Rudolf Rocker - Erste Begegnung mit jüdischen Anarchisten
Während ich eines wunderschönen Frühlingsabends mit meinem Freund Liderle über den großen Pariser Boulevard spazierte, von prächtigem und brodelndem Leben umschlungen, was auf mich stets eine bezaubernde Wirkung hatte, fragte mich mein Freund, ob ich nicht Lust hätte mit ihm ein Treffen jüdischer Anarchisten zu besuchen. Zuerst dachte ich er macht Spaß, doch als ich merkte, dass er es ernst meint, fragte ich ihn überrascht:
„Jüdische Anarchisten? Nicht etwa katholische oder protestantische Anarchisten?“ „Nein, Nein“, antwortete er mir, „es ist so wie ich es dir sage. Es handelt sich nicht um religiöse Juden, doch es sind Juden, die soviel mit Religion zu schaffen haben wie wir.“ „Na dann“, sagte ich zu ihm, „sind sie doch auch keine Juden mehr, genauso wenig wie wir Christen sind.“
Er erklärte mir, dass es sich um sogenannte Ostjuden aus Russland, Polen und Rumänien handelte, die eine eigene ethnische Gruppe bilden und die eine Sprache sprechen, die so ähnlich klingt wie Deutsch.
Ich wurde sehr neugierig, denn ich hatte zuvor noch nie etwas von einer solchen Gruppe Menschen gehört. Die Juden in Deutschland wurden wie Deutsche betrachtet, die sich von den anderen Deutschen nur durch ihren Glauben unterschieden. An allen anderen Aspekten des Lebens beteiligten sie sich genauso wie andere Deutsche auch. Unter meinen Bekannten und Freunden in Deutschland befanden sich keine Juden. Das kam daher, da die Freunde aus meiner Heimatstadt Mainz alle Arbeiter waren und die meisten Juden dort waren entweder kleine Händler oder gingen einem freien Beruf nach, so dass ich keine Beziehung zu ihnen hatte. Einmal hörte ich bei uns Leute über die Judenfrage reden, doch das waren Antisemiten und keine Juden.
In meiner Heimatstadt Mainz gab es keine antisemitische Bewegung, obwohl es eine bemerkenswerte Anzahl Juden dort gab. Die Beziehung zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung war friedlich und ich habe in meiner Jugend kein einziges Mal von einem Vorfall gehört, durch den sich Widerwille gegen Juden ausgedrückt hätte. Solche Differenzen gab es jedoch zwischen Katholiken und Protestanten in meiner Gegend. Sie entstanden beispielsweise als ein neuer protestantischer Pastor mit dem Namen Linker ankam, was zu scharfen Kommentaren in den lokalen Zeitschriften führte. Die Juden nahmen an den gleichen lokalen Ereignissen teil wie die christlichen Mitbürger und sie gehörten den gleichen Organisationen und Vereinen an.
Unter der städtischen Bevölkerung hat sich der Antisemitismus nicht bemerkbar gemacht, doch er hatte einen starken Einfluss auf die ländliche Bevölkerung, speziell im Gebiet Oberhessen, was zu jener Zeit eine Festung der antisemitischen Bewegung in Deutschland war. In Oberhessen gab es eine beträchtliche Anzahl verarmter Bauern, die schwer um ihre Existenz kämpfen mussten und die mit den dortigen Großgrundbesitzern nicht konkurrieren konnten. Der Viehhandel in jener Gegend lag seit Generationen in den Händen jüdischer Familien. Während des Mittelalter war es den Juden nicht gestattet sich in der Industrie zu beschäftigen oder eigenen Boden zu besitzen, deshalb hatte man für sie den Viehhandel reserviert, damit sie von etwas leben konnten. Dieser Handel wurde dann von Generation zu Generation weitergegeben, auch nachdem die alten Ghettogesetze abgeschafft wurden und die Juden die Gleichberechtigung mit den Deutschen zugesprochen bekamen. Aufgrund des Viehhandels kamen die Juden regelmäßig in Berührung mit den Bauern und oft waren sie der direkte Grund für die schlechte ökonomische Situation. Die Bauern wetterten gegen die Juden nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie in ihnen das Instrumente ihrer ökonomischen Ausbeutung sahen.
Und genau dort war es wo die antisemitische Propaganda aufkam und wo sie ihre größten Erfolge hatte. Der Bauer, der faktisch ein Opfer gewisser ökonomischer Prozesse war, deren tieferen Grund er nicht verstand, hat die Juden für jedes Unglück, das ihn traf, verantwortlich gemacht und er hat nicht verstanden, dass es im Grunde unwichtig ist, ob für seine Not nun Juden oder Christen verantwortlich sind.
Unsere ganzen sozialistische Aktivitäten unter der ländlichen Bevölkerung, die wir als junge Sozialisten verbreiteten, bestand darin den Bauern die objektive Situation zu erklären. Das war nicht einfach und manchmal sogar gefährlich, denn nicht selten wurden wir von gereizten Bauern mit Mistgabeln und Stöcken aus den Dörfern vertrieben. Die antisemitischen Redner befanden sich in einer besseren Lage als wir, da sie die Juden für alles Unglück und Leiden der Bauern verantwortlich machten, während wir versuchten sie mit den tieferen Gründen ihres Elends bekannt zu machen. Wenn man zu politisch unbedarften Menschen spricht, ist man stets in einer schwierigen Lage, denn es ist schwieriger jemanden zum Denken zu bewegen als zum blinden Fanatismus. Es genügte, uns als jemanden im Dienste der Juden zu beschuldigen, um die Bauern gegen uns aufzuhetzen. Im besten Fall qualifizierte man uns als unbewusste Helfer des Judaismus. In einer poetischen Ausgabe des Antisemitismus zu jener Zeit konnte man das folgende Lied kennenlernen:
Selbst die alles wollen stürzen,
Gehen blind in ihre Falle;
Ja, die Sozialistenschwärmer
Für ein Marx und ein Lassalle.
So wurde ich schon in jungen Jahren als „Diener der Juden“ bezeichnet, obwohl ich noch nicht einmal die Gelegenheit hatte Juden kennenzulernen. Die bekannten antisemetischen Redner aus jener Zeit waren durchtriebene Demagogen, die es gut verstanden die Ignoranz der Landbevölkerung auszunutzen, indem sie zu den Dorfleuten mit dem Versprechen der Erlösung kamen. Wie unverschämt ihr Auftreten war, beweist die Phrase, die der bekannte, antisemitische Anführer Lieberman von Sonnenberg in intimen Kreisen gebrauchte: „Meine hessischen Dorfleute sind geduldig wie Hunde und schmutzig wie Schweine.“ Die anderen Anführer, die Pikenbars und Bekels waren genauso. Den Mangel an Wissen haben sie durch unkontrollierte Hetze ersetzt und sie machten den Eindruck als seien sie immer gerecht. Das ekelerregendste an der absurden Hetze, welche die Massen anstachelte, war die Behauptung, dass die Juden alles Böse und jede Niederträchtigkeit verkörperten und dass den geistig zurückgebliebenen Bauern Glauben gemacht wurde, dass es auf der Welt eine spezielle Gruppe Menschen gibt, die darauf versessen ist die christlichen Mitmenschen zu demoralisieren und zu verderben.
Mit diesen persönlichen Erfahrungen war ich noch gespannter auf das Versprechen meines Freundes, das erste mal in meinem Leben die Bekanntschaft mit nicht-deutschen Juden zu machen, die auch noch Genossen der selben Ideologie waren wie ich. Ich nahm die Gelegenheit gerne an und wir gingen zum Boulevard Barbes, wo die jüdischen Anarchisten jeden Sonntag ihre Versammlung abzuhalten pflegten. Das Lokal befand sich im ersten Stock eines Kaffeehauses, der zu diesem Zweck angemietet war. Als wir dort ankamen, trafen wir auf 50 bis 60 Männer und Frauen, die um kleine Tische herumsaßen und sich lebhaft unterhielten. Einige lasen Zeitungen mit hebräischen Buchstaben. Das waren, wie ich später erfuhr, anarchistische Ausgaben des Arbeter fraynd, die damals in London herausgegeben wurde und der Fraye arbeter shtime, die in New York herausgegeben wurde.
Die eigentliche Versammlung hatte noch nicht begonnen und Niderle, den man in den Kreisen schon kannte, machte mich mit einigen seiner jüdischen Freunde bekannt, die mich herzlich begrüßten. In den Kreisen gab es nur eine kleine Anzahl Personen, die aussahen wie die Juden aus meiner Gegend. Die meisten von ihnen hätte ich nicht als Juden erkannt, wenn ich ihnen auf der Straße begegnet wäre. Wenn man mir gesagt hätte es wären Italiener, Griechen oder Spanier, dann hätte ich das geglaubt. Einige von ihnen hätte man für Deutsche oder Skandinavier halten können. Einige von ihnen hatten ausgesprochen mongolische Züge. Ich hatte mich damals noch nicht mit den sogenannten Rassenproblemen beschäftigt, aber schon damals war mir klar, dass so wie bei allen anderen Völkern auch, die Juden keine einheitliche Rasse sind.
Was mich mehr wie alles andere überraschte war die Sprache, die man dort redete. Es klang in meinen Ohren wie ein unbekannter deutscher Dialekt, den ich noch nie zuvor gehört hatte und der mit Wörtern durchdrungen war, die sich für mich wie unbekannte Fremdwörter anhörten. Mit einer gewissen Aufmerksamkeit konnte ich verstehen, was geredet wurde und sie konnten auch mich verstehen. Danach fiel mir auf, dass ich beim Zuhören einige derjenigen die redeten leichter verstand wie andere und das brachte mich auf den Gedanken, dass auch die Sprache nicht einheitlich ist und dass es Dialekte gibt wie in anderen Sprachen. Doch als der Redner dieses Abends, mein späterer Freund Lifshits, das Wort an sich nahm, wurde ich erneut überrascht: einige Stellen habe ich sehr gut verstanden, doch auf einmal kamen ganze Sätze und Ausdrücke in einer mir unverständlichen Sprache. Zum Glück verstand mein Freund Niderle diese Ausdrücke. Erst später wurde mir das Rätsel klar. Niderle war ein Tscheche, der nur sehr schlecht die deutsche Sprache beherrschte. Lifshits redete damals in einem Gemisch aus Jiddisch und Russisch. Und auch einige der dortigen Zuhörer verstanden ihn sehr schwer, denn sie waren aus Rumänien, Palästina oder Ägypten und für sie war Russisch eine unverständliche Sprache. Aber Niderle, als Slawe, war teilweise mit dem russischen Vokabular vertraut, was für mich und andere ein verschlossenes Buch gewesen ist.
Später, als ich die jüdischen Genossen besser kennenlernte, erfuhr ich, dass die Pariser Gruppe von russisch-jüdischen Studenten gegründet worden war, die der Zufall nach Frankreich geführt hatte. In der Anfangszeit der Gruppe redete man dort nur Russisch. Doch als die Gruppe größer wurde und an Einfluss auf die jüdischen Arbeiter gewann, war man gezwungen die Referate und Debatten auf Jiddisch zu führen, damit die Besucher es besser verstehen. Für die Gründer der neuen Bewegung war das schwerer, denn die russische Sprache war ihnen vertrauter wie die Jiddische. Man darf nicht vergessen, dass die jiddische Sprache sich erst damals richtig zu entwickeln begann. Die Schwierigkeiten wurden mit der Zeit überwunden und die Gründer gewöhnten sich an die Sprache, die ihnen dann sehr nützlich war.
Von diesem Abend an wurde ich ein regelmäßiger Gast beim Treffen auf dem Boulevard Barbes und auf Bitten meiner neuen jüdischen Freunde hielt ich sehr oft Referate in deutscher Sprache. Da ich mich anstrengte beim Reden möglichst wenig schwierige Wörter zu benutzen und soweit wie möglich einfach zu sprechen, wurde ich gut verstanden und die Versammlungen waren gut besucht, denn zu den Referaten kamen auch deutsche Genossen. Ich wurde akzeptiert und zu einem nahen Freund der jüdischen Genossen, die geistig sehr aktiv gewesen sind und ich wurde zu einem bevorzugten Gast in ihrem Zuhause. So eröffnete sich für mich eine ganz neue Welt, die mir bis dahin völlig unbekannt gewesen ist.
Zwei Erscheinungen waren es, die damals auf mich den stärksten Eindruck machten. Die erste davon war, dass die Juden, die ich aus Deutschland kannte, zum Mittelstand gehörten. Sie waren kleine Händler, Mediziner, Advokaten, Journalisten, Techniker, usw. Es gab keinen einzigen Arbeiter unter ihnen. Sogar die Verkäufer und Angestellten, die in den Geschäften ihres Chefs angestellt waren, waren eine besondere Klasse Menschen, die keine besonderen Bezüge zur eigentlichen Arbeiterschaft hatten. Aber die Juden aus den östlichen Ländern, denen ich in Paris begegnete, waren alle, mit wenigen Ausnahmen Arbeiter, die ihren Unterhalt als Schneider, Schuster, Schriftsetzer, Tischler oder Uhrmacher verdienten. Selbst jene, die in Russland eine höheren Schule besucht hatten, übten in Paris ein Handwerk aus um zu überleben. Sie waren in keiner Weise anders wie die Arbeiter der anderen Völker und sie haben mit ihrem Beispiel bewiesen, dass das berühmte Vorurteil über den parasitären Charakter der Juden, das ich von den Anhängern des Antisemitismus so oft hörte, bloß eine lügnerische und falsche Behauptung ist. Die zweite Erscheinung, die auf mich einen starken Eindruck machte, war das Benehmen der Frauen in diesen Kreisen. In der Gegend aus der ich komme, habe ich kein einziges Mal Frauen gesehen, die sich politisch betätigten oder einer revolutionären Bewegung angehörten. Die politischen Versammlungen wurden nur von Männern besucht. An den Frauen hatten sie kein Interesse und sie haben nicht versucht auf die Frauen Einfluss zu nehmen. Es stimmt, dass es in Berlin, Hamburg und in anderen größeren Städten eine bürgerliche und sogar sozialistische Frauenbewegung gab, doch in den kleineren Städten und auf dem Dorf hatten sie keinen merkbaren Einfluss. In der Arbeiterklasse oder bei den verarmten Bauern war es damals sehr schwer einer Frau zu begegnen mit der man sich über allgemeine oder gesellschaftliche Fragen unterhalten konnte.
Aber dort, in den Kreisen meiner neuen jüdischen Freunde in Paris, lag die Sache anders. Zu den Versammlungen kamen Frauen und Männer. Die Frauen beteiligten sich lebendig an den Debatten und lasen die revolutionäre Literatur mit der gleichen Hingabe wie die Männer. Alle Beziehungen zwischen den Männern und Frauen waren so frei und natürlich, wie ich es in Deutschland kein Mal gesehen habe. Doch dort konnte man sich mit den Frauen über alle möglichen Angelegenheiten unterhalten und vergaß dabei, dass es sich um eine Person vom anderen Geschlecht handelte. Sie verhielten sich auch nicht wie die Suffragetten jener Zeit, die glaubten, dass die Befreiung des Geschlechts dadurch erreicht werden kann, indem sie sich wie Männer verhalten. Nein, die Frauen dort waren sehr weiblich und sogar sehr mütterlich. Ihre Freiheit war sicherlich eine innerliche und hatte ihren Ursprung im Bewusstsein von der menschlichen Würde und der Gleichberechtigung von allem mit menschlichen Antlitz. Einige von ihnen, besonders jene, die sich bereits in der geheimen Bewegung in Russland beteiligt hatten, wiesen gewisse puritanischen Eigenschaften auf, was an die Frauen erinnerte, die Stepniak in seinem Buch Das geheime Russland beschrieben hatte.
Die erste nähere Bekanntschaft innerhalb der jüdischen Kreise hatte ich zur Familie Silberman. Silberman war der Besitzer einer kleinen Schneiderwerkstatt auf dem Boulevard Menilmontant, wo er gemeinsam mit seiner Frau alle Arbeiten verrichtete. Angestellte hatte sie keine, denn das war gegen ihre Prinzipien. Beide waren einfache und ehrliche Arbeiter, die schon weit auf der Welt herumgekommen waren. Sie waren aus Jerusalem und hatten schon in Ägypten, Griechenland, Türkei, Italien und eine kurze Zeit in Amerika gelebt, bevor sie in Paris sesshaft wurden, wohin es sie besonders gezogen hatte. Die Silbermans gehörten zu den Gründern der Gruppe des Boulevard Barbes und waren sehr aktiv. Sie opferten jede freie Minute für die Gruppe. Mit der Zeit wurden wir nahe Freunde und ich erlebte in ihrer Wohnung viele angenehme Stunden. Golde Silberman war eine ausgezeichnete Köchin, die oftmals seltene und mir unbekannte arabische Speisen zubereitete. Wenn wir nach dem Essen delikaten und schmackhaften Mokkakaffee tranken und sich der Geruch türkischer Feigen über uns legte, fühlte ich mich wie in einer fremden Welt.
Mein Freund Rodinson und seine Frau Tania waren völlig anders. Beide kamen aus der russisch studentischen Jugend und sie sprachen untereinander sehr viel Russisch. Rodinson ging in Russland in die gleichen Schule wie Lifshits und Chaim Zhitlovsky: später machte er eine starke Veränderung durch und wurde zu einem der angesehensten Kenner des jüdischen Nationalismus. Er musste wegen seinen Beziehungen zu der revolutionären Bewegung ins Ausland fliehen. In Paris musste er ein Handwerk lernen und als ich ihn kennenlernte hat er Regenmäntel hergestellt. In seiner bequemen Wohnung in der Rue Charbon war in einem Zimmer eine Werkstatt eingerichtet, wo er zusammen mit seiner Frau arbeitete. Er war ein geistig und intellektuell hochbegabter Mensch, eine selten ehrliche Natur und jeder, der in Berührung mit ihm kam, wurde sein Freund. Die Genossen hatten grenzenloses Vertrauen zu ihm, was kein einziges Mal gestört wurde.
Rodinsons Appartment war ein ständiger Treffpunkt der russischen Emigranten. Jeden Sonntag Nachmittag konnte man dort 10 bis 12 russische Genossen treffen, unter ihnen auch einige Nichtjuden. Das erste Mal als ich zu den spontanen Treffen kam, war ich sehr überrascht. An den Wänden des Zimmers hingen Bilder bekannter russischer Revolutionäre, darunter ein großes Bild von Michael Bakunin, auf das man damals in fast allen Wohnungen der jüdischer Genossen stieß. Um einen großen runden Tisch saßen Männer und Frauen im lebhaften Gespräch. In der Mitte des Tisches stand eine große Wasserpfeife, die pfiff, rauchte und gurgelnde Geräusche von sich gab. Die Russen sind starke Teetrinker. Darüber hatte ich bereits etwas gelesen., doch dort sah ich mit eigenen Augen, wie man zehn bis zwanzig Tassen Tee trinken kann, wobei man ein kleines Stück Zucker in den Mund legte, und man fühlte sich gut wenn einem der Schweiß von der Stirn rann. Die Wasserpfeife macht einen außergewöhnlichen Eindruck auf mich. Sie rief einen Gemütszustand hervor, den man nicht anders als angenehm bezeichnen kann und ich verstehe, warum die russischen Poeten so viel Loblieder darauf sangen. Es war wunderbar schön im Kreise der lieben und intelligenten Menschen, mit denen man sehr interessante Gespräche führen konnte. Dort habe ich viele Sachen verstanden, die mir früher fremd und unbekannt waren.
In jenen Kreisen gab es eine große Anzahl Personen, die wegen ihrer revolutionären Betätigung nach Sibirien zu harter Arbeit verschickt worden waren und die dort einige Jahre gelebt hatten, bis sie auf die ein oder andere Weise befreit worden sind. Noch in Deutschland hatte ich das Werk des Amerikaners George Kennan über Sibirien gelesen, in welchem er Dantes Phrase „Lasciate ogni speranza voi ch'entrate“ (dt.: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!) verarbeitet. Das genannte Werk hatte zu seiner Zeit für großes Aufsehen gesorgt. Es wurde in alle wichtigen Sprachen übersetzt und machte auf mich einen großen Eindruck. Und jetzt saß ich da zusammen mit einem Menschen, dem Genossen A. Gordon, dem Kennan in Sibirien begegnet war und der mir bestätigte, dass das Werk von Kennan mehr für die politischen Verschickten geleistet hat, wie alles was davor darüber geschrieben worden war. Gordon lebte fünf Jahre als Verschickter in Irkutsk. Man hat ihn deshalb verschickt, weil er sich an der revolutionären Arbeit beteiligt hatte, obwohl man keine faktischen Beweise gegen ihn finden konnte. Doch er war ein verdächtiger Mensch. Die Polizei fand in seiner Stube zwei verbotene Bücher, die in allen anderen europäischen Ländern frei erhältlich waren. Das reichte aus, um ihn dem Kreis seiner Freunde und Familie zu entreißen und nach Sibirien zu verschicken.
A. Gordon, den ich Stück für Stück immer besser kennenlernte, gehörte zu den intelligentesten Menschen jenes kleinen Kreises. Er führte mit seiner Frau ein sehr armes Leben, doch er war weder niedergeschlagen noch entmutigt. In seiner Gegenwart fühlte ich stets eine außergewöhnliche Zufriedenheit und wenn ich ihn darum bat, erzählte er von seinen Erlebnissen in Sibirien. Er pflegte dies stets sehr bescheiden und unprätentiös zu tun. Selbst dann, wenn er Sachen erzählte, die mich sehr aufgeregt haben, klagte er nie über die erlebten Ungerechtigkeiten. Es war eine Eigenschaft, die man bei vielen Russen beobachten konnte. Sie erzählten von den bittersten, persönlichen Erfahrungen, doch man merkte ihnen keinmal Emotionen oder Verzweiflung an. Das war ein Zeichen starker Selbstbeherrschung, die sie sich in der harten und schweren Schule des Lebens erworben hatten.
Auch Gordons Bruder, David, hielt sich damals in Paris auf. Während A. Gordon und seine Frau zu den Anarchisten gehörten, hatte David marxistische Meinungen. Er war ein guter Redner und hat ohne Unterlass unter den jüdischen Arbeitern für die sozialdemokratischen Prinzipien geworben, allerdings ohne großen Erfolg. Obwohl wir gegensätzlich ideologischen Ansätze hatten und uns bei öffentlichen Diskussionen stritten, wirkte sich das nicht auf unsere persönlichen Beziehungen aus. Man war in jenen Kreisen im großen und ganzen toleranter, als ich es aus Deutschland kannte. Einer der eigenartigsten Menschen, denen ich während jener Zeit unter den jüdischen Revolutionären begegnete war Shlomo Rapaport, der in der jiddischen und russischen Literatur unter dem Pseudonym Salomon An-Ski berühmt geworden ist. Das erste Mal begegnete ich ihm in Rodinsons Haus. Der stille, dünne Mensch mit ausgezehrtem Gesichtsausdruck und träumerischen Augen beteiligte sich nicht an den Gesprächen und nahm die Rolle eines stillen aber aufmerksamen Zuhörers ein. Zuerst hatte ich wenig Gelegenheit ihn besser kennenzulernen, bis mich ein Zufall für längere Zeit mit ihm zusammenführte. Als Rodinson mir einmal erzählte, dass sich Rapaport mit Buchbinderei beschäftigt, fing ich bei der nächsten Gelegenheit ein Gespräch mit ihm darüber an. Bei diesem Gespräch habe ich ihm von meiner schlechten und engen Werkstatt erzählt, in welcher ich arbeitete. Da schlug er mir vor mit ihm zusammenzuarbeiten. Er meinte, dass die Ausstattung seiner Werkstatt auch nicht besser sei als meine, aber zusammen wären wir in der Lage uns gegenseitig zu helfen und dem anderen zur Hand zu gehen.
Der Plan gefiel mir. Die Gelegenheit bei der Arbeit mit jemanden ein Wort zu wechseln war verlockend für mich. Und so einigten wir uns. Rapaport wohnte damals in einer armseligen Wohnung in der Rue St. Jacques, wo er zugleich wohnte und arbeitete. Seine technische Einrichtung war nicht besser als meine und ziemlich verwahrlost. Ich musste bald einsehen, dass er kein sehr bewandter Buchbinder war. Später hat mir jemand erzählt, dass er während seines stürmischen Lebens in Russland die Buchbinderei von einem Freund beigebracht bekommen hatte. Er war in der Lage einen einfachen Leineneinband herzustellen, doch die speziellen Arbeiten des Faches waren ihm unbekannt.
Nachdem ich das bisschen Werkzeug zurechtgemacht und einen Teil meines Werkzeuges zu ihm gebracht hatte, kam ich jeden Tag in seine Wohnung, bis ich drei oder vier Monate später eine andere Stelle fand. Mein Freund Rapaport war ein sehr talentierter Mensch, doch seine rührende Bescheidenheit stand ihm im Weg. Wenn dies nicht gewesen wäre, dann hätte er schon damals die Position eingenommen, zu dem ihn sein Intellekt befähigte. Er lebte damals in großer Armut, was man auf den ersten Blick sah. Seine Bescheidenheit war unbegrenzt und ich bin überzeugt davon, dass er sich damals regelmäßig nur von Brot und Tee ernährte ohne uns davon zu erzählen.
Abgesehen von seiner anziehenden Freundlichkeit, war er zu Beginn etwas schüchtern und zurückhaltend, doch mit der Zeit wurde er immer zugänglicher. Während der Arbeit haben wir uns über alle möglichen Angelegenheiten unterhalten, insbesondere, versteht sich, über soziale Probleme, die uns interessierten. Er erzählte mir von der Bewegung „Narodniki“ in Russland, an welcher er persönlich beteiligt war und über sein Leben unter den russischen Arbeitern und Bauern, die er für seine Ideen zu gewinnen suchte. Sein bemerkenswerte Beobachtungsgabe verlieh seinen Erzählungen einen außergewöhnlichen Reiz. An jedem seiner Worte spürte man, welche Zuneigung er für die russischen Bauern empfand. Obwohl er aus eigenen Beobachtungen und aus eigenen Erfahrung wusste, wie geistig zurückgeblieben und abergläubisch die ländliche Bevölkerung in Russland ist, unterstrich er stets die Tatsache, dass die Bauern aus seinem Land einen stärker und besser entwickelten Sinn für soziale Solidarität besitzen, wie die Bauern und sogar die Arbeiter in Westeuropa. Dies steht bei den gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen auf dem russischen Dorf an erster Stelle. In anderen Ländern, pflegte er zu sagen, müssen die Revolutionäre den sozialen Geist, der die wichtigste Voraussetzung für die Veränderung der Gesellschaft ist, erst entzünden, aber in Russland lebt dieser Geist im Volk, so dass die revolutionäre Bewegung lediglich angestoßen werden muss, damit die Ziele der großen französischen Revolution angenommen werden.
Für mich war diese Gedankenschule neu. Wir in Deutschland haben am stärksten auf die industriellen Entwicklung als Voraussetzung des gesellschaftlichen Wandels im sozialistischen Sinn geschaut, wobei wir die Schattenseiten dieser Entwicklung im großen und ganzen übersehahen. Wir verstanden nicht, dass, obwohl die industrielle Entwicklung der Gesellschaft soziale Konflikte hervorrief und Unzufriedenheit verbreitete, sie zugleich auf der anderen Seite, durch die starke Abschwächung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und durch die einseitige Akzentuierung egoistischer Bestrebungen, bestimmte geistige Konditionen hervorrief, welche die sozialistische Veränderung der Gesellschaft sicher nicht begünstigten. Diese Interpretation ist auch der Grund dafür, warum sich Rapaport der sogenannten „deutschen Kultur“ gegenüber sehr skeptisch verhielt. Er hatte eine verhohlene Angst vor der „deutschen Gründlichkeit“ und er war der Meinung, dass in dem Drang danach alles in ein bestimmtes Schema zu pressen, die Deutschen den Menschen nicht auf der Rechnung hatten und sie einen falschen Weg begehen, von dem aus keine guten Resultate zu erwarten sind. Zu viel Systematisierung, pflegte er zu sagen, zerstört die Seele des Menschen und damit auch jedes soziale Gleichgewicht.
Rapaport versicherte mir stets, dass er den größten Respekt vor den technischen Fähigkeiten der Deutschen habe, diese Fähigkeit aber nur dann nützlich sei, wenn sie im Dienst eines guten Zweckes steht und sie ihre Basis im ethischen Bewusstsein des Menschen hat. Doch unglücklicherweise deutet alles darauf hin, dass die herrschende Klasse in Deutschland dieser Zweck nicht interessiert. Sie konzentriert ihre ganze Kraft darauf Europa auf einen Weg zu bringen, der für die geistige und gesellschaftliche Entwicklung in Europa fatal enden wird. Die Gefahr vergrößert sich dadurch, dass dem deutsche Volk, trotz seiner vielen guten Eigenschaften, die Widerstandskraft gegen die Angriffe der Regierungskaste fehlt. Zu viele Gesetze vernebeln die Vision eines Volkes und führen zu dem trügerischen Glauben, dass die Bestrebungen und Absichten ihrer Unterdrücker auch ihre eigenen seien.
Diese Ideen haben viel mit den Vorstellungen von Domela Nieuwenhuis gemein, von dem ich bereits gehört hatte und dessen Vorstellungen sich in mein Gedächtnis eingeprägt hatten. Ich habe seit jener Zeit über diese Worte nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass Rapaport und Nieuwenhuis die Lage besser eingeschätzt haben als diejenigen, die in Deutschland den Fahnenträger der kommenden sozialen Veränderung in Europa sahen.
Zuviel Disziplin ist gefährlich für ein Volk. Und wenn diese Disziplin mit einer großen technischen Kapazität verbunden ist, dann ist dies doppelt gefährlich. Deutschlands spätere Entwicklung zur Barbarei des Dritten Reiches wäre ohne den Ersten Weltkrieg nicht möglich gewesen, doch es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass Hitlers Sieg nur durch den toten Kadavergehorsam möglich war, der in Deutschland verbreiteter ist als in anderen Ländern
Rapaport hatte gegenüber seiner Heimat Russland eine rührende Zuneigung und er betrachtete jeden Tag den er im Ausland verbringen musste, wie einen verlorenen Tag in seinem Leben. Dies war eine Eigenschaft, die ich bei einigen russischen Juden damals beobachtete. Und das beweist, dass die falsche und unsinnige Behauptung der sogenannten Rassentheoretiker, dass bei den Juden, bei allen Juden, jedes Heimatgefühl fehlt, nicht richtig ist. Dieses Heimatgefühl ist nicht mit dem Nationalismus und der Unterwürfigkeit unter dem totalen Staat vergleichbar, welche jede Liebe zur Heimat zerstören, das Leben eines Volkes automatisiert und alles auf den gleichen Ton einstellt. Jene Monate, die ich mit Rapaport zusammenarbeitete, blieben mir unvergesslich. Auch später traf ich mich oft mit ihm und nach jedem Treffen verspürte ich die intensive Befriedigung die Zeit mit einem stillen und geistreichen Menschen verbracht zu haben, bei dem ich keine Spur jener Eigenschaften vorfand, welche die Antisemiten von Juden behaupteten.
Später wurde Rapaport der Privatsekretär des bekannten russischen Revolutionärs Peter Lawrow und er behielt diese Stelle bis zum Tod Lawrows im Jahr 1900. Dank ihm lernte ich Lawrow auch persönlich kennen. In der kurzen Zeit der Zusammenarbeit zwischen Rapaport und mir banden wir einige Bücher für ihn. Lawrow war damals schon ein über siebzig Jahre alter Mann und man merkte, dass er früher einmal Offizier gewesen war. Aufgrund seiner Beteiligung an der revolutionären Bewegung in Russland und seinen literarischen Aktivitäten wurde er von allen sozialistischen Richtungen in Paris sehr respektiert.
Als die zaristische Regierung als Konsequenz der Geschehnissen des Jahres 1905 gezwungen war eine große Amnestie zu veranlassen, kehrte auch Rapaport nach Russland zurück, wo er bis zu seinem Lebensende einer fruchtbaren Tätigkeit als jiddischer und russischer Schreiber nachging. Während der Zeit der anarchistischen Gruppe in Paris gab es auch einen kleinen sozialdemokratischen Verein, dessen Mitglieder sich jeden Samstag in einem kleinem Lokal in der Nähe des Place de la Bastille trafen. Zu den wichtigsten Mitgliedern dieses Kreises gehörten David Gordon und A. Bek, ein Nichtjude russischer Herkunft, der den jüdischen Arbeitern sehr nahe stand.
Diese Gruppe war sehr klein und ihre Versammlungen wurde nur von sehr wenig Leuten besucht. Doch wenn das Thema der Versammlung eine Debatte mit den Anarchisten war, dann war der Andrang sehr groß. Als mich Gordon einmal darum bat vor diesem Kreis ein Referat über gewisse Ereignisse innerhalb der sozialistischen Bewegung Deutschlands zu halten, kam es danach zu einem heftigen Streit wegen taktloser Bemerkungen von Bek, was dazu führte, dass der sozialdemokratische Verein keine Anarchisten mehr zu seinen Versammlung einlud. Nur für mich machten sie eine Ausnahme. Es versteht sich von selbst, dass ich dieses Privileg nicht in Anspruch nahm, sondern meine regelmäßigen Visiten eingestellt habe. Der sozialdemokratische Verein führte ab dieser Zeit ein sehr isoliertes Leben und nach einer gewissen Zeit verschwand er ganz aus der Szene.
Zwischen den Anarchisten und Sozialdemokraten gab es damals in Paris noch eine unparteiische Organisation, deren Mitglieder Sozialisten aus den verschiedensten Richtungen war. Ihre Treffen fanden jeden Freitag Abend in dem Kaffeehaus Tresor in der Vielle du Temples statt und es kamen jedesmal ungefähr 150 bis 200 Menschen. Dieses Zusammenkommen war jedesmal sehr anregend, denn es bot sich die Gelegenheit für Diskussionen zwischen den verschiedenen Richtungen. Es gab dort Anarchisten, Sozialdemokraten, einige alte Anhänger der Narodniki und Genossen, die den speziellen Ideen von Lawrow nahestanden. Der Großteil der Referate wurde auf Jiddisch gehalten, doch zeitweise gab es auch Reden in Russisch, Französisch und Deutsch. Bei den Treffen herrschte stets ein sehr toleranter Geist und die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Richtungen waren immer sehr freundlich. Obwohl die Anarchisten in der Überzahl waren und sie über die besten Redner verfügten, wurde niemand benachteiligt, da den Anhängern der anderen Richtungen jede Möglichkeit zum freien Gedankenaustausch gegeben wurde. Der eine hat versucht den anderen zu überzeugen und dadurch wurden die Probleme vertieft und mit neuen Argumenten versehen.
Während der Zeit meines Aufenthaltes in Paris hielt ich einige Vorträge im Kaffeehaus Tresor und beteiligte mich regelmäßig an den dortigen Debatten. Und ich muss sagen, dass die Diskussionen mit den Anhängern der anderen Tendenzen für mich eine gute Schule war. In anderen deutschen Kreisen hat man immer schon im voraus gewusst, welche Argumente der Gegner nutzt, denn alle hatten dieselbe Schule durchlaufen und unsere Meinung wurde durch die spezielle Art und Weise unserer Ideologie bestimmt. Dort aber hatte ich die Gelegenheit Interpretationen zu hören, die unter ganz anderen Lebensbedingungen entstanden waren und zu ganz anderen Konstruktionen führten, die mir im großen und ganzen neu gewesen sind. Nichts ist in der Lage den Geist so anzuregen wie fremde Umgebungen und neue Erfahrungen. Sie verbreitern den geistigen Horizont und schärfen den Verstand.
In Paris lernte ich auch S. Yanovsky kennen, der damals der Redakteur des Londoner anarchistischen Wochenblatts Arbeter fraynd gewesen ist. Yanovsky kam auf Wunsch einiger Genossen nach Paris um dort auf der großen Jom Kippur Versammlung zu reden, die von den Genossen arrangiert wurde und bei der auch ich als Redner aufgetreten bin. Yanovsky war ein sehr fähiger Journalist und sein Journal hatte großen Einfluss auf die jüdische Arbeiterschaft. Er befand sich damals in der Blüte seines Lebens und besaß eine große Willenskraft und vor seiner beißenden Ironie erschraken seine Gegner.
In jener Zeit in Paris schloss ich Freundschaften unter den jüdischen Arbeitern, die mein ganzes Leben anhielten. Und noch heute blicke ich mit einer großen inneren Befriedigung auf diese seit langem vergangene Zeit. Die Gründe, die mir diese Zeit so lieb und unvergesslich machen, sind die Reinheit der Überzeugungen, der lebendige Glaube an ein gerechtes Ideal und die unbegrenzte Opferbereitschaft der Menschen. Und obwohl der größte Teil jener Männer und Frauen ihren Lebensunterhalt unter den schwersten Bedingungen verdienten, waren sie doch stets hilfsbereit und gaben alles um ihrer Überzeugung zu dienen.
Und als die jüdische Frage aufgrund der nationalen Revolution in Deutschland eine weltweite Bedeutung bekam und die Juden in verschiedenen Ländern in einer noch nie dagewesener Art und Weise verfolgt wurden, die alle bisherigen Verfolgungen und Brutalität in den Schatten stellt, wurde das Bedürfnis in mir noch größer, etwas gegen diese Barbarei und diesen Schmutz zu tun. In meiner langjährigen Beziehung zu Juden aus verschieden Ländern ist mir keinmal eine Sache begegnet, in der sich die Juden von anderen ethnischen Gruppen unterschieden haben. Ich hatte niemals den Eindruck, dass die Juden das Salz der Erde sind. Vielmehr stehen meine Gedanken und mein Gefühle im stärksten Gegensatz zu der barbarischen Interpretation, dass die Juden alleinig wegen ihrer Abstammung für alles Übel in der Gesellschaft verantwortlich seien. Bis zum heutigen Tag ist der Hass auf die Juden in allen Ländern ein Mittel der finstersten Reaktion.
Die Position eines Volkes zu den Juden ist ein Prüfstein für seine Fähigkeit zum gesellschaftlichen Fortschritt. Der Geist der Demokratie und des Liberalismus hat die Tore des alten Ghettos für die Gleichberechtigung geöffnet und zur juristischen Gleichberechtigung geführt. Wer die Juden wieder in das alte Ghetto sperrt, der sperrt sich selbst in das noch größere Ghetto der Barbarei und der geistigen Finsternis. Das nationalsozialistische Deutschland ist der beste Beweis dafür. Der Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben hat das deutsche Volk nicht freier und glücklicher gemacht. Es führte alleinig dazu, dass das deutsche Volk mit noch größeren Ketten belastet wurde; es erstickte seine menschlichen Fähigkeiten und führte zu einer Niederträchtigkeit, welche die ganze Welt in großes Unglück stürzte. Der gelbe Davidstern und das gelbe Abzeichen erniedrigen nicht die Opfer, sie sind vielmehr das Kennzeichen einer feigen Barbarei und stellen die Täter außerhalb der menschlichen Familie.
Quelle: Rudolf Rocker. Ershte bagegenish mit yidishe anarkhistn, in: Fraye arbeter shtime. Vol. 3001, 3002, 3003, 3004 (1.05.1973, 1.06.1973, 1.7.1973, 1.8.1973), New York: The Free Voice of Labour. Aus dem Jiddischen von RockerRevisited
Originaltext: http://rockerrevisited.blogspot.de/2014/10/erste-begegnung-mit-judischen.html