BFAS - Kinder können Freiheit lernen

Im folgenden ein Grundlagentext des "Bundesverband der Freien Alternativschulen e.V." aus Deutschland, der meiner Meinung nach viele spannende Punkte enthält. Die Verbreitung des Textes hier ist kein Statement für den BFAS, sondern eine Anregung zur Auseinandersetzung mit Konzepten von "Lernen in Freiheit".

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"Man kann einen Menschen nicht gegen seinen Willen erziehen, so wenig wie man ihn gegen seinen Willen gesund machen kann. Er muß in beiden Fällen mitmachen - aus Freude oder aus Einsicht, am besten aus beidem. Das ist in der Erziehung möglich, wenn er wahrnimmt, daß er geliebt wird, und wenn er teilhat am Verfahren - wenn er nicht Objekt, sondern Subjekt des Vorgangs ist."
(Hartmut von Hentig)[1]

Stellen Sie sich vor, Sie kommen in die fünfte Klasse einer Freien Alternativschule. Der Raum ist in warmen, hellen Farben gestrichen. Auf einem Tisch inmitten des Raumes steht eine Vase mit einem großen Strauß aus Blumen und Herbstlaub. Der Raum ist mit Regalen in vier Lernbereiche geteilt. An den Wänden hängen farbenfrohe Bilder, die die Kinder gemalt haben. Die Lehrerin ist noch nicht in der Klasse. Nach und nach trudeln die 18 Kinder der "Pinguingruppe" ein. Markus setzt sich auf den Teppich, nimmt sich ein Buch und beginnt zu lesen. Fritz begibt sich an seinen Tisch und schreibt seine lange Phantasie-Geschichte weiter. Die meisten Kinder nehmen sich Selbstlernmaterialien aus den Regalen und beginnen damit zu rechnen und zu schreiben. Einige Mädchen sitzen zusammen und unterhalten sich, andere zeichnen. Die Lehrerin betritt die Klasse, begrüßt die Kinder, schaut sich an, was die Kinder tun und bittet sie dann zur Morgenrunde, in der unter anderem über besondere Vorhaben an diesem Tag gesprochen wird. Danach arbeiten die Kinder - ohne jede Anweisung der Lehrerin - weiter. So beginnt ein neuer Tag in einer Freien Alternativschule.

In Deutschland gibt es 86 (Stand: März 2010) dieser Schulen[2], europaweit ca. 300. Die Bezeichnung "Freie Alternativschulen" bürgerte sich in den Erziehungswissenschaften erst in den späten 80er Jahren ein, als nicht mehr zu übersehen war, dass es sich hier um eine eigenständige Schulreformbewegung handelt.[3] Das Wort "Freie" signalisiert nicht in erster Linie, dass es sich bei diesen Schulen um solche in freier Trägerschaft handelt, sondern um Orte der Bildung, die den Umgang mit Freiheit und Selbstverantwortung zu ihrem zentralen Anliegen machen. Dadurch unterscheiden sie sich von den meisten anderen Schulen.[4] Zwei FAS sind kommunale Schulen, alle anderen Schulen sind in freier Trägerschaft.

In den 70er Jahren bis in die 80er hinein gab es heftige ideologische Auseinandersetzungen um die Freien Alternativschulen, danach wurde es ruhig um sie. So konnte sich diese kleine Schulbewegung von der Öffentlichkeit kaum bemerkt weiterentwickeln. Wichtiger Bestandteil der Weiterentwicklung war die selbstkritische Beobachtung der eigenen Arbeit.[5] Die Ergebnisse dieser selbstkritischen Reflexion waren eine Einschränkung der ursprünglich absoluten Freiheit für die Kinder, eine aktivere Rolle der Erwachsenen in der Schule und die Herstellung eines Konsenses über Schlüsselbegriffe der Pädagogik der Freien Alternativschulen.

Eine Pädagogik der Freiheit und Verantwortung

Die Geschichte der Freien Alternativschulen ist die ständige Weiterentwicklung einer Pädagogik der Freiheit. Immer wieder neu werden diesen Schulen folgende Fragen gestellt, die allesamt mit der Förderung von Freiheit zu tun haben:

  • Welche Freiheiten für die Kinder sind in einer Freien Alternativschule möglich?
  • Unter welchen Bedingungen lässt sich der hohe Anspruch einer Pädagogik der Freiheit praktisch realisieren und wie geschieht das?
  • Welche Organisationsformen des Lernens und welche Methoden fördern die Freiheit der Eigentätigkeit der Kinder?
  • Wie lernen Kinder von Kindern?
  • In welchem Zusammenhang stehen Freiheit, Zuwendung, Verantwortung, Grenzen und Respekt?

Es ist das höhere Maß an Freiheiten, das Kinder und Jugendliche an Freien Alternativschulen deutlich unterscheidet von den Kindern und Jugendlichen an staatlichen Regelschulen und von anderen Schulen in freier Trägerschaft. Für diese Freiheiten gibt es viele Felder:

Unterricht in differenzierter Angebotsform: Nehme ich teil oder nicht?

Als Unterricht in differenzierter Angebotsform verstehen Freie Alternativschulen die freie Entscheidung der Kinder bzw. Jugendlichen über die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an den Lernangeboten der Erwachsenen in unterschiedlichem zeitlichen Umfang. Der Anteil von verbindlich wahrzunehmendem Unterricht ist freilich von Schule zu Schule sehr unterschiedlich. Er hängt ab vom Maß an Selbstregulierungsfähigkeit, das die Kinder in die Schule mitbringen. Außerdem spielt das Alter der SchülerInnen dabei eine wichtige Rolle. Je älter sie sind, desto mehr Triebverzicht und rationale Selbststeuerung werden ihnen abverlangt.

Die Freiheit, mit den Erwachsenen wichtige Angelegenheiten auszuhandeln

Diese Freiheit ist für Kinder und Erwachsene an Freien Alternativschulen ganz besonders bedeutsam. Würde man sie abschaffen, hätte das zur Folge, dass die Freien Alternativschulen ein wichtiges Merkmal ihrer Schulqualität einbüßen würden, weil diese Aushandlungsprozesse konstitutiv für die Atmosphäre[6] an Freien Alternativschulen sind. Ausgehandelt werden Inhalte für den Unterricht, die Regeln für die einzelnen Klassen und die ganze Schule, die Rechte von Mädchen gegenüber Jungen und umgekehrt, die Benutzung des Toberaums, die Häufigkeit von gemeinsamen Übernachtungen in der Schule, die Höhe des Taschengeldes für Schulfahrten und selbst Organisationsformen des Unterrichts. (Lieber intensiv pauken und dann Zeit für andere Dinge haben oder doch lieber nicht?) Nebenbei bemerkt: Viele Aushandlungsprozesse finden auch zwischen den Kindern statt. Ausgehandelt wird zwischen den kleinen und großen Kindern die Zeit für die Benutzung des Basketball- oder Fußballfeldes oder wer in welchem Umfang für Dienste wie Putzen, Aufräumen, Kochen usw. zuständig ist.

Die Freiheit des freien Spiels

An vielen anderen Schulen ist das freie Spiel nur in den Pausen möglich, an Freien Alternativschulen ist es ein normaler Bestandteil des Schulalltags, mit dem viel Zeit zugebracht wird. Denn: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller)

Die Freiheit spontanen Handelns

Spontanes Handeln hat mit schulischem Lernen im üblichen Sinne meist nichts zu tun. Freie Alternativschulen wollen auch gar nicht, dass alle spontanen Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen auf einen tieferen pädagogischen Sinn abgeklopft werden. Die Spontaneität von Kindern ist Ausdruck von Phantasie und Lebensfreude. Und Lebensfreude ist nicht begründungsbedürftig.

Bewegungsfreiheit

Kinder lernen in Bewegung, also nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper. Leo Tolstoi, der bekanntlich nicht nur Schriftsteller war, sondern auch Pädagoge, gab den Kindern in seiner 1862 gegründeten Schule „Jaßnaja Poljana“[7] absolute Bewegungsfreiheit, weil ihm die Bedeutung von Bewegung für den Lernprozess bewusst war. Auch große Reformpädagogen und Reformpädagoginnen wie z.B. Maria Montessori und Célestin Freinet ermöglichten es den Kindern in ihren Schulen, sich frei zu bewegen. Moderne physiologische und psychologische Erkenntnisse bestätigen die Auffassung, dass Bewegungsfreiheit zentral wichtig ist für erfolgreiches Lernen.[8]

Der Zwang, stundenlang stillzusitzen, ist für Kinder schwer zu ertragen. Denn "Kinder suchen sich in Bewegung auszudrücken.”[9]

Mit Hilfe der Bewegung schafft das Kind aktiv die Verbindung nach außen. Die Erfahrungen mit Bewegung sind eine Vorstufe für abstraktes, kognitives Denken. Die Strukturen der Intelligenz können nur durch konkrete Aktivität gebildet werden, und zwar unter Einbeziehung aller Sinne und größtmöglicher Bewegungsfreiheit. Eine freie Bewegungsentwicklung ist Voraussetzung für eine gesunde physische, psychische und kognitive Entwicklung des Kindes. Auch das emotionale Gleichgewicht steht im Zusammenhang mit der motorischen Aktivität. Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse ist es für Freie Alternativschulen ganz selbstverständlich, dass die Kinder viel Raum für Lernen in Bewegung haben, nicht nur im freien Spiel, sondern bei allen anderen Lernaktivitäten. Entsprechend sind die Schulräume eingerichtet und die Außengelände gestaltet.

Die Freiheit, nicht ständig kontrolliert zu werden

Kinder und Jugendliche an Freien Alternativschulen schätzen es sehr, dass sie nicht ständig unter der Kontrolle der LehrerInnen stehen. Viele Jahre der Erfahrung mit diesem Vertrauensvorschuss für die SchülerInnen bestärken die LehrerInnen in der Überzeugung, dass dieses Vertrauen höchst selten missbraucht wird.

Die Freiheit für Jungen und Mädchen, ungestört vom anderen Geschlecht unter sich sein zu können

Vor allem während der Ausbildung geschlechtsbezogener Identität haben Jungen und Mädchen zeitweise das Bedürfnis, unter sich sein zu können. An vielen Freien Alternativschulen gibt es deshalb Jungen- und Mädchenräume, über die jeweils nur die Mädchen bzw. nur die Jungen frei verfügen können.

Die Freiheit, LehrerInnen offen zu kritisieren

Für Kritik an LehrerInnen gibt es viele Gelegenheiten. Wachsam achten Kinder und Jugendliche darauf, dass ihre Freiheiten nicht unbotmäßig beschnitten werden, und falls das der Fall zu sein scheint, erhebt sich offener Protest. An Freien Alternativschulen kann es auch vorkommen, dass die Unterrichtsqualität kritisch kommentiert wird oder dass LehrerInnen sich kritische Rückmeldungen über den Umgangsstil mit den SchülerInnen anhören müssen.

Die Freiheit, Räume selbst zu gestalten

Kinder und Jugendliche an Freien Alternativschulen dürfen ihre Räume selbst gestalten. Manche machen Gebrauch davon, andere nicht. Bisweilen kommen dabei Raumgestaltungen zustande, die Besucher in Staunen versetzen, gelegentlich aber auch geschmackliche Entgleisungen.

Die freie Wahl zwischen unterschiedlichen Angeboten

Diese Wahl gilt z. B. für parallel laufende Projekte, Arbeitsgemeinschaften oder Kurse.

Individuelle Freiheit und Sozialität

Der Umgang mit den zuvor skizzierten Freiheiten bedarf immer wieder der Abstimmung mit anderen Kindern und mit den LehrerInnen. Diese Abstimmung untereinander verlangt den Kindern und Jugendlichen ein gerütteltes Maß an Selbstverantwortung, Empathie, Rücksichtnahme und Geduld ab. In diesen Aushandlungsprozessen aber liegt der Kern von Alltagsdemokratie, wie sie an Freien Alternativschulen gelebt wird. Hier kommt das Streben nach individueller Freiheit immer wieder auf den Prüfstand der Sozialität. Hier wird um Selbstbehauptung und Toleranz gerungen, um die Durchsetzung von Eigeninteressen und Rücksichtnahme und last not least um gegenseitigen Respekt. Respektvoller Umgang basiert an Freien Alternativschulen aber nicht auf einem Status oder Amt, egal, ob es sich um ein Kind, eine Lehrerin oder den Hausmeister handelt. Der Respekt gilt vielmehr dem Menschen als Persönlichkeit.

Pädagogik der Geborgenheit

Insbesondere Kinder in modernen Industriegesellschaften leiden unter der Brüchigkeit der Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern.[10] Deshalb wird an allen Freien Alternativschulen großer Wert darauf gelegt, dass die Kinder in der Schule Geborgenheit erleben können. Für das Entstehen von Geborgenheit sind folgende Voraussetzungen besonders förderlich:

Zwischen Kindern und Erwachsenen an Freien Alternativschulen besteht eine dichte Nähe und enge Vertrautheit, die einen unkonventionell offenen Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern ermöglicht. Die Kommunikationsformen sind gar nicht oder nur wenig formalisiert und vom Status der Beteiligten unabhängig. Kinder, die von anderen Schulen auf eine Freie Alternativschule gewechselt sind, fassen ihren Eindruck deshalb häufig in die Worte: "Hier ist einfach alles lockerer.

Freie Alternativschulen sind immer kleine einzügige Schulen. Die größte Freie Alternativschule in Deutschland hat ca. 270 SchülerInnen in den Jahrgängen 1 - 10, die kleinste nur 5 SchülerInnen im Grundschulbereich. An Freien Alternativschulen kennen die LehrerInnen noch alle Kinder und Jugendlichen mit Namen, weil sie viele Jahre lang miteinander arbeiten. Auch die Präferenz für fächerübergreifendes Lernen fördert indirekt die Vertrautheit, weil die Zahl der LehrerInnen an Freien Alternativschulen niedriger sein kann als an Schulen, die viele FachlehrerInnen einsetzen.

Als besonders wichtig hat Rainer Winkel in seinem Gutachten über eine Freie Alternativschule das so genannte "family grouping" beschrieben[11], das sich in den USA seit einigen Jahren immer mehr ausbreitet, an den Freien Alternativschulen in Deutschland aber schon seit langem praktiziert wird. Übersetzt bedeutet der Begriff "family grouping" "familiäre Gruppe", also eine kleine Gruppe mit einer festen Bezugsperson und einer kleinen Zahl von Kindern, in deren Zusammenleben an positive Elemente von Familienleben angeknüpft wird. Dazu gehört, dass die Kinder in diesen Gruppen unterschiedlichen Alters sind, dass gemeinsame Mahlzeiten eingenommen werden und der Gruppenraum mit Teppichen, Bildern, Pflanzen, Kuschelecken (Ja, wir bekennen uns dazu.), Pflanzen usw. wohnlich eingerichtet wird.

Die gemeinsam erarbeiteten Regeln für das friedliche Zusammenleben in der Schule und das Eingreifen der LehrerInnen bei Regelverletzungen tragen ebenfalls zum Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit bei.

Aktives Lernen

Belehrung ermüdet und erzeugt träges Wissen, das schnell wieder vergessen wird und kaum reaktivierbar ist. An Freien Alternativschulen wird deshalb aktives und an den Interessen von Schülern und Schülerinnen orientiertes Lernen präferiert, das produktives Denken fördert. Aktivierende Lernformen sind in erster Linie solche, bei denen die Kinder sich eigentätig und möglichst auch handelnd Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen.

Bestimmte Methoden sind förderlich für aktives Lernen. Dazu rechnen Freie Alternativschulen die Freiarbeit, das Stationenlernen, Gemeinschaftsprojekte und individuelle Jahresarbeiten, angeleitetes und frei entdeckendes Lernen, das häufige Aufsuchen außerschulischer Lernorte sowie die Vorbereitung und Präsentation von Aufführungen und Ausstellungen und - es sei nochmals genannt - das freie Spiel.

Interessengeleitetes Lernen - ein Beispiel aus der Freien Ganztagsschule Thale

In der Freiarbeit der Klasse 5, deren Kinder sich den Namen "Falkengruppe" gegeben haben, beginnen zwei Jungen mit der Umsetzung von Daten der Bevölkerungsstatistik in Balkendiagramme. Sie sind voller Eifer bei der Sache und erstellen sehr penibel ein Diagramm. Am Ende dieser Arbeit meint einer der Jungen: "250.000 Einwohner in Halle, so viele kann man sich gar nicht vorstellen." Daraufhin schlägt sein Arbeitspartner vor: "Man müsste die aufmalen." Wenig später beginnen die beiden damit, Strichmännchen auf große Bögen zu zeichnen mit dem Ziel, die 250.000 EinwohnerInnen der Stadt darzustellen. Diese Aktion lockt fünf weitere Kinder an, die sich ebenfalls beteiligen. Während sie auf dem Teppich liegen und eifrig Strichmännchen zeichnen, tauschen sie rege ihre Phantasien über die Einwohner aus. "Das hier sind Polizisten." "Könnte der Große nicht ein König sein?" "Guck mal, die beiden hier, die stehen so eng zusammen, das ist bestimmt ein Liebespaar." Sie finden aber immer wieder zur Sache zurück: "Hier muss eine Grenze hin, wenn man nämlich alle auf einmal zählt und sich vertut, muss man ja sonst von vorne anfangen.

Zur selben Zeit finden im Klassenraum folgende Aktivitäten statt:

  • Rechnen mit Spectra-Material (schriftliche Multiplikation)
  • Rechnen mit Montessori-Material im Zahlenbereich über 100.000
  • Anfertigen von Ausweisen für die Schülerbibliothek
  • Abschreiben eines Gedichtes aus einem Lesebuch
  • Schreiben freier Texte
  • Selbstkorrektur eines Diktates
  • Arbeit mit geometrischen Figuren (Montessori-Material)
  • Übungen zur Deklination und Syntax (mit Unterstützung der Klassenlehrerin)
  • Zeichnung einer Landkarte für ein Phantasieland mit ausgefeilter frei erfundener Legende

Während der gesamten 90 Minuten herrscht eine arbeitsame Atmosphäre.

Sozialformen des Lernens

Freie Alternativschulen praktizieren bestimmte Sozialformen des Lernens. Dazu gehören die Einzelarbeit mit und ohne Unterstützung von LehrerInnen, PartnerInnenarbeit, Kleingruppenarbeit, Projekte, die Morgenrunde für die Grundschulkinder und die gemeinsamen Besprechungen der älteren SchülerInnen sowie zeitweise getrennte Unterrichtsangebote für Jungen und Mädchen

Lernwege selbst finden

Die Freiheit der Kinder an Freien Alternativschulen, ihre Lernwege selbst zu finden, bringt es mit sich, dass die Kinder sich schon früh mit dem eigenen Lernprozess auseinander setzen. Nehme ich teil an dem Angebot der Lehrerin oder nicht? Welches Kind kann mir am besten bei Mathe helfen? Mache ich in dem Projekt mit, in dem meine Freunde sind, oder lieber in dem mit dem spannenderen Thema? Welches Lernmaterial nehme ich mir vor? Das sind Fragen, die sich den Kindern an Freien Alternativschulen schon im ersten Schuljahr stellen. Freilich finden die jüngeren Kinder nur selten bewusste Antworten auf diese Fragen, sie gehen vielmehr lustvoll spontanen Einfällen und Interessen nach.

Mit zunehmendem Alter aber setzen sich die Schüler und Schülerinnen bewusster mit ihrem Lernen auseinander. Auch hierin finden sie Unterstützung bei anderen. Die Kleinen schauen den Größeren beim Lernen zu und erfahren auf diese Weise, welche Arbeiten für die älteren Kinder bedeutsam sind. Sie finden heraus, welche Lernumgebung sie brauchen (Soll es ganz leise sein oder macht mir Lärm nichts aus?). Sie lernen einzuschätzen, wie lange sie für welche Aufgaben brauchen und wie sie ihre Arbeitsergebnisse selbst kontrollieren können.

Ebenso wie die Kinder setzen sich die Jugendlichen an Freien Alternativschulen mit ihren Lernprozessen auseinander, allerdings mit anderen Fragestellungen und auf einem anderen Niveau. In Gesprächen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen geht es in diesem Alter z.B. um die Frage: Welcher Lerntyp bin ich: ein auditiv oder visuell, systematisch, vorausplanender Mensch oder ein Mensch, der am besten unter Termindruck arbeitet? Auch die Frage nach effektiven Lerntechniken wird dann relevant. Und nicht zuletzt geht es darum, dass die Jugendlichen selbst sich ein realistisches Bild vom Stand ihres Wissens, ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten machen können.

Die Aufgaben der LehrerInnen

Die LehrerInnen bereiten Angebote vor, verabreden Regeln mit den Kindern und setzen sie, wenn nötig, auch durch. Sie helfen beim Schlichten von Konflikten, die die Kinder nicht aus eigener Kraft lösen können. Sie dienen den Kindern als "Blitzableiter", wenn diese in bestimmten Konfliktsituationen - auch mit Hilfe von Erwachsenen - nicht klarkommen. Wichtig ist aber auch, was die LehrerInnen nicht tun. Sie treten gegenüber den Kindern nicht dominant auf, sondern eher zurückhaltend, sie geben keine Zensuren und sie verurteilen niemanden zum Sitzenbleiben. Sie sind einfach da, wenn ein Kind sie - aus welchen Gründen auch immer - braucht.

Kinder lernen von Kindern

Gerold Scholz ist es zu verdanken, dass er durch seine Untersuchung über Lernprozesse an Freien Alternativschulen[12] eine neue Perspektive auf das Lernen von Kindern eröffnet hat. Er konnte mit einer Fülle von Beobachtungen empirisch belegen, dass an den Freien Alternativschulen in einem Umfang Lernprozesse zwischen Kindern stattfinden, die das durch LehrerInnen intendierte und organisierte Lernen in seiner Bedeutung erheblich relativieren. Die von Scholz beobachteten Lernprozesse unter Kindern beziehen sich auf die Umgangsformen der Kinder untereinander und viele andere Bereiche: Sich gemeinsam wohl fühlen, Fairness und Höflichkeit, Lob und Kritik, Trösten und Helfen, Ermahnungen und Belehrungen, Expertentum, Erwerb von Grundfertigkeiten in Projekten, gemeinsames Forschen, Bauen, Lernen durch Zusehen, Abgrenzungen zu Erwachsenen, Lernen im Spiel usw.

Die geschilderten Lernvorgänge sind besonders wirksam, weil sie nicht in der asymmetrischen Situation zwischen Kindern und Erwachsenen, sondern unter tendenziell Gleichen stattfinden.

Besondere Lernschwerpunkte

Von ihren ersten Anfängen bis heute haben die Freien Alternativschulen dem sozialen Lernen immer besondere Bedeutung zugemessen und dafür sehr viel Zeit aufgewendet, was an anderen Schulen im gleichen Umfang ganz undenkbar wäre, weil darüber das "eigentliche" Lernen zu kurz kommen könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Denn in einem positiven Sozialklima, wie es den Freien Alternativschulen immer wieder bescheinigt wird, gelingt auch die Entwicklung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten wirklich gut. Diese Erfahrung hat auch einen Modellcharakter für den späteren Werdegang der Schüler und Schülerinnen.[13]

Alternative Formen der Entwicklungs- und Leistungsbeschreibung

Die an den Schulen vorherrschende Praxis der Leistungsbeurteilung wird seit Jahrzehnten von der Erziehungswissenschaft kritisiert.[14] Die Freien Alternativschulen ignorieren die Kritik an der Praxis der Zensurenvergabe und der Ziffernzeugnisse der staatlichen Schulen nicht. Sie lehnen konsequent die Zensurenvergabe und die Erteilung von Ziffernzeugnissen ab und ersetzen sie durch Gespräche mit Kindern und Eltern sowie durch Zeugnisse in Gutachtenform bzw. durch Jahresbriefe an die Kinder. Diese Praxis bewährt sich seit über 25 Jahren.

Selbstverantwortung ohne Überforderung

Freiheit ist nur möglich, wenn sie gepaart ist mit Selbstverantwortung und Verantwortung für andere. Die meisten Schulen unterschätzen die Bereitschaft und Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen zur Übernahme von Verantwortung. 9 bis 13 Jahre lang werden Schüler und Schülerinnen (an unterschiedlich langen Leinen) von Erwachsenen geführt. Die üblichen Schülermitwirkungsgesetze oder entsprechende Verordnungen geben ihnen wenig Einfluss auf die Gestaltung der Einrichtung, in der sie einen großen Teil des Tages zubringen. Weder als Individuen noch als Gemeinschaft haben Kinder und Jugendliche im Alltag der meisten Schulen die Chance, sich darin zu üben, wirklich wichtige Entscheidungen für sich selbst und andere zu treffen.

Das ist anders an den Freien Alternativschulen. Sie zeigen, dass es möglich ist, eine Pädagogik der Freiheit, Geborgenheit und Verantwortung zu praktizieren, die Kindern schon im Grundschulalter die Chance gibt, einen Teil der Verantwortung für sich selbst, insbesondere für ihren eigenen Lernprozess, zu tragen, ohne davon überfordert zu werden. Das ist sicherlich nicht immer leicht, aber an ihren Aufgaben wachsen bekanntlich nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder.

P.S. Lernen die Kinder an Freien Alternativschulen genug und kommen sie im späteren Leben klar?

Ja.


Fußnoten:
[1] Von Hentig, Hartmut: Die Schule neu denken. München/Wien 1993, S. 202
[2] Weitere sind in Gründung.
[3] Seit 1972 sind ca. 20 größere Veröffentlichungen über Freie Alternativschulen erschienen. Die jüngsten Bücher: Borchert, Manfred/Maas, Michael (Hrsg.): Freie Alternativschulen - Die Zukunft der Schule hat schon begonnen. Bad Heilbrunn/Obb. 1998 (Klinkhardt-Verlag), sowie Maas, Michael: Leben lernen in Freiheit und Selbstverantwortung - Eine psychoanalytische Interpretation der Alternativschulpädagogik. Gießen 1999 (Psychosozial-Verlag)
[4] Vgl. Borchert, Manfred: Was unterscheidet Freie Alternativschulen von anderen reformpädagogischen Schulen? In: Borchert, Manfred/Maas, Michael (Hrsg.) : a.a.O., S. 36 - 81.
[5] Vgl. Maas, Michael: Geschichte, Mythen und Erfolge der Alternativschulbewegung - Versuch einer selbstkritischen Zwischenbilanz. In: Borchert, Manfred/Maas, Michael (Hrsg.) 1998: a.a.O., S. 15 - 35
[6] Vgl. Krammling-Jöhrens, Doris: Atmosphäre als Wirklichkeitsebene - eine ethnographische Studie über die Glocksee-Schule. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie im Fachbereich 1 Erziehungswissenschaften/Humanwissenschaften an der Universität/Gesamthochschule Kassel 1997.
[7] Vgl. Tolstoi, Leo: Die Schule von Jaßnaja Polnaja. Pädagogische Schriften, zweiter Band. Jena 1907.
[8] Vgl. Henstenberg, Elfriede: Entfaltungen. Bilder und Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern. Heidelberg 1993.
[9]Montessori, Maria: Kinder sind anders. München 1987, S. 103
[10]Vgl. Peukert, Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen 1991, S. 89 - 94
[11]Vgl. Winkel, Rainer: Gutachten über die Freie Schule Wuppertal, erstellt für das Verwaltungsgericht Düsseldorf. Essen 1995
[12]Vgl. Gerold Scholz: Kinder lernen von Kindern. Hohengehren 1996, S. 73 ff.
[13]Vgl. Köhler, Ulrike: Die Glocksee-Schule und ihre AbsolventInnen. Eine empirische Studie. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie im Fachbereich 1 Erziehungswissenschaften/Human-wissenschaften an der Universität/Gesamthochschule Kassel 1997, S. 215 - 335
[14]Liebau, E.: Zeugnis – Zertifikat: In: D. Lenzen (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe, Band 2. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 1639

Originaltext: http://www.freie-alternativschulen.de/cms/jml/index.php?option=com_content&task=view&id=19&Itemid=31


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