Emile Armand - Unsere Forderungen als individualistische Anarchisten (1945)
Die individualistischen Anarchisten im Sinne des EINZIGEN befürworten eine „Gesellschaft ohne Gewaltherrschaft“. Dies bedingt nachstehende Forderungen, die vorbehaltlos und ohne Einschränkung gelten (wobei selbstverständlich ist, daß diese Forderungen insgesamt stets nach Maßgabe des Möglichen sofort verwirklicht werden, sei es ganz oder teilweise). Die Individualisten unserer Art anerkennen jede Gesellschaftsform als eine Gesellschaft ohne Gewaltherrschaft“, in der der Staat und jede andere aggressive Gewalt ausgeschaltet ist; in der es keine Herrschaft des Menschen über den Menschen oder einen Lebenskreis der Gesellschaft gibt (auch nicht umgekehrt) und in der eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen oder durch gesellschaftliche Einrichtungen (und umgekehrt) unmöglich ist.
Daher die Forderungen:
Volles, uneingeschränktes Recht, für sich selbst in allem selber zu entscheiden, was bedeutet, daß jede Einheit im sozialen Gefüge nach eigenem Ermessen sich bewegt, sich entwickelt, Erfahrungen nach seinem Geschmack macht, je nachdem Veranlagung, Überlegung, persönliche Entschlüsse dazu anregen – kurz gesagt: der Einzelne ist nur sich selbst verantwortlich (oder nur denen, denen gegenüber er sich selbst verpflichtet hat) für seine Handlungen – wobei diese Freiheit dort ihre Grenze findet, wo sie in die gleiche Freiheit der anderen eingreift und die Gefahr entsteht, anderen Schaden zuzufügen.
Volles, uneingeschränktes Recht der Berufswahl und -ausübung, der Meinungsäußerung in Wort und Schrift, sei es öffentlich oder privat.
Volles, uneingeschränktes Recht „einer Vereinigung mit bestimmten vorgegebenen Zielen beizutreten, oder jedem sonstigen Zusammenschluß gleich welcher Bedeutung.
Volles, uneingeschränktes Recht der Selbstentscheidung für oder wider eine Solidaritätsbekundung, eine vertragliche Verbindlichkeit gleich welcher Art oder auf welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit und ohne Rücksicht auf deren Ziel und Dauer; ebenso das Recht der freien Entscheidung hinsichtlich Kündigung des betreffenden Vertrages im Rahmen der vorgesehenen eindeutig formulierten Bedingungen des betreffenden Vertrages, wobei Voraussetzung ist, daß im Fall der Ablehnung oder der Aufgabe vertraglicher Bindungen dem Betreffenden nichts nachgetragen wird und ihm nicht übel gewollt sein darf; allerdings dürfen sich bei Lösung eines Vertragsverhälltnisses keine Nachteile oder irgendein Schaden in vertragswidriger Form für die Partner ergeben.
Volles, uneingeschränktes Recht des Verhandelns zwischen Produzent und Konsument oder zwischen anderen Partnern, ob-einzeln oder in Gruppen – volles,uneingeschränktes Recht, gleich auf welchem Gebiet und zu welchem Zweck, die Person oder Gesellschaft seiner Wahl und seines Vertrauens auszusuchen und zu beauftragen, insbesondere den Lehrer, Erzieher, Arzt, Anwalt und Schiedsrichter.
Volles, uneingeschränktes Recht, den Wert oder Preis einer Sache, eines eigenen Produkts oder Verbrauchsguts, gleich welcher An, selbst nach eigenem Ermessen zu bestimmen oder abzuändern; so ist auch das Recht unantastbar, in dieser Hinsicht zu verhandeln, sich eines Schiedsrichters zur Festlegung des Preises zu bedienen oder auch, nach Belieben, auf eine Wertbestimmung zu verzichten.
Volles, uneingeschränktes Recht für jeden Einzelnen und jede Vereinigung oder Gruppe, das für sie geltende Geld als Tauschmittel im Waren- und Leistungsverkehr zu benutzen, es selbst in Umlauf zu setzen oder das von anderen herausgebrachte Tauschmittel anzuerkennen, immer unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um eine freie Vereinbarung und keinen monopolistischen Zwang handelt; das gleiche gilt für sogenannte Arbeits- und Warengutscheine und ähnliches, für Wechsel, Kreditbriefe usw., ob übertragbar oder nicht. Mithin gilt das eindeutige Recht, das freiwillig anerkannte Zahlungsmittel für alle wirtschaftlichen Vorgänge zu benutzen, solange es keinem Zwangskurs unterworfen ist -damit ist das uneingeschränkte Recht gemeint, statt des umlaufenden Geldes jede andere Art Tauschmittel zu benutzen, vorausgesetzt, daß sich dafür ein Abnehmer findet, der sich ohne Zwang dafür entscheiden kann.
Volles, uneingeschränktes Recht,für Einzelne oder Gruppen, im Wettstreit oder in der Mitbewerbung für einen Beruf oder sonst eine Tätigkeit, unter der Voraussetzung, daß dem Bewerber keine Möglichkeit vorenthalten wird, sich vorbehaltlos zu informieren und zu vervollkommnen – ebenso gilt das unantastbare Recht des Schaffens nach eigenem Wunsch, der Ortsveränderung und der Freizügigkeit, sowie der Werbung in eigener Sache.
Volles, uneingeschränktes Recht, auf jedem Gebiet der Kultur und Wirtschaft seine Auffassung oder Leistung darzulegen und zu realisieren, wobei hierfür keine andere Begrenzung gilt als die, den anderen nichts aufzuzwingen, was von diesen zurückgewiesen wird oder ihnen nicht zusagt. Unter diesem Gesichtspunkt gilt das uneingeschränkte Recht der freien Meinungsäußerung, -das Recht, eine Theorie zu propagieren und zu lehren, auch Versuche zu machen und Erfahrungen zu sammeln, wo es sich beispielsweise um Gebiete handelt, die zum Erkenntnisbereich der Wirtschaft, Philosophie, Wissenschaft, Religion, Pädagogik, Kunst oder irgendeinem anderen Bereich gehören.
Volles, uneingeschränktes Recht,vom Ertrag seiner Leistung oder Produktion zu leben, sei es als Einzelgänger, außerhalb jeder Gruppe oder Gemeinschaft oder der Gesellschaft überhaupt – dies allerdings auf eigenes Risiko. Ebenso ist das Recht uneingeschränkt, ein Zusammenleben mit einem Partner, in einer Familie, in einer patriarchalisch oder matriarchalisch geprägten Gemeinschaft, in freiwilligen Verbindungen oder Kommunen auf der Grundlage enger Gesinnungsgemeinschaften, wie auch immer, zu suchen. Volles, uneingeschränktes Recht, aus eigenem Entschluß einem Verband beizutreten, dessen freiheitliche Ziele jede Art menschlicher Tätigkeit oder Suche nach Erkenntnissen umfassen; das kann jedweden wirtschaftlichen,intellektuellen, ethischen, gemütsbedingten, zur Erholung gedachten oder sonstigen Zweck betreffen, das gilt aber ebenso für alle Bereiche der Produktion, des Konsums, des Verkehrs und der Kommunikation, des Versicherungswesens gegen alle möglichen Gefahren, Unterrichtsmethoden und Erziehungssysteme, für die Nutzung wissenschaftlicher Entdeckungen und natürlicher oder künstlich erzeugter Kräfte. Volles, uneingeschränktes Recht,aus jeder Art von Zusammenschluß oder Verband auch wieder auszutreten, allerdings unter Beachtung der bei der Gründung vorgesehenen Richtlinien oder Bestimmungen.
Volles, uneingeschränktes Recht für jede Vereinigung, jeden Verband, jede Genossenschaft und dergleichen, sich so zu organisieren, wie es den Teilnehmern am besten erscheint – das bedingt auch das Bestimmen der inneren Ordnung nach eigenem Ermessen, d.h. nach einer Sonderrechtsordnung, die nur für die freiwilligen Mitglieder gilt.
Volles, uneingeschränktes Recht, jeden unbewohnten oder von niemandem besetzten oder in Anspruch genommenen Ort oder Grundstück zum Aufenthalt zu nehmen oder für sich zu verwerten,unter der Voraussetzung, daß dadurch das gleiche Recht eines anderen nicht verletzt und ein anderer dabei auch nicht ausgebeutet wird. Unter dieser Voraussetzung muß der Einzelne über das unbestrittene Besitzrecht an seinen Produktionsmitteln (Handwerkszeug,Instrumente, Maschine, Grundstück, Untergrund usw.) verfügen -das bedingt auch die Freiheit, selbst über seinen Arbeitsertrag oder das Produkt seiner Arbeit zu verfügen, soweit weder Herrschaft über andere noch deren Ausbeutung damit verbunden sind. Des weiteren soll dem Ein reinen,-das volle, uneingeschränkte Recht gewährleistet sein, sein Erzeugnis auf dem Markt oder sonstwie einzutauschen oder zu veräußern, gleichgültig ob gegen Bezahlung oder gemäß anderen Voraussetzungen. Auch jede Art von Zusammenschluß oder Gemeinschaft hat das gleiche Recht,innerhalb der eigenen Organisation die hier dargelegten oder ähnliche Prinzipien anzuwenden.
Volles, uneingeschränktes Recht für jeden Einzelnen und ebenso für jedes Mitglied einer organisierten Gemeinschaft, frei über das persönliche Eigentum zu verfügen, d.h. auch über die Nutzungsrechte und Entgelte, die er im Austausch für seine persönliche Arbeitsleistung erhält und die den Lebensunterhalt, die Wohnung und ganz besonders für den Einzelnen: auch die Produktionsmittel) sichern.
Volles, uneingeschränktes Recht, Zuneigung zu anderen und Vorliebe für etwas nach eigenem Ermessen zu bekunden, vorausgesetzt, daß damit weder eine Täuschung noch irgendeine Betrügerei verbunden ist und daß vor allem niemand geschädigt,beeinträchtigt oder in irgendeiner Form herabgesetzt wird.
Forderungen, die speziell die Frau und die Mutter angehen:
Volles, uneingeschränktes Recht für jede Frau, ob allein für sich oder in Partnerschaft, ihre Bereitschaft zur Mutterschaft nach ihrem Ermessen zu bestimmen. Das Kind soll dann auch nur so lange unter Beaufsichtigung oder Betreuung bleiben müssen, bis es ein Alter erreicht hat, in dem es in Eigenverantwortung Abmachungen und Bindungen selbstverantwortlich eingehen kann -das betrifft auch den Sinn der Vormundschaft für ein Kind, wofür die Mutter das Prioritätsrecht besitzt, das sie ganz oder zum Teil einer anderen Person oder Stelle übertragen kann.
Forderungen, die speziell das Kind angehen:
Volles, uneingeschränktes Recht für das Kind, Knabe oder Mädchen, eine Änderung oder Neugestaltung des Vormundschafts-Zustandes, dem es untersteht, zu fordern – so mag es zum Beispiel um eine zeitliche Vorverlegung seiner Volljährigkeitsrechte ersuchen oder ein anderes Problem klären wollen. In diesem Fall hat das Kind Anspruch auf einen Schiedsspruch, wobei die Wahl des Schiedsrichters ihm zufällt, oder zumindest eines der Schiedsrichter.
Emile Armand war (1872-1962), Herausgeber der Zeitschrift für individualistischen Anarchismus, „L’ Unique“
Diese Veröffentlichung E. Armands, 1945 im L’Unique, wurde sinngemäß übersetzt von CR.
Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/03/02/emile-armand-unsere-forderungen-als-individualistische-anarchisten-1945/