Carrara - Marmorstadt und Zentrum des anarchistischen Widerstands

Der Friedhof Turigliano in Carrara hat eine Besonderheit: Er ist die letzte Ruhestätte der Anarchisten. Anfangs war dort nur das Grab des Mussolini-Attentäters Gino Lucetti . Als sein Genosse, der an der Vorbereitung des Attentates beteiligt war, später eines natürlichen Todes starb, wollte er an Lucettis Seite beigesetzt werden. So haben sich im Laufe der Zeit einige Persönlichkeiten der anarchistischen Bewegung in einer Ecke des Friedhofs eingefunden. Beispielsweise Giuseppe Pinelli, der sich als Jugendlicher der Resistenza anschloss und Anfang der sechziger Jahre die Gruppe Sacco und Vanzetti ins Leben rief. Deren Lokal war der erste Treffpunkt der Mailänder AnarchistInnen. 1969 kam Pinelli ums Leben, als er während eines Verhörs aus dem vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums „fiel“. Die Polizei suchte die Verantwortlichen für das Massaker der Piazza Fontana, das sich später als Werk der Faschisten herausstellte, zielsicher im linken Spektrum und beschuldigte Pinelli. Dario Fo widmete seine weltbekannte Farce diesem „zufälligen Tod eines Anarchisten“.

Carrara liegt nordwestlich von Pisa in den Apuanischen Alpen und ist weltweit bekannt als „Stadt des Marmors“. Michelangelos Skulpturen in Rom und Florenz sind aus feinstem Carrara-Marmor. Feiner Carrara-Marmorstaub ist auch als Putzkörperchen in Zahnpasta.

Die Geschichte der Stadt ist maßgeblich von den harten Arbeitsbedingungen beim Abbau des kostbaren Steins geprägt. Bereits die Sklavenarbeiter Roms mussten die Marmorblöcke aus dem Fels brechen. Sie trieben dazu aufquellende, weil mit Wasser übergossene Holzkeile in Ritzen oder mühsam geschlagene Schlitze. Im 18. Jahrhundert löste Schwarzpulver einen sehr unkontrollierten und wenig effektiven Abbau aus. Unter den Großgrundbesitzern im 19. Jahrhundert sägten die Arbeiter mit der Hand und schafften ein paar Zentimeter pro Tag. Besonders der Abtransport der großen Blöcke war eine halsbrecherische Angelegenheit: Auf eingeseiften Holzstämmen rollend, die immer wieder vorne untergelegt wurden, ließ man die großen Quader mit Seilen “gesichert” den Hang hinabrutschen. Häufig wurden dabei Arbeiter durch rutschende Marmorblöcke regelrecht zerquetscht.

Heute werden die Blöcke mit Diamantdraht geschnitten und mit großen LKWs in engen Serpentinen hinabgefahren. Kleine autonome Gruppen von Arbeitern bedienen den Maschinenpark der Steinbrüche, die sich zum Teil in Privatbesitz befinden oder von Kollektiven verwaltet werden.

Aufstände gab es in Carrara bereits im 19. Jahrhundert. „Dabei hat es Tote gegeben und über 700 Leute sind zu 2.500 Jahren Gefängnis verurteilt worden“, bilanziert Alfonso Nicolazzi über einen 1894 von der Armee niedergeschlagenen Aufruhr gegen die Erhöhung der Getreidemahlsteuer.

Wer Carrara einen Besuch abstattete und sich nach der Geschichte des Widerstands vor Ort erkundigte, wurde meistens an Alfonso Nicolazzi verwiesen. Bis zu seinem Tode war er auch außerhalb Italiens eine bekannte Persönlichkeit der anarchistischen Bewegung und in der Internationale der Anarchistischen Föderationen (IAF) aktiv. Vor Ort organisierte er sich – wie viele in Carrara – in der “Federazione Anarchica Italiana” (FAI). Anfang der 70er Jahre schmiss er seinen Beruf als Fluglotse bei AlItalia. Mit der Abfindung, die er als aktiver Gewerkschaftler heraushandeln konnte, baute er ein neues Projekt auf: „Nach der 68er und 69er Bewegung waren wir voll von Enthusiasmus. In Italien gab es keinen Ort, wo die anarchistische Bewegung sich entsprechend organisieren und ausdrücken konnte. Also haben wir angefangen diese Druckerei zu gründen“.

Viele Leute haben im Laufe der Zeit im Druckkollektiv mitgearbeitet. “Einige sind nur Tage geblieben, einige Monate, einige Jahre...“. Nicolazzi blieb bis zum Schluss und war die letzten 30 Jahre mit der redaktionellen und technischen Produktion der wöchentlichen FAI-Zeitung Umanità Nova“ beschäftigt. Während er am 24. September 2005 die Zeitung zur Post bringen wollte, erlag er seinem Herz-Kreislaufleiden. Nun liegt auch er in Turigliano. Es war eine riesengroße Beerdigung mit vielen Leuten.

Eineinhalb Jahre vor seinem Tod trafen wir ihn zum Auftakt eines Stadtrundgangs im „Circolo Culturale Anarchico Gogliardo Fiaschi“. Gogliardo Fiaschi war der wohl jüngste Partisan von Carrara. Im Alter von 13 Jahren, er frisierte aber seine Dokumente auf 15, schloss er sich im September 1943 dem Widerstand an. Mitten im darauf folgenden Winter machte sich er auf den Weg durch die deutsche Gotenlinie zu den Alliierten an der Seravezza-Front. Die standen zwar keine 20 Kilometer weiter südlich, hatten ihre Offensive aber bis April aufgeschoben. Zu dieser Zeit drohte ständig Gefahr von allen Seiten: von der deutschen Besatzungsmacht, den italienischen Faschisten und den alliierten Luftangriffen.

Fiaschi schaffte es nach Seravezza. Die Alliierten schickten ihn weiter zur Abetone-Front. Als im April die Offensive gegen die deutschen Stellungen wieder anlief, rückte er mit der PartisanInnendivision "Modena" vor bis zum Einmarsch in die Stadt am südlichen Rand der Poebene.

An der Piazza Gramsci erinnert ein Denkmal an den Anarchisten Alberto Meschi (1879-1958). 1905 wanderte er nach Argentinien aus und wurde dort einer der Anführer der libertären und gewerkschaftlichen Bewegung. Vier Jahre später wurde er ausgewiesen, kehrte nach Italien zurück. In Carrara begleitete er als Gewerkschaftler die Arbeitskämpfe in den Marmorsteinbrüchen und der Arbeiter der Versilia. Als der Faschismus in Italien aufkam, wanderte er nach mehreren gegen seine Person gerichteten Übergriffen der Faschisten Anfang der 20er Jahre nach Frankreich aus. In Paris war er einer der Gründer der antifaschistischen Sammelbeweung und der italienischen Liga für die Menschenrechte. Für die spanische Republik kämpfte er in der Kolonne Rosselli. Wieder in Frankreich wurde er bis zum Ende des Jahres 1943 interniert. Dann kehrte er nach Italien zurück, leitete nach der Befreiung im Auftrag der CLN den Gewerkschaftsbund in Carrara und gab das libertäre Gewerkschaftsblatt “Der Mamorarbeiter” heraus.

Die meisten anarchistischen PartisanInnen Italiens organisierten sich in gemischten Einheiten, den “guistizia e libertá”, “matteotti”, “autonomen” Formationen und auch den kommunistischen “garibaldi”. In der Gegend von Carrara gab es auch fast ausschließlich anarchistische Gruppen. Die zahlenmäßig stärkste, in die sich auch Fiaschi zuerst eingereiht hatte, nannte sich nach Gino Lucetti. „Von den Bergen Sarzanas werden wir eines Tages hinabsteigen - aufgepasst Partisanen des Bataillon Lucetti. Das Bataillon Lucetti ist libertär und sonst nichts ...“, lautet der Refrain eines Liedes, das noch heute gesungen wird - zumindest im Circolo Anarchico Gragnana. Auch dieses Lokal, etwas außerhalb von Carrara gelegen, ist seit 1945 ein anarchistischer Treffpunkt. Früher köchelte hier eine Volksküche, eingerichtet 1913 während einer Aussperrung der Marmorarbeiter. Jemand erzählte dort von der Kampfgruppe “Elio”, die für ihre rebellischen und spontanen Aktionen berühmt war. Im Kampf bei Torrione konnte “Elio” 82 Deutsche gefangen nehmen und gegen Partisanen austauschen.

“Aliberti”, “Pelliccia” und “Schirru” nannten sich die anderen anarchistischen Formationen, die in der Gegend aktiv waren. Die Waffen stammten wohl zum Teil aus den Beständen der aufgelösten italienischen Armee. Noch bevor die Deutschen Carrara besetzt hatten, begann man mit der Entwaffnung der dort stationierten Garnisionen. Nur ein einziger Soldat leistete geringfügigen Widerstand.

“Am Morgen des 9. September marschierten die deutschen Truppen in der Marmorstadt ein”, erinnert sich Sergio Ravenna, “und positionierten ca. 150 Meter von uns entfernt einen Panzer. Vielleicht wäre es nicht angebracht gewesen, das Feuer zu eröffnen. Doch Alfonso Cacciatori, der aus einem Konzentrationslager hatte flüchten können, war voller Hass gegen die Deutschen, so dass es kein Halten gab. Es begann ein ca. eine Stunde dauernder Kampf. Marcello Grassi wurde vom Panzer in Stücke gerissen, andere nur leicht verletzt. Wenigen von uns gelang es noch, die Waffen einzusammeln und sie mit Mühe in eine Höhle zu bringen. Dort blieben wir 3 Tage lang und hofften auf Nachrichten. Irgendeine Versorgung hatten wir nicht” (Zitat übersetzt aus: Gianluca Attuoni und Pietro Volpi: Anarchici Nella Resistenza. A.N.P.I Carrara 2004).

Nach dem Krieg und der langen Zeit des italienischen Faschismus schlossen sich Italiens AnarchistInnen in der neuen F.A.I. zusammen. Die Föderation gab rund fünfzehn Zeitschriften heraus und hatte ihren größten Einfluss in Mailand und Genua. Carrara wurde zu ihrem Zentrum. Anarchistische Kooperativen bewältigten das alltägliche Überleben, besorgten Nahrungsmittel und kümmerten sich um Arbeit. Die Infrastruktur war zerstört – Trümmer und Minen mussten geräumt und alles wieder aufgebaut werden. Die Marmorbrüche waren geschlossen und alle arbeitslos.

Die ehemalige Eisenbahnbrücke ist eine der anarchistischen Wiederaufbauleistungen. 1945 sprengten deutsche Truppen auf dem Rückzug die Brücke – nicht aus strategischen Gründen, meint Alfonso Nicolazzi, sondern „als Vergeltungsmaßnahme für den Widerstand der letzten Monate und Jahre“. Eine kleine Gedenktafel weist darauf hin, dass die F.A.I. und das lokale Gewerkschaftshaus diese “unverzichtbare Lebensader für den Fortschritt unserer Stadt“ zehn Jahre nach ihrer Zerstörung wieder errichtet haben. Sie war dann wieder die Hauptverkehrsader für den Abtransport des Marmors, bis die Eisenbahnlinie Mitte der 60er Jahre eingestellt wurde.

Gogliardo Fiaschi kehrte nach der Befreiung in die Steinbrüche der Marmorstadt zurück – dort musste er bereits seit seinem achten Lebensjahr arbeiten. Anfang der 50er Jahre lernte er José Lluis Facerías kennen. Der spanische Anarchist und Veteran der Ascaso-Kolonne im spanischen Bürgerkrieg war 1945 aus einem Franco-Gefängnis entkommen und hielt sich illegal in Carrara auf. Nach einiger Zeit beschlossen sie, den bewaffneten Kampf gegen das Franco-Regime aufzunehmen. Mit dem Fahrrad überquerten sie 1957 die Pyrenäen, flogen jedoch nach kurzer Zeit auf. Facerías wurde in Barcelona von der Guardia Civile in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. Fiaschi wurde verhaftet, gefoltert und von einem Militärgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Mehr als 10 Jahre hatte er in verschiedenen spanischen Gefängnissen gesessen, bis er 1966 nach einer Amnestie entlassen – und nach seiner Rückkehr in Italien gleich wieder eingesperrt wurde. Ohne sein Wissen hatte ihn ein Gericht in Abwesenheit zu 10 Jahren Gefängnis wegen Bankraub verurteilt. Den soll er mit Facerías 1957 in Monferrato begangen haben. Eine internationale Kampagne forderte seine Freilassung. Im März 1974 – nach insgesamt 17 Jahren Haft – öffneten sich für ihn die Gefängnistore.

Nach längerer Krankheit starb Gogliardo Fiaschi am 29. Juli 2000. Seinen Trauerzug durch die Stadt begleiteten AnarchistInnen aus ganz Italien. Beigesetzt wurde er standesgemäß neben Lucetti und Pinelli.

An diesem Tag vor hundert Jahren hatte der Anarchist Gaetano Bresci den italienischen König Umberto I. umgebracht. Auch an den Königsmörder erinnert ein Denkmal beim Friedhof.

Der Text wurde www.anarchismus.at dankenswerter Weise von www.resistenza.de zur Verfügung gestellt.

Originaltext: http://www.resistenza.de/content/view/44/34/


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