingehend mit den Werken Proudhons befasste. In den zahlreichen Schriften des französischen Denkers, der seiner Zeit so weit vorausgeeilt war, fand sein prophetischer Geist mächtige Anregung und ungeahnte Ausblicke für ein neues Beginnen. Das zeigte sich deutlich, als er 1908 den Sozialistischen Bund ins Leben rief, dessen Satzungen er in zwölf Leitsätzen niederlegte. Der Bund sollte eine Zusammenwirkung praktischer Versuche und sozialistischer Gedankenarbeit einleiten. Ein Anfang sollte gemacht werden, damit die Menschen erkennen möchten, dass die Verwirklichung des Sozialismus weder an eine bestimmte Zeit noch auf eine gegebene Form der Produktionsverhältnisse angewiesen war; dass seine Stunde vielmehr immer da war, so lange sich Menschen zusammenfinden, die ernstlich bestrebt sind, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen, Menschen, die bereit sind und den Willen haben, selbst Geschichte zu machen, anstatt sich willenlos vom Strom der Ereignisse treiben zu lassen.

Die Gründung des Bundes wurde durch zwei Vorträge Landauers eingeleitet, die später in seinem bekannten Aufruf zum Sozialismus gedruckt wurden, der stets ein klassisches Erzeugnis der sozialistischen Literatur bleiben wird. Das Werkchen war eine natürliche Fortsetzung seiner Schrift Die Revolution, die ihm vier Jahre vorausging. Es war eine glänzende Abrechnung mit den wirtschafts-fatalistischen Auffassungen des Historischen Materialismus, dessen Priester er mit Skorpionen züchtigte. Denn Landauer wusste, dass die Lehre des Marxismus dem Sozialismus dieselbe Gewalt angetan hatte wie die Dogmen der Kirche dem Christentum.

Deshalb erklang sein Ruf:

„Hie Marxismus – hie Sozialismus! Marxismus – die Geistlosigkeit, die papierne Blüte am geliebten Dornstrauch des Kapitalismus. Sozialismus – das Neue, das sich gegen die Verwesung; die Kultur, die sich gegen die Vereinigung von Ungeist, Not und Gewalt, gegen den modernen Staat und den modernen Kapitalismus erhebt.“

Das prächtige Vorwort, das er der zweiten Auflage seines Werkchens vorausschickte, die wenige Wochen nach dem Ausbruch der Revolution erschien, klingt in den Schluss aus, der fast wie eine Ahnung des Geschickes anmutet, das ihn vier Monate später ereilen sollte:

„Was liegt am Leben? Wir sterben bald, wir sterben alle, wir leben gar nicht. Nichts lebt, als was wir aus uns machen, was wir mit uns beginnen; die Schöpfung lebt; das Geschöpf nicht; nur der Schöpfer. Nichts lebt als die Tat ehrlicher Hände und das Walten reinen wahrhaften Geistes.“

Die Persönlichkeit Landauers fand in seinem umfangreichen Briefwechsel und in seinen zahllosen Aufsätzen, von den viele später den Werken Rechenschaft, Der werdende Mensch und Beginnen einverleibt wurden, ihren vollendetsten Ausdruck, denn bei ihm deckt sich die Tiefe der Gedanken mit der Gestaltung der Sprache, wie es selten der Fall ist. Das kurze, aber desto gehaltreichere Vorwort, das er seinem vortrefflichen Sammelwerke, Briefe aus der Französischen Revolution vorausstellte, und die zahlreichen Anmerkungen, die er jenen Briefen erklärend beifügte, geben dem Leser einen tieferen Einblick in die Geschehnisse jener mächtigen Zeit, „von der wir nicht wissen, wann sie wiederkommen wird“, wie manches grosse Geschichtswerk, das von der Parteien Hass und Gunst entstellt ist. Denn hier fühlen wir die verborgenen Stimmungen der handelnden, misshandelten und beobachtenden Personen jener dramatischen Epoche – mit einem Wort die Seele der grossen Revolution, wie sie Landauer erschaute.

Wer Landauer als Philosophen kennen lernen will, der nehme das inhaltsreiche Büchlein Skepsis und Mystik zur Hand, das durch Fritz Mauthners grosses sprachkritisches Werk angeregt wurde. Man konnte wohl kaum in 154 Seiten eine größere Fülle tiefschürfender Gedanken zusammenballen, wie sie hier über das ewig neue und ewig ungelöste Problem der menschlichen Erkenntnis und ihre Grenzen geboten werden. Die Barbaren des Dritten Reiches, die ihm sogar im Grabe keine Ruhe liessen, haben Landauer einen landfremden Juden gescholten, allein dieser Jude, der nebenbei bemerkt in Karlsruhe geboren wurde, war gerade dort in Deutschland am besten zu Hause, wo jene hirnverbrannten Tröpfe ewig Fremde bleiben mussten: in der grossen Schatzkammer der deutschen Literatur und Kunst, in dem grossen Tempel, den die edelsten und auserlesensten Geister Deutschlands im Laufe der Jahrhunderte aufgebaut hatten, damit später die ruchlosen Hände einer geistlosen Horde sadistischer Mordbrenner die Brandfackel in dieses Heiligtum eines ganzen Volkes schleudern konnten. Seine geistvollen Vorträge und Abhandlungen über deutsche Literatur legen rühmliches Zeugnis dafür ab, wie innig dieser landfremde Jude mit der Gedankenwelt Lessings, Herders, Goethes, Schillers, Jean Pauls, Hölderlins und so vieler anderer im tiefsten verwachsen war. Seine herrlichen Vorträge über Shakespeare, die Martin Buber nach seinem Tode in zwei grossen Bänden herausbrachte, obgleich es Landauer nicht vergönnt war, sie zu beenden, bezeugen, was Deutschland in ihm verloren hatte, denn er hatte noch so viel zu geben und war erst neunundvierzig Jahre, als er von Mörderhand gefällt wurde.

Ich werde nie den furchtbaren Eindruck vergessen, als ich am 3. Mai in ein paar dürren Worten die Nachricht von seinem Tode in der Presse las. Ich sass gerade bei der Arbeit, als Wilhelm Werner mit einer Zeitung in der Hand ins Zimmer trat. Er konnte kein Wort hervorbringen und zeigte nur stumm auf die kurze schicksalschwere Mitteilung. Ich fühlte, wie mir plötzlich alles Blut aus dem Herzen wich. Kaum dass ich es fassen konnte, dass dieses grosse von reinster Menschenliebe überströmende Herz nicht mehr schlagen sollte. Die rohen Kolbenhiebe einiger vertierter Gesellen hatten achtlos ein Gefäß zertrümmert, in dem ein so edler Geist wohnte, der die Not der Zeiten so tief erfasst hatte.

Auch Wilhelm Werner musste Ähnliches empfunden haben, denn ich fühlte nur zu gut, wie schwer ihn dieser Schlag getroffen hatte. Er stand ja dem Verblichenen viel näher als ich. Als Landauer 1895 die Schriftleitung des Sozialist übernahm, hatte ich Deutschland bereits verlassen, während Werner zusammen mit ihm jene stürmischen Jahre durchkämpft hatte und ihm auch als Mensch sehr nah gekommen war. Ich hatte Landauer 1896 zur Zeit des Internationalen Sozialistenkongresses in London zum erstenmal persönlich kennen gelernt, doch unsere Beziehungen waren damals nur sehr flüchtig, da er bald nach dem Kongress nach Berlin zurückfahren musste. Erst im Spätjahr 1901 sah ich ihn wieder und wurde dann näher mit ihm bekannt. Er hatte sich um diese Zeit mit seiner Frau, der bekannten Dichterin Hedwig Lachmann studienhalber nach England begeben und wohnte wohl ungefähr neun Monate in Bromley in nächster Nähe Kropotkins, dessen drei Werke Gegenseitige Hilfe, Landwirtschaft, Industrie und Handwerk und Die Französische Revolution er so meisterhaft ins Deutsche übertragen hatte. Kropotkin hatte ihm von meiner Tätigkeit unter den jüdischen Arbeitern der Ostseite erzählt und da er sich lebhaft dafür interessierte, so kamen wir bald in nähere Berührung, obgleich er damals ziemlich zurückgezogen lebte und außer den Kropotkins, Wilhelm Werner, Tárrida del Mármol und einigen deutschen Kameraden wie Karl Biller und Hippolyte Havel nur wenige Verbindungen unterhielt. Es war in Kropotkins Haus, wo ich ihn kurz vor seiner Abreise nach Deutschland im Mai oder Juni 1902 das letzte Mal gesehen hatte. Ich fuhr damals mit Wilhelm Werner nach Bromley, wo wir auch Tárrida, Tscherkesoff und noch einige anderen Freunde bei Kropotkin trafen. Das Gespräch drehte sich an jenem Nachmittag fast ausschließlich um den mächtigen Aufschwung der Bewegung in Spanien, von dem Tárrida viele interessante Einzelheiten zu berichten wusste, die Landauer eifrig in sein Notizbuch eintrug. Es war das letzte Mal, dass ich ihm begegnete.

Als ich endlich fast siebzehn Jahre später nach Deutschland zurückkam, lebte Landauer mit seinen Kindern in Krumbach, Schwaben, reiste aber bald darauf nach München, wo er vollständig von der revolutionären Bewegung in Anspruch genommen wurde. Es war in Krumbach, wo ihm ein Jahr vorher seine Frau durch eine tückische Krankheit entrissen wurde, was wohl der schwerste Schlag seines Lebens war, denn hier hatten sich zwei Menschen zusammengefunden, wie sie das Leben wohl kaum besser zusammenführen konnte. „Dass ich Hedwig Lachmann nicht bloß auf meine, sondern auch in ihrer Art gekannt habe, war mein Glück und wird nun mein Schicksal bleiben,“ schrieb er damals an Julius Bab, womit wohl alles gesagt war, was in seiner Seele vorging.

Es war mein sehnlichster Wunsch, Landauer nach so vielen Jahren wieder zu begegnen und aus seinem eigenen Munde zu hören, wie er die damalige Lage in Deutschland beurteilte; doch diese Hoffnung sollte sich leider nicht erfüllen. Als ich im Dezember 1920 das erstemal nach München kam, weilte er nicht mehr unter den Lebenden. Durch die Anregung der Anarchosyndikalistischen Vereinigung in München wurden mit grosser Opferwilligkeit unter der Arbeiterschaft die Mittel aufgetrieben, um ihm ein würdiges Denkmal zu stellen, das am 2. Mai 1925 auf dem Waldfriedhof enthüllt werden sollte. Der Genosse Alois Strich hatte mir im Namen der Kameraden eine Einladung geschickt, an dieser Feier teilzunehmen. Doch noch bevor ich die Reise antreten konnte, wurde die Kundgebung von der Polizei verboten. Erst vier oder fünf Monate später hatte ich die Gelegenheit, das Grab Landauers zu besuchen mit dem mächtigen primitiv zugehauenem Stein, der die schlichte Inschrift trug: 1870 Gustav Landauer 1919.

Über der Inschrift standen die Worte, die seinem Aufruf zum Sozialismus entnommen waren:

„Es gilt jetzt, noch Opfer anderer Art zu bringen, nicht heroische, sondern stille, unscheinbare Opfer, um für das rechte Leben ein Beispiel zu geben.“

Doch man gönnte dem Toten sogar im Grabe keine Ruhe. Als die braunen Horden des Dritten Reiches zur Herrschaft gelangten, zertrümmerten sie das Denkmal, das die liebevolle Solidarität der Arbeiter ihrem grossen Toten errichtet hatte und schickten die Gebeine Landauers in einem Sack an die Jüdische Gemeinde in München.

Aus: Gustav Landauer – Worte der Würdigung, Darmstadt, Verlag Die freie Gesellschaft [1951], S. 38-48.

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/01/29/rudolf-rocker-das-ende-gustav-landauers-1951/


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