Sebastian Faure - Die Anarchisten. Wer wir sind. Was wir wollen. Unsere Revolution. (1925)

Zweck dieser Broschüre

Man kennt die Anarchisten wenig und was noch schlimmer ist, man kennt sie schlecht.

Man erkundige sich bei hundert Personen auf der Straße und frage sie, was sie von den Anarchisten wissen. Viele werden die Arme ausbreiten und mit einem Achselzucken antworten und dadurch ihre Unkenntnis ausdrücken. Andere, um nicht zugeben zu müssen, daß sie nichts wissen und sich für genügend unterrichtet haltend, durch die Zeitung, der sie ergebenst ihre Informationen entnehmen, werden antworten: 

"Die Anarchisten sind gewöhnliche Banditen. Ohne Bedenken und ohne Erbarmen. Sie respektieren nichts, was für die anständigen Menschen geheiligt ist: Eigentum, Gesetz, Vaterland, Religion, Moral, Familie - sie sind der schlimmsten Handlungen fähig. Diebstahl, Plünderung, Mord sind durch sie zu verdienstvollen Handlungen erhoben.

Sie geben vor einem herrlichen Ideal zu dienen, sie lügen. In Wirklichkeit dienen sie nur ihren niedrigen Instinkten und ihren verworfenen Leidenschaften.

Es ist möglich, daß in ihren Reihen sich einige Aufrichtige verirren. Diese sind impulsiv und fanatisiert durch die Führer, welche sie in die Gefahr stürzen, während jene, die Feiglinge, sich abseits jeder Verantwortlichkeit halten.

Im Grunde ist ihr einziger Wunsch, zu leben ohne zu arbeiten, nachdem sie sich der Vermögen bemächtigt haben, die der haushälterische Arbeiter mühsam erspart hat. Diese Leute sind nichts anderes als Banditen, die gefährlichsten und schnödesten zugleich. Denn um ihre wahren Ziele zu verbergen, besitzen sie die unausstehliche Gemeinheit, glorreiche und unsterbliche Grundwahrheiten vorzubringen, auf welche notwendiger- und wünschenswerterweise jede Gesellschaft beruhen muß: - Gleichheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Freiheit. -

Die Gesellschaft, deren Fundamente die Anarchisten mit Gewalt angreifen, würde also alle ihre Pflichten versäumen, wenn sie die abscheuliche Propaganda und verbrecherischen Unternehmungen dieser öffentlichen Übeltäter nicht mit aller Energie unterdrücken würde."

Wenn die Privilegierten, die ständig davor zittern, ihrer Vorrechte beraubt zu werden, in deren Genuß sie sich befinden, die einzigen wären, die solche Vorwände vorbringen, ließe sich das erklären, obgleich eine solche Redeweise nur die Bestätigung ihrer Unwissenheit oder bösen Absicht sein würde. Das Unglück besteht darin, daß in dieser Weise noch eine Masse von Menschen spricht, deren Zahl zwar immer geringer wird, aber dennoch groß genug ist, eine Masse von armen Teufeln, die nichts zu verlieren, sondern im Gegenteil alles zu gewinnen hatten, wenn die gegenwärtige soziale Organisation verschwinden würde.

Und doch ist die anarchistische Literatur bereits an klaren Lehren, genauen Grundsätzen und einleuchtenden Beweisführungen so üppig und reich!

Seit einem halben Jahrhundert hat sich eine auserlesene Schar von Denkern, Schriftstellern und freiheitlichen Propagandisten erhoben, die durch Wort, Schrift und Tat in allen Ländern und in allen Sprachen die anarchistische Lehre, ihre Prinzipien und Methoden verbreitet haben, sodaß jeder imstande ist, den Anarchismus anzunehmen oder ihn abzulehnen, aber niemand ihn heute mehr verleugnen kann.

*** 

Es ist das Schicksal aller Lichtträger, abscheulich verleumdet und verfolgt zu werden. Es ist das Los aller sozialen Doktrinen, welche sich gegen die offiziellen Lügen und bestehenden Einrichtungen wenden,    mit Hilfe der anrüchigsten Waffen entstellt, lächerlich gemacht und bekämpft zu werden. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war das der Fall mit den hauptsächlichsten Vertretern der französischen Revolution und den Prinzipien, nach welchen sie sich bemühten eine Basis für eine neue Welt zu geben; während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, das die Vernichtung der "einen und unteilbaren" Republik durch das Kaisertum, die Wiederherstellung des Königstums und die Julimonarchie sah, war dies der Fall mit den Republikanern, während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - welche den Triumph der republikanischen Demokratie anbrechen und sich entwickeln sah - war das der Fall mit den Sozialisten und der Doktrine, die sie beabsichtigten an Stelle des bürgerlichen Demokratismus zu setzen; in der Morgenröte des zwanzigsten Jahrhunderts, das die Beteiligung der Sozialisten an der Macht zu verzeichnen hat - ist es unausbleiblich, daß die Anarchisten verleumdet, verfolgt und ihre Ideen, die sich gegen die offiziellen Lügen und bestehenden Einrichtungen wenden, entstellt, lächerlich gemacht und bekämpft werden und dies mit den verwerflichsten Mitteln.

Aber es ist die Pflicht der Verkünder der neuen Wahrheit, der Verleumdung zu begegnen und den unaufhörlichen Schlägen der Lüge, die beharrlichen Gegenstöße der Wahrheit entgegenzustellen. Und weil die Betrüger und die Unwissenden, die Letzteren unter dem Einfluß der Ersteren - sich darauf versteifen, unsere Gefühle zu verunglimpfen und unsere Auffassungen zu entstellen, erachte ich es für notwendig, in kurzen Umrissen so klar wie möglich darzulegen: 

Wer wir sind!
Was wir wollen!
Und was unser revolutionäres Ideal ist!

Das ist der Zweck dieser Broschüre!

I. Wer wir sind  

Man macht sich von den Anarchisten als Individuen die verkehrtesten Vorstellungen.

Die einen betrachten uns als harmlose Utopisten und sanfte Träumer; Sie nennen uns Schwarmgeister, sie behandeln uns als überspannte Geister mit verschrobenen Ideen, um nicht zu sagen als Halbverrückte. Sie geruhen, Kranke in uns zu sehen, die unter Umständen gefährlich werden können, aber nicht bösartige, bewußte Übeltäter.

Die anderen haben über uns verschiedene Urteile, sie sehen in uns rohe, unwissende und gehässige Menschen, Gewalttätige und Rasende, gegen die man sich nicht genug im voraus schützen und die man nicht unerbittlich genug niederdrücken kann.

Die einen wie die Andern sind im Irrtum.

Wenn wir Utopisten sind, so sind wir es auf dieselbe Weise, wie alle diejenigen unserer Vorfahren, die es gewagt haben, auf den Vorhang der Zukunft Bilder hinzuwerfen, die im Widerspruch standen mit denjenigen ihrer Zeit. In der Tat, wir sind die Nachfolger und Fortsetzer jener Individuen, die mit einer lebhafteren Auffassung und Empfindlichkeit begabt waren wie ihre Zeitgenossen und den Anbruch einer neuen, wenn auch noch in Dunkel gehüllten Zeit geahnt haben. Wir sind die Erben jener Menschen, die in einer Epoche der Unwissenheit, des Elends, der Bedrückung, der Häßlichkeit, der Heuchelei, der empörenden Ungerechtigkeit und des Hasses lebend, ein Gemeinwesen des Wissens, des Wohlstandes, der Freiheit, der Schönheit, der Freimütigkeit, der Gerechigkeit und der Brüderlichkeit vor sich gesehen, und mit allen ihren Kräften an dem Aufbau dieses wundervollen Gemeinwesens gearbeitet haben.

Daß die Privilegierten, die Satten und die ganze Sippe der Gedungenen und Sklaven, die an der Aufrechterhaltung und Verteidigung dieses Regimes, dessen Nutznießer sie sind oder es zu sein glauben, interessiert sind, verächtlich die Bezeichnungen: schlimme Utopisten, Träumer, verschrobene Geister, auf die mutigen und klarsehenden Konstrukteure einer besseren Zukunft fallen lassen, ist ihre Art. Dies gehört mit zur Logik der Dinge.

Nichtsdestoweniger würden wir uns ohne diese Träumer, deren Erbe wir zur Reife bringen wollen ohne diese schwärmerischen Konstrukteure und ihre krankhaften Vorstellungen - so bezeichnete man übrigens in jeder Zeit diejenigen, die nach neuen Formen strebten und ihre Jünger - heute noch in einem längst entschwundenen Zeitalter befinden, an dessen einstige Existenz wir kaum noch zu glauben vermögen, so sehr unwissend, wild und elend war der Mensch damals noch.

Sind wir Utopisten, weil wir wollen, daß die Entwicklung ihren Lauf fortsetzt, uns mehr und mehr von der modernen Sklaverei entfernt und aus dem Lohnempfänger und Erzeuger aller Reichtümer ein freies, würdiges, brüderliches und glückliches Wesen macht?

Sind wir Träumer, weil wir das Verschwinden des Staates voraussehen und ankündigen, dessen Aufgabe darin besteht, die Arbeit auszubeuten, den Gedanken zu unterjochen, den Geist der Revolte zu ersticken, den Fortschritt und die Initiative zu lähmen, den Ansturm zum Besseren einzudämmen, die Aufrichtigen zu verfolgen, die Intriganten zu mästen, die Steuerpflichtigen zu bestehlen, die Parasiten zu erhalten, Lüge und Intrige zu begünstigen, die mörderische Konkurrenz anzuspornen und wenn er seine Macht bedroht fühlt, alles im Blute zu ersticken, was das Volk für gesünder, kräftiger und schöner hält?

Sind wir Schwarmgeister und Halbverrückte mit verschrobenen Vorstellungen, weil wir, nachdem feststeht, daß jene nicht zu verweigernden Umbildungen, welche die menschliche Gesellschaft antreiben, zu neuen Strukturformen auf verbesserten Grundlagen, viel zu langsam vor sich gehen, zu langsam in unserem Sinn, alle unsere Kräfte der gänzlichen Zerstörung der Struktur der kapitalistischen autoritären Gesellschaft widmen?

Wir fordern alle aufmerksamen und unterrichteten Geister von heute heraus, zu sagen, ob man jene Menschen, die solche sozialen Umformungen beabsichtigen und vorbereiten, im Ernst als Störenfriede bezichtigen kann.

Wahnsinnig, nicht nur halb, sondern total, sind diejenigen, die sich einbilden, den zeitgenössischen Generationen, die zur sozialen Revolution streben wie der Fluß zum Ozean, den Weg versperren zu können.

Es ist möglich, daß diese Wahnsinnigen mit Hilfe mächtiger Dämme und geschickter Ableitungen den Lauf des Flusses mehr oder weniger verlangsamen können, doch es ist unausbleiblich, daß dieser sich früher oder später doch ins Meer stürzen wird.

Nein! Die Anarchisten sind weder Utopisten, noch Verrückte, noch Träumer und der Beweis dafür ist, daß überall die Regierungen sie verfolgen und in die Gefängnisse werfen, um zu verhindern, daß die Worte der Wahrheit, die sie verkünden, ungehindert bis zu den Ohren der Enterbten dringen, denn wenn die freiheitlichen Lehren jene der Hirngespinste und des Wahnsinns entbinden würden, wäre es den Anarchisten ein leichtes, den Unsinn und das Unvernünftige, das von ihnen gesagt wird, zu widerlegen.
 
***

Gewisse Leute behaupten, daß die Anarchisten rohe und unwissende Menschen sind.

Es ist richtig, daß nicht alle Anarchisten die hohe und hervorragende Intelligenz eines Proudhon, Bakunin, Elisée Reclus oder Kropotkin besitzen. Es ist richtig, daß viele Anarchisten von den Sünden moderner Zeiten heimgesucht werden: denn die Armut muß schon im Kindesalter die Schule verlassen, um für das tägliche Brot zu arbeiten; aber die Tatsache allein, sich bis zur anarchistischen Weltanschauung erhoben zu haben, zeugt von einer lebendigen Auffassungsgabe und bestätigt eine intellektuelle Anstrengung, zu der ein Rohling unfähig sein würde.

Der Anarchist liest, studiert, denkt nach und unterrichtet sich täglich. Er empfindet das Bedürfnis, den Kreis seiner Kenntnisse unaufhörlich zu erweitern, seine Beweiskräfte ständig zu bereichern, er interessiert sich für alle ernsthaften Dinge; er begeistert sich für die Schönheit, die ihn anzieht, für die Wissenschaft, die ihn bezaubert, für die Philosophie, nach der er dürstet. Seine Anstrengungen zu einer tieferen und weiteren Kultur hören nicht auf. Er ist niemals der Meinung, genug zu wissen. Je mehr er lernt, je mehr gefällt er sich darin, sich zu erziehen. Aus Instinkt fühlt er, daß, wenn er die Anderen aufklären will, er zunächst sich selbst mit Leuchtkraft versehen muß.

Jeder Anarchist ist ein Propagandist; er würde leiden, wenn er seine Überzeugungen verschweigen würde, die ihn beseelen und seine größte Freude besteht darin, bei jeder sich bietenden Gelegenheit um sich herum das Apostelamt seiner Ideen auszuüben. Er betrachtet es als einen verlorenen Tag, wenn er nichts gelernt, noch gelehrt hat und er schätzt den Kult seines Ideals so hoch, daß er immer beobachtet, vergleicht, überlegt und studiert, teils, um sich diesem Ideal zu nähern und sich ihm würdig zu zeigen, teils um mehr in der Lage zu sein, es zu erklären und erstrebenswerter zu machen.

Und dieser Mensch sollte ein Rohling sein? Und dieses Individuum könnte von einer krassen Unwissenheit sein?

Lüge! Verleumdung!

***

Die verbreitetste Meinung ist, daß die Anarchisten Haßsüchtige und Gewaltsüchtige sind. Ja und nein. Die Anarchisten hassen; sie sind lebenskräftig und vielseitig; aber ihr Haß ist nur die logische, notwendige und unausbleibliche Konsequenz ihrer Liebe.

Sie hassen die Knechtschaft, weil sie die Unabhängigkeit lieben; sie verabscheuen die Ausbeutung der Arbeit, weil sie die freie Arbeit lieben; sie bekämpfen heftig die Lüge, weil sie glühend die Wahrheit verteidigen; sie verfluchen die Ungerechtigkeit, weil sie den Kultus der Gerechtigkeit üben; sie hassen den Krieg, weil sie leidenschaftlich für den Frieden kämpfen.

Wir könnten die Aufzählung dieser Dinge beliebig verlängern und zeigen, daß der Haß ihrer unerschütterlichen Überzeugung entspringt, daß er gerecht und fruchtbringend ist, denn er ist fleckenlos und geheiligt.

Wir sind nicht von Natur aus Hassende, sondern im Gegenteil von einem liebevollen, empfindlichen Herzen und von einem Temperament das der Liebe, Freundschaft, Solidarität und allem, was geeignet ist Individuen einander wieder näher zu bringen, geneigt ist. Es könnte auch garnicht anders sein, da es doch das Höchste unserer Ideale und Ziele ist, alles zu unterdrücken, was die Menschen zu einer feindlichen Haltung der Einen gegen die Anderen zwingt: Eigentum, Regierung, Kirche, Militarismus, Polizei, Justiz.

Unser Herz blutet und unser Gewissen bäumt sich auf bei dem Kontrast von Not und Überfluß. Unsere Nerven zittern und unser Inneres sträubt sich bei dem Gedanken an die Qualen derjenigen, die zu Millionen in allen Ländern in den Gefängnissen und Zuchthäusern schmachten. Unser Empfinden schaudert und unser ganzes Wesen entrüstet sich bei dem Gedanken an die Metzeleien, Unmenschlichkeiten und Gräßlichkeiten auf den vom Blute der Kämpfenden getränkten Schlachtfeldern.

Die eigentlichen Hassenden, das sind die Reichen, die ihre Augen schließen vor dem Bilde der Armut, das sie umgibt und dessen Ursache sie sind; die Regierenden sind es, die trockenen Auges ein Blutbad anordnen; verabscheuungswürdige Profitjäger sind es, die in Blut und Schlamm ihr Glück erraffen, Polizeihunde sind es, die ihre Klauen in das Fleisch der armen Teufel einkrallen; und Richter sind es, die ohne mit der Wimper zu zucken, die Unglücklichen im Namen des Gesetzes und der Gesellschaft verurteilen, damit sie begreifen, was es heißt, Opfer dieses Gesetzes und dieser Gesellschaft zu sein.

Was die Anklage der Gewalt betrifft, womit man uns niederdrücken will, genügt es, um gerecht sein zu wollen, nur die Augen zu öffnen. Und man kann konstatieren, daß in der ganzen gegenwärtigen Welt, sowie in den verflossenen Jahrhunderten, die Gewalt regiert, herrscht, zermalmt und meuchelt. Sie ist die Regel, sie ist heuchlerisch organisiert und systematisiert. Sie betätigt sich alle Tage in der Gestalt des Steuereinnehmers, des Eigentümers, des Unternehmers, des Gendarmen, des Gefängnisaufsehers, des Henkers, berufsmäßig unter den vielfachen Formen des Zwanges, der Gewalt und der Brutalität.

Die Anarchisten wollen die freie Übereinkunft organisieren, die brüderliche Hilfe, die harmonische Übereinstimmung. Aber die Vernunft, die Geschichte und Erfahrung sagt ihnen, daß sie ihren Willen zum Wohlstande und zur Freiheit für alle, nur auf den Trümmern der bestehenden Institutionen aufbauen können. Sie haben das Bewußtsein, daß nur eine gewaltsame Revolution über den Widerstand der Herren und ihrer Gedungenen Recht behalten wird.

Die Gewalt wird also für sie eine Schicksalsfrage; sie erleiden sie, aber sie betrachten sie nur als eine zu erwidernde Rückwirkung, die durch den Zustand der gerechten Verteidigung, in dem sich die Enterbten zu jeder gegebenen Stunde befinden, notwendig gemacht wird.

II. Was wir wollen

Der Anarchismus ist nicht eine jener Doktrinen, die den Gedanken einmauern und brutal jeden in Bann tun, der sich nicht allem und jedem unterwirft.

Der Anarchist widersetzt sich aus Temperament und Bestimmung jeder Einteilung, die dem Geist Grenzen vorschreibt und das Leben umzirkelt.

Er hat und kann weder ein Glaubensbekenntnis, noch einen freiheitlichen Katechismus haben. Was vorhanden ist und in dem besteht, was man die anarchistische Doktrine nennen könnte, das ist eine Gesamtheit von allgemeinen Prinzipien, grundsätzlichen Anschauungen und praktischen Anwendungen, worauf die Übereinstimmung der Individuen begründet ist, die der Autorität feindlich gesinnt sind und einzeln oder gemeinsam gegen alle politischen ökonomischen, geistigen, moralischen Lehren und Einschränkungen, die sich daraus ergeben, ankämpfen.

Es gibt in der Tat mehrere Schattierungen bei den Anarchisten; aber einen Zug haben alle gemeinsam: die Verneinung des autoritären Prinzips in der sozialen Organisation und der Haß gegen alle Zwangsmittel, die aus Institutionen hervorgehen, die auf diesem Prinzip gegründet sind.

Also Jeder, der die Autorität verneint und sie bekämpft ist Anarchist.

Man kennt die anarchistischen Ideen wenig; man kennt sie schlecht. Es ist daher notwendig, das Vorangegangene ein bißchen genauer zu bestimmen und zu entwickeln.

***

In den gegenwärtigen Gesellschaften, die man sehr zu unrecht zivilisiert nennt, hüllt sich die Autorität in drei Hauptformen, welche drei Zwangsgruppen erzeugen:

  1. Die politische Form: den Staat;
  2. Die wirtschaftliche Form: das Eigentum;
  3. Die moralische Form: die Religion. (1)

Die erstere: der Staat verfügt selbstherrlich über die Personen;
die zweite: das Eigentum, herrscht despotisch über die Sachen;
die dritte: die Religion, bedrückt das Selbstbewußtsein und tyrannisiert den Willen.

Der Staat nimmt den Menschen schon in der Wiege in Beschlag, schreibt ihn ein in die Register des Bürgerstaats, hält ihn in der Familie fest, wenn er eine hat, oder im Buch der Armenpflege, wenn er von den Seinen verlassen ist. Denn schließt er ihn in das Netz seiner Gesetze, Verordnungen, Verbote, Verpflichtungen ein, so wird er in der Tat ein Untertan, ein Steuerpflichtiger, ein Soldat, mitunter ein Inhaftierter oder Galeerensklave; endlich, im Falle eines Krieges, ein Mörder oder Gemordeter.

Das Eigentum herrscht über die Sachen: Grund und Boden, Produktionsmittel, Transport und Austausch; alle diese Werte, die ihrem Ursprunge und ihrer Bestimmung gemäß Gemeingut sind, sind nach und nach, durch Raub, Eroberung, Betrug, List oder Ausbeutung die Sache einer Minderheit geworden. Das ist die Autorität über die Dinge, geheiligt durch die Gesetzgebung und bestätigt durch die Gewalt. Der Eigentümer hat das Recht zu gebrauchen und zu mißbrauchen (jus utendi et abutendi), der Besitzlose die Pflicht, wenn er leben will, zu arbeiten für Rechnung und Profit derjenigen, die alles gestohlen haben. ("Eigentum", sagte Proudhon, "ist Diebstahl.")

Das Gesetz, eingeführt durch die Räuber und gestützt auf einen äußerst mächtigen Gewaltapparat, heiligt und erhält den Reichtum der einen und die Armut der Anderen. Die Autorität über die Sachen, das Eigentum, ist in diesem Punkte strafrechtlich geschützt und unantastbar, sodaß in den Gesellschaften, wo es bis zu seinen extremsten Grenzen ausgedehnt ist, die Reichen ganz nach ihrem Wohlbehagen straflos schwelgen können, während die Armen infolge Mangel an Arbeit vor Hunger sterben. ("Der Reichtum der einen", sagte der liberale Ökonomist J. B. Say, "ist geschaffen aus dem Elend der andern.")

Die Religion - dieses Wort in seinem ausgebreitetsten Sinne genommen und sich auf alles beziehend was Dogma heißt - ist die dritte Form der Autorität. Sie lastet schwer auf Geist und Willen; sie umnebelt den Gedanken, verwirrt die Meinung, ruiniert die Vernunft und unterjocht das Gewissen. Die ganze intellektuelle und moralische Persönlichkeit des menschlichen Wesens ist dabei ihr Sklave und Opfer.

Das kirchliche und nichtkirchliche Dogma - entscheidet von oben, verordnet brutal, genehmigt oder tadelt, schreibt vor oder verordnet ohne Widerspruch: "Gott will es oder er will es nicht - Das Vaterland fordert es oder untersagt es - Die Moral und die Justiz befehlen oder verbieten."

Indem die Religion sich verhängnisvoll über das ganze soziale Leben ausbreitet, schafft, erhält und entwickelt sie einen Zustand des Gewissens und der Moral, der in vollkommener Übereinstimmung mit der im Gesetzbuch festgelegten Moral der Wächterin und Schützerin des Eigentums und des Staates steht, den die Religion sich zum Komplizen macht, womit sie das wird, was man in gewissen, vom Aberglauben, vom Chauvinismus, von der Gesetzlichkeit und vom Autoritätswahn angesteckten Kreisen so gern "Die vorbeugende, ergänzende Gendarmerie" nennt.

Ich behaupte nicht, die Aufzählung aller Formen der Autorität und des Zwanges, erschöpft zu haben. Ich nenne nur die wesentlichsten und damit man sich besser zurechtfindet, klassifiziere ich sie. Das ist alles.

***

Als Verneiner und unversöhnliche Gegner des autoritären Prinzips, das einer Handvoll Privilegierten die ganze soziale Macht in die Hand gibt und Gesetz und Gewalt in deren Dienste stellt, führen die Anarchisten einen erbitterten Kampf gegen jede Institutionen, die aus diesem Prinzip hervorgehen und rufen zu diesem Kampf die große Masse derjenigen auf, die von diesen Institutionen erdrückt, ausgehungert, herabgewürdigt und getötet werden.

Wir wollen den Staat vernichten, das Eigentum aufheben und den religiösen Betrug aus dem Leben streichen, damit alle Menschen, befreit von den Ketten, deren Schwere den Fortschritt hindert und lähmt - ohne Gott noch Herr und unbehindert in ihren Bewegungen - sich mit einem beschleunigten und sicheren Schritt einem Zustande des Wohlstandes und der Freiheit zuwenden können, der die irdische Hölle in einen Aufenthaltsort der Glückseligkeit verwandeln wird.

Wir haben die unerschütterliche Überzeugung, daß, wenn der Staat, der allen Neid und Ehrgeiz nährt, wenn das Eigentum, das Habsucht und Haß erzeugt, wenn die Religion, welche die Unwissenheit erhält und die Heuchelei erweckt, vom Tode ereilt sein werden, auch die Laster, die diese drei verbundenen Autoritäten in die Herzen der Menschen pflanzten, verschwinden werden. "Tot ist das Tier, tot ist das Gift."

Dann wird niemand mehr versuchen zu befehlen, da einerseits niemand mehr da ist, der gehorchen wird und andererseits jede Waffe der Unterdrückung gebrochen ist; niemand wird sich mehr auf Kosten anderer bereichern können, da es ein Sonderglück nicht mehr gibt, lügnerische Priester und heuchlerische Moralisten werden ihren ganzen Einfluß verlieren, denn Natürlichkeit und Wahrheit werden wieder in ihre Rechte getreten sein. 

Das ist in großen Umrissen die anarchistische Doktrine. Das ist was die Anarchisten wollen.

***

Der Anarchismus birgt in der Praxis einige Konsequenzen in sich, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Die kurze Darlegung folgender Sätze dürfte genügen, die Anarchisten allen Gruppierungen gegenüber zu stellen und zu präzisieren, in welcher Beziehung wir uns von allen anderen sozial-philosophischen Schulen unterscheiden.

Erste Konsequenz. Derjenige, der die moralische Autorität, die Religion, verneint und bekämpft, ohne die beiden Anderen zu bekämpfen, ist kein wahrer Anarchist. Denn obgleich Feind der moralischen Autorität und des Zwanges, den sie mit sich bringt, bleibt er Anhänger der wirtschaftlichen und politischen Autorität.

Dasselbe gilt für denjenigen, der das Eigentum verneint und bekämpft, die Rechtmäßigkeit des Staates und der Religion aber zuläßt und erhält.

Und ebenso gilt das Gleiche für denjenigen, der den Staat verneint und bekämpft. Die Religion und das Eigentum aber zuläßt und unterstützt.

Der wirkliche Anarchist verurteilt und bekämpft mit derselben Überzeugung und dem gleichen Eifer alle Formen und Manifestationen der Autorität und er erhebt sich mit der gleichen Energie gegen jeden Zwang, den diese oder jene mit sich bringt. Der Anarchismus ist also in der Praxis wie in der Theorie antireligiös, antikapitalistisch (der Kapitalismus ist die gegenwärtige Form des Eigentums) und antistaatlich. Er führt in einer Front den dreifachen Kampf gegen die Autorität. Er schont mit seinen Angriffen weder den Staat, noch das Eigentum, noch die Religion. Er will sie alle drei vernichten.

Zweite Konsequenz: Die Anarchisten erwarten von einem einfachen Wechsel der Personen, welche die Autorität ausüben keinen Erfolg. Sie sehen in den Regierenden und Besitzenden, in den Priestern und Moralisten Menschen wie alle andern, die von Natur aus weder schlechter noch besser sind wie jeder gewöhnliche Sterbliche. Wenn sie Menschen in die Gefängnisse werfen oder töten, wenn sie von der Arbeit anderer leben, wenn sie übereinkunftsgemäß eine falsche Moral lehren, so tun sie es, weil ihre Geschäftigkeit und Gewohnheit sie in die Notwendigkeit versetzt, zu unterdrücken, auszubeuten und zu lügen.

In der sich abspielenden Tragödie ist es die Rolle der Regierung, welche es auch sein mag, zu unterdrücken, Kriege vorzubereiten, Steuern einzutreiben, Gesetzesübertreter heimzusuchen und Empörer niederzumetzeln; es ist die Rolle des Kapitalisten, wer immer es auch sei, die Arbeit auszubeuten und als Parasit zu leben; es ist die Rolle des Priesters und des Morallehrers, den Gedanken zu ersticken, das Wissen zu verdunkeln und den Willen zu fesseln. (2)

Deshalb führen wir Krieg gegen alle Taschenspieler der politischen Parteien, ganz gleich welche es auch sein mögen. Ihr einziger Wunsch zielt nur darauf ab, die Massen, deren Stimmen sie erbetteln, zu überzeugen, daß alles schlecht geht, weil sie nicht regieren und alles gut gehen würde, wenn sie an der Regierung wären.

Dritte Konsequenz: Aus dem bereits Gesagten geht logischerweise hervor, daß wir im selben Maße Gegner der Autorität sind, ganz gleich, ob sie ausgeübt oder ob sie erlitten wird.

Nicht gehorchen, aber selbst befehlen wollen, die Ausbeutung seiner Arbeit nicht zulassen wollen, aber die Ausbeutung fremder Arbeit gutheißen, bedeutet: nicht Anarchist sein. Der Anarchist lehnt es ebenso ab, Befehle zu geben, als solche zu empfangen. Er empfindet gegen die Bedingungen des Vorgesetzten denselben Widerwillen, wie gegen die des Untergebenen. Er heißt ebensowenig die Ausbeutung und Nötigung anderer gut, als er selbst nicht ausgebeutet und genötigt sein will. Er hält sich in gleicher Entfernung vom Herrn sowohl als vom Sklaven. Ich kann wohl wagen zu erklären, daß unter Berücksichtigung bestimmter Umstände, wir denen mildernde Umstände zubilligen, die sich dem Gehorsam fügen, die wir aber ausdrücklich denen versagen, die sich zum Befehlen hergeben, denn die ersteren befinden sich oftmals in der Notwendigkeit - es ist in gewissen Fällen für sie eine Frage des Seins oder Nichtseins - der Revolte zu entsagen, während niemand gezwungen ist, zu befehlen oder die Funktion eines Herrn oder Vorgesetzten auszuüben.

Und hier kommt der tiefe Gegensatz zum Ausbruch, die unübersteigbare Kluft, welche die anarchistischen Gruppierungen von allen politischen Parteien, die sich revolutionär nennen oder als solche gelten, trennt. Denn von der ersten bis zur letzten, von der weißesten bis zur rötesten, suchen alle Parteien diejenige von der Macht zu verdrängen, die sie j weilig ausübt, um ihrerseits die Herren zu werden. Alle sind sie Anhänger der Autorität, vorausgesetzt daß sie sie selbst in den Händen haben.

Vierte Konsequenz: Wir wollen nicht nur alle Formen der Autorität aufheben, sondern wir proklamieren die totale und gleichzeitige Zerstörung derselben als unerläßliche Aufgabe.

Warum?

Weil alle Formen der Autorität sich aneinander halten. Sie sind unlöslich miteinander verknüpft. Sie sind solidarisch und miteinander verschworen. Eine einzige bestehen lassen, das würde die Wiederauflebung aller begünstigen. Wehe den Generationen, die nicht den Mut haben werden, bis zur gänzlichen Ausrottung des Krankheitskeimes, bis zum Sitz der Ansteckung zu gehen. Die Fäulniserscheinungen würden schnell wiederkehren. Harmlos im Anfang, weil unmerklich und unscheinbar und wie ohne Kraft, würde sich der Keim entwickeln und befestigen. Und wenn sich so das Übel heimtückisch im Schatten bis zu einer gewissen Größe entwickelt haben würde, würde es eines Tages im vollen Lichte zum Ausbruch kommen. Und von neuem würde der Kampf begonnen werden müssen, um das Übel endgültig auszurotten.

Nein, nein! Keine Flickarbeit, keine halben Maßnahmen, keine Zugeständnisse! Alles oder nichts!

Der Krieg ist erklärt zwischen zwei Prinzipien, welche um die Weltherrschaft streiten: Autorität oder Freiheit. Die Demokratie ist der Traum einer unmöglichen Versöhnung. Die Erfahrung hat die Widersinnigkeit der Vereinigung zweier Prinzipien gezeigt, die sich einander ausschließen. Es ist nötig, sich zu entscheiden.

Einzig die Anarchisten sprechen sich zu Gunsten der vollen Freiheit aus. Sie haben die ganze Welt gegen sich.

Gleichviel! Sie werden siegen!

III. Unsere Revolution  

"Die Anarchisten wollen einen Gesellschaftszustand schaffen, der jedem Individuum den größtmöglichsten Wohlstand und die größtmöglichste Freiheit sichert, angemessen jeder Zeitepoche."

Man präge sich diese Erklärung gut ein; wiege allmählich und ohne sich zu beeilen jedes Wort, folge der unerbittlichen Verkettung des ausgedrückten Gedankens und man wird das ganze anarchistische Programm verstehen.  Es sind etwa dreißig Jahre verflossen (1894), daß ich in meinem Buche "La Douleur universelle" (Der Weltschmerz), diese Zeilen geschrieben habe.

"Wohlstand und Freiheit!"

Dieses war der Wahlspruch der Anarchisten von gestern und von heute und man kann frei heraus sagen: das wird der Wahlspruch der Anarchisten von morgen sein.
 
"Wohlstand und Freiheit", jedem Individuum in seiner weitesten Möglichkeit gesichert, das ist das bleibende Ziel, auf welches die Anarchisten aller Zeiten ihren ganzen Willen gerichtet hatten und richten werden.

Ist der Weg, der zu einem sich immer vermehrenden Wohlstand und zu einer sich immer mehr vervollkommenden Freiheit führt, erst einmal jedem Individuum, d.h. jedem menschlichen Wesen ohne Ausnahme geöffnet, wird sich der Andrang zeigen, der Marsch vorwärts wird seinen Lauf nehmen, ebenso schnell als weit - und immer weiter ohne Aufenthalt - als unbegrenzter Fortschritt.

Aber vor allen Dingen ist es unerläßlich, daß der Weg frei wird und damit er es wird, ist es notwendig, die Hindernisse zu zersprengen, die ihn versperren.

Wir haben gesehen, daß diese Hindernisse sind: der Staat, das Eigentum und die Religion. Dieses dreifache Hindernis kann nur beseitigt werden durch die gewaltsamen und siegreichen Anstrengungen der ausgebeuteten, unterdrückten und betrogenen Massen.

Dieses ist das erste Hauptwerk der Revolution; besser: Das ist die Revolution selbst.

Die Eingeweihten des unpolitischen Syndikalismus, jenes Syndikalismus, der die Vormundschaft der politischen Parteien zurückweist und aus sich allein, aus seinen vorhandenen Stärkeverhältnissen, seiner Organisation und seiner selbständigen Aktion, alle Kräfte schöpft, die er nötig hat, um die Arbeit zu befreien und seine Ziele der gänzlichen Befreiung zu verwirklichen, haben diese Wahrheit begriffen.

Sie, und alle diejenigen, die ernsthaft und von ganzem Herzen an der sozialen Revolution arbeiten, haben verstanden, was nottut.

***

Man mißbraucht dieses bezaubernde Wort: "Revolution!" Man entehrt es, und wenn die Anarchisten nicht da wären, um ihm seine reine, hohe, klare und genaue Bedeutung zu erhalten, es würde verblassen und ebenso seines eigentlichen Sinnes beraubt werden wie das Wort: "Republik" oder das Wort: "Demokratie".

Die Übernahme der Macht seitens der sozialistischen Partei hat nichts gemein mit einer Revolution, deren Zweck ist und deren Resultat sein soll: das Verschwinden der sich bekämpfenden Klassen durch die Expropriation der Expropriateure (d.h. der Kapitalisten) und der Erklärung sämtlicher Reichtümer und Produktionsmittel als Gemeingut.

Die Eroberung der Macht durch die kommunistische Partei, die Besitznahme des Staates durch die Bauern und Arbeiter und die Organisation der sogenannten Diktatur "des Proletariats", sind nur die Maske und die Verneinung der sozialen Revolution, statt ihr wirkliches Gesicht und Bestätigung.

Sicherlich kann niemand den sozialistischen Parteien und den Kommunisten untersagen, von sich zu behaupten, revolutionär zu sein, aber für uns ist es offenbar, daß sie es nicht sind.

Die Richtigkeit dieser Behauptung ist in der Theorie und der Praxis so oft bewiesen worden, und die Tatsachen haben sie so stark und häufig bestätigt, daß es überflüssig ist, noch einmal den Beweis dafür zu erbringen.

In Wahrheit sind nur die Anarchisten wirkliche und positive Revolutionäre, da nur sie allein sich nicht vornehmen, den gegenwärtigen Zustand der Dinge mehr oder weniger gründlich umändern zu wollen, besonders den Staat und das Eigentum, sondern entschlossen sind, den Staat gänzlich aufzuheben und das Eigentumsrecht endgültig abzuschaffen.

Man sieht, es gibt eine ganze Welt von Trennungspunkten zwischen unserer Revolution, die darauf gerichtet ist, nicht eine einzige der gegenwärtigen Institutionen, der Tyrannei, der Unterdrückung, der Ausbeutung, der Lüge und des Hasses bestehen zu lassen, und der von den sozialistischen und kommunistischen Parteien gelobhudelten Pseudo-Revolution die sich beschränkt, diese Institutionen mehr oder weniger zu verbessern und deren Oberfläche ein anderes Aussehen zu geben.

***

Es bleibt noch übrig unsere revolutionären Methoden anzudeuten und deren Wert festzustellen. So wie wir die soziale Revolution verstehen, beinhaltet und umfaßt sie notwendigerweise drei Perioden, die methodisch aufeinander folgen und sich chronologisch verketten:

Erste Periode: Vor der Revolution;
Zweite Periode: Während der Revolution;
Dritte Periode: Nach der Revolution.

Es ist wie ein erdichtetes Drama, dessen Handlung mit dem ersten Akt beginnt, im zweiten seinen entscheidenden Höhepunkt erreicht und im dritten sich entwirrt.

In bezug auf die Revolution schreibt man den Anarchisten merkwürdige romantische Vorstellungen, veraltete Ansichten und Albernheiten zu.

Ich bin Hunderten von Leuten begegnet, - und wer weiß, wievielen dieser Art ich noch begegnen werde - die mir die ungeheure Frage stellten: "Wenn eines Abends oder eines Morgens die Revolution ausbricht, was würden sie dann tun?" Und man muß den Ton und die Gebärde gehört und gesehen haben, mit welcher man mir diese "kniffliche" Frage stellte!

Nun wohl, ich antwortete auf eine solche absurde Frage nicht. Jawohl, absurd ist diese Frage, wenn sie sich an die Anarchisten wendet. O! ich verstehe die Frage, wenn man sie den Sozialisten und Kommunisten stellt. Für sie genügt es, daß sie sich der Macht bemächtigen, sich dort einrichten und an der Macht bleiben und damit ist die Revolution für sie eine vollendete Tatsache: Man braucht nur noch die Diktatur einzurichten, um den neuen Staat zu verteidigen und zu stabilisieren.

Am folgenden Tage gibt es, wie in Vergangenheit, Regierende und Regierte, Macht ausübende Diktatoren und eine Masse von Sklaven, Obere und Untere, fett Honorierte und mager Bezahlte, eine Menge von Beamten und Bürokraten, Schwärme von Parasiten, die umsomehr herumsummen und agitieren, je weniger sie produzieren; es gibt einen Staat mit seinen Gesetzen, Gerichtshöfen und Gefängnissen, mit seinen Richtern, Gendarmen, Diplomaten, Politikern und Soldaten.

Im Grunde ist nichts geändert, außer der Etiquette und der Farbe: Beweis: Rußland, wo der Zar sich X, Y oder Z nennt und die Minister Volkskommissare, Volksbeauftragte heißen, wo die Polizeispitzel    und Soldaten rot sind, wo die Börsenwucherer ihre Butter machen, wo einige über ihren Hunger essen, während die zahllose Menge der Bauern und Arbeiter sich den Riemen enger schnüren müssen.

Es ist nicht zweifelhaft, daß eine Revolution dieses Kalibers eines Morgens oder Abends ausbrechen kann, durch einen einfachen Gewaltstreich, der geschickt vorbereitet und glücklich ausgeführt wird.

Aber man sage uns, was hat dieser Wechsel der Etiquette und der Farbe gemeinsam mit der sozialen Revolution?     

Ich lese wohl auf dem Etiquett, welches das Fläschen trägt: "Arbeiter- und Bauernstaat; proletarische Diktatur; Räteregierung." Ich sehe auch noch, daß das Fläschchen und das Etiquett von roter Farbe sind; aber die in dem Fläschchen enthaltene Flüssigkeit ist nicht gewechselt und es ist immer das vergiftete Getränk der Knechtschaft, des Elends und der Lüge, das ihm entfließt.

Unsere Revolution, wird die ganze gegenwärtige politische, ökonomische und moralische Struktur von Grund auf zerstören und auf diesen Trümmern wird sie ein soziales Milieu einrichten, das jedem Individuum ein Maximum von Wohlstand und Freiheit sichern wird.

Ein solches Resultat - töricht, wer es nicht begreift - setzt eine vorbereitende Periode voraus, deren Dauer durch nichts bestimmt werden kann. Aber es ist vernünftig, anzunehmen, daß sie eine gewisse Zeit umfassen wird.

Wenn einerseits der politische Wirrwarr, der Mangel an wirtschaftlichem Zusammenhang, die skandalösen Übergriffe der regierenden Klassen, beim Volke den Gipfel der Entrüstung hervorgerufen haben werden; wenn andererseits die Erziehung der Arbeiter die Erkenntnis derselben in dem Grade gesteigert haben wird, daß sie sich der Unfähigkeit der Bourgeoisie und ihrer eigenen Fähigkeit bewußt geworden sein werden; wenn das Proletariat seine Organisation verstärkt, seine Kampfgruppen vermehrt und gefestigt haben wird; wenn es endlich durch eine Reihe von Kämpfen - Streiks, Aufständen, Unruhen aller Art, die in gewissen Fällen bis zum Aufruhr gehen - trainiert sein wird; nun, dann wird ein Tropfen Wasser genügen, um die Schale zum überfließen zu bringen und damit den Ausbruch der Revolution herbeizuführen.

Der erste Akt dieses gewaltigen Dramas erfordert also:
a) Einen Bruch, mehr und mehr sichtbar, in dem politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gleichgewicht des kapitalistischen Regimes;
b) Eine beharrliche und aktive Propaganda, welche die revolutionäre Erziehung der Arbeiter anspornt.
c) Eine gesunde und mächtige Organisation, die fähig ist, zu der durch die Wichtigkeit der Umstände bestimmten Stunde, alle revoltierenden Kräfte, bestehend in zahlreichen und energischen Gruppierungen, zu verbinden.
d) Ein Proletariat, das durch eine Reihe von vorhergegangenen Verwirrungen, Unruhen, Streiks, Aufständen und Empörungen, soweit gebracht ist, daß es sich zu einer entscheidenden Aktion hinreißen läßt.

Wenn diese Bedingungen sich vereinen, kann man gewiß sein, daß eine Revolution, begünstigt durch eines jener Ereignisse, das die in Wallung gebrachten Volksmassen leidenschaftlich erfaßt und mit sich fortreißt gegen ein Regime, das sie stürzen wollen, nicht auf halbem Wege stehen bleiben wird.

Diese Bewegung, bei der die Anarchisten die ersten sein werden, um sich ihr mit einer Begeisterung, Kraft und Entschlossenheit, die man ihnen nicht gut absprechen kann, zu widmen und sie zu beseelen, wird bis zum Ende gehen, d.h. bis zum Siege.

Diesen längeren oder kürzeren Phasen des revolutionären Dramas wird dessen zweiter Akt folgen: der    entscheidende Höhepunkt. Er wird nicht eher beendet sein, als bis der reine und belebende Atemzug der Revolution, alle Institutionen des Despotismus, des Diebstahls, der intellektuellen Entartung und moralischen Fäulnis - die auf dem Boden jedes sozialen Regimes wurzeln, das sich vom autoritären Prinzip leiten läßt, hinweggefegt haben wird.

Die Revolution wird in ihrem Schoße alle Keime zur Entwicklung einer neuen Welt tragen, die sie gebären wird unter der Angst und dem Schrecken der Privilegierten und unter dem Jubel und der Begeisterung der Enterbten.

Die Anarchisten werden dafür sorgen, daß sie keine Fehlgeburt wird. Sie werden aus den herben Lehren der revolutionären Bewegungen, die die Geschichte verzeichnet hat, Nutzen zu ziehen wissen; und solange es die Notwendigkeit erfordern wird, im Zustande des revolutionären Aufstandes verharren, um alle Versuche die politische, wirtschaftliche und moralische Autorität wieder aufzurichten, abzuwehren.

Die Beschützer der revolutionären Eroberungen werden in keine Macht ihr Vertrauen setzen. Zur Verteidigung dieser Eroberungen gegen jede Diktatur werden sie die Masse endlich befreiter Sklaven aufrufen.

Als bleibende Feinde des Autoritätsprinzips und seiner unseligen Folgen, werden die Anarchisten nach dem revolutionären Sturm, sowie vor und während desselben sich darauf beschränken, die Masse der Arbeiter immer wieder anzuspornen, sowie ihre Berater und Wegweiser zu sein. Sie werden die ersten Schritte der Masse stützen und die Richtung angeben für den endgültig geöffneten Weg der freien Organisation des sozialen Lebens.

Und noch erschüttert vom kaum beendeten siegreichen Kampf wird sich diese Masse ihr Vertrauen zu den Anarchisten nicht abhandeln lassen, die durch die Kühnheit ihrer Initiative, der Unerschrockenheit ihres Handelns und dem Beispiel ihrer Uneigennützigkeit, die besten Kämpfer für den Sieg gewesen sein werden.

Klar wissend, was sie um jeden Preis wollen und noch besser, was sie um jeden Preis nicht wollen, werden die Anarchisten, Nutzen ziehend aus dem Vertrauen, dessen sie sich würdig gezeigt nahen, allen Versuchen der politischen Oberherrschaft oder wirtschaftlichen Ausbeutung eine feste und unbesiegbare Kampffront entgegenstellen.

Ihre Aufgabe wird damit noch nicht beendet sein. Sie wird noch darin bestehen, Abirrungen und verkehrte Manöver zu vermeiden, und darin, sich vor allen Dingen zu befleißigen, jedem unverzüglich die Vorteile einer wahren Revolution fühlbar zu machen.

Die Anarchisten werden sich mit Eifer dafür verwenden, die arbeitenden Massen zu begeistern und ihre Anstrengungen nach Kräften zu unterstützen; so daß sie in sich selbst, in ihrer schöpferischen Macht und in ihren natürlichen Fähigkeiten, verbunden mit ihren Erfahrungen, die höchsten Formen brüderlicher Produktion, gerechter Verteilung der Reichtümer, deren Ursprung einzig die Arbeit ist, suchen und finden werden.

Die Wachsamkeit der Genossen wird nicht nachlassen, bevor alle Institutionen der Räuberei und Bedrückung gänzlich vernichtet sein werden; sie wird nicht nachlassen, als bis die Liebe und die Praxis des freien Lebens den neuen Menschen so erfüllt haben werden, daß jede angreiferische Wiederkehr autoritärer Verschwörungen zur Ohnmacht verurteilt sein wird.

Wenn die Masse der Bauern und Arbeiter ihr eigenes Schicksal selbst in die Hand genommen haben werden, wenn sie als ihre eigenen Führer sich in der Bemeisterung ihrer Regungen, Gedanken und Gefühle geübt haben werden, dann werden sie auch nicht zögern, in sich selbst jenes Vertrauen zu setzen, das zu allen Zeiten die Führer sich bemühten, ihnen zu nehmen, indem sie den Glauben der mißbrauchten Massen an die Notwendigkeit der Führer zu ihrem eigenen Vorteil ausbeuteten.

Nun, dank dem freien Einverständnis, dank der brüderlichen Übereinstimmung, das die Herren dann nicht mehr werden verwirren können, endlich dank dem Geiste der Solidarität, der aus dem Verschwinden der Klassen und der Übereinstimmung individueller Interessen natürlicherweise hervorgehen wird, wird sich eine soziale Struktur aufrichten, immer schöner, immer geräumiger, immer freudiger und lichtvoller, wo jeder Einzelne sich je nach seinem Wohlbehagen einrichten wird und wo jeder Sterbliche den Zauber des Friedens, die Annehmlichkeit des Wohlstandes, die Freuden der Kultur und die unvergleichlichen Wohltaten der Freiheit kosten wird.

Fußnoten:
1.) Es ist selbstverständlich, daß der Sinn, den ich hier dem Worte Religion beilege, um vieles denjenigen überragt, den man ihm geläufig beilegt. Das Wort "Religion" umfaßt hier alles, was die Vernunft, die Sinne und den Willen, bindet, einkettet und lähmt. (s. etwas weiter) S. F.
2.) Wer weder unterdrücken, ausbeuten, noch lügen will, braucht es nur abzulehnen, Regierender, Chef, Richter, Polizist, Offizier usw. zu sein.

Originaltext: Sebastian Faure - Die Anarchisten. Wer wir sind. Was wir wollen. Unsere Revolution. Verlag "Der freie Arbeiter", Rudolf Oestreich, 1925 (PDF der Originalbroschüre)


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