Torsten Bewernitz - Streik: Geschichte und Zukunft
Streik - dabei denken wir heute an eine massenhafte Arbeitsverweigerung durch Industriearbeiter, die wir uns bärtig mit Mützen einer Gewerkschaft und Sandwiches mit arbeitsrechtlichen Forderungen
vorstellen: Sie haben die Arbeit niedergelegt, um etwa mehr Lohn oder Zusatzleistungen zu erhalten oder ähnliche tarifliche Problemstellungen zu ihrer Zufriedenheit zu lösen. Meyers Taschenlexikon definiert "Streik" entsprechend auch als "kollektive Arbeitsniederlegung (‚Ausstand’) zur Durchsetzung von Forderungen, die sich auf die Entlohnung oder Arbeitsbedingungen beziehen". Es handelt sich bei "Streik", das zeigt dieses Klischeebild, um ein durch und durch ökonomisches Phänomen. Der Begriff "Streik", wie wir ihn kennen, leitet sich aus dem englischen "strike" ab, dieser wiederum aus dem deutschen "einen Streich führen". Ursprünglich wurden - wie auch heute noch - die Segel gestrichen, die Seeleute "streikten" also, wenn sie das Schiff stoppten. Diese Streiks waren historisch nicht die ersten bekannten. Literarisches Beispiel ist der "Gebärstreik" der Athener Frauen in "Lysistatre" zur Beendigung des Krieges (Aristophanes):
"[...] Die Männer werden brünstig, möchten gern
Wir aber kommen nicht - rund abgeschlagen! -
Sie machen Frieden, sag ich euch, und bald!"
Diese beiden auf den ersten Blick doch sehr unterschiedlichen Beispiele bergen eine relevante Gemeinsamkeit, die uns zur heutigen, ökonomischen Bedeutung des Streiks führt: Sowohl die Athener Frauen wie auch die Seeleute besaßen dadurch eine gewisse Macht, dass es ihnen möglich war, eine jeweils relevante Tätigkeit zu verweigern, die für eine bestimmte Produktion (die Reproduktion männlicher Kinder, die in den Krieg ziehen, die Ausnutzung des Windes zur Fortbewegung) notwendig war. Dies ist der Kern des ökonomischen Streiks als einer Aktion von ArbeitnehmerInnen im Kapitalismus: Ihre Arbeitskraft wird für die Produktion gebraucht, die ArbeiterInnen sind formal freie BesitzerInnen ihrer Arbeit, mit deren Verweigerung sie Druck ausüben können. Die Struktur des Kapitalismus gibt ihnen diese strukturelle "Arbeitermacht" (Beverly J. Silver). Die Kopplung des Streiks an diese Struktur verdeutlicht, dass nicht alle sozialen Gruppen streiken können, z. B. Arbeitslose oder auch Studierende.
Die Möglichkeit des Streiks aus der Struktur des Kapitalismus führte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dazu, dass Streik vielerorts als die revolutionäre Methode schlechthin betrachtet wurde. Sozialdemokratische und später kommunistische Parteien sowie Gewerkschaften verschiedenster Ausrichtung diskutierten heiß die Möglichkeit eines Massenstreiks z.B. zur Durchsetzung des Achtstundentags. Einen Schritt weiter gingen die SyndikalistInnen (GewerkschaftssozialistInnen): Der Generalstreik, also der allgemeine Streik aller ArbeitnehmerInnen zur Lähmung des gesamten (kapitalistischen) Wirtschaftslebens, sollte und soll die kapitalistischen Funktionen ein für alle Mal lahm legen, die Produktion soll direkt in die Hände der Arbeitenden übergehen. Insofern hat der Streik im Sinne des Syndikalismus einen produktiven Charakter: Er besteht nicht nur aus Verweigerung, sondern aus Übernahme und Wiederaufnahme der Arbeit unter einer selbstverwalteten Struktur.
Mit den angerissenen theoretischen Debatten einher ging eine Massenstreikbewegung globalen Charakters: Als z. B. in den USA die Anarchisten Sacco und Vanzetti zum Tode verurteilt wurden, kam es von Peru bis Schweden zu politischen Massenstreiks mit einer Beteiligung von Hunderttausenden. In Deutschland wurde 1925 der rechte Kapp-Putsch durch einen Generalstreik zerschlagen. Die Tradition solcherart politischer oder Solidaritätsstreiks ist heute noch in den romanischen und lateinamerikanischen Staaten zu finden, in Italien etwa kam es mehrfach zu Ausständen, die sich gegen den jüngsten Krieg im Irak richteten. Solcherart politischer und Solidaritätsstreiks - wie auch der Generalstreik - sind hierzulande verboten. Das Streikrecht ist eng und führt zu Assoziationen wie den eingangs beschriebenen: Wenn es in Tarifverhandlungen nicht zu einer Einigung zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen kommt, muss, da das gesetzliche Dogma der "Friedenspflicht" vorausgesetzt ist, ein Schlichtungsverfahren eingerichtet werden. Währenddessen kann es zu Warnstreiks kommen. Kommt es hierbei zu keinem Kompromiss, folgt nach einer Urabstimmung der Streik. In diesem Fall zahlt der Arbeitgeber keinen Lohn mehr, zumeist wird die Existenz der Streikenden durch die Streikfonds der Einzelgewerkschaften gesichert.
Der "Streik" ist heutigentags aufgrund dieser Formalia oftmals nicht mehr als ein Ritual. Der eigentliche Aspekt für die Begründung des Streiks, die aus dem ökonomischen System abgeleitete strukturelle Arbeitermacht, wird als solcher nicht mehr wahrgenommen. Möglicherweise, weil es diese gar nicht mehr gibt? In Zeiten globaler hoher Erwerbslosenzahlen erscheint es durchaus wahrscheinlich, dass der Streik seine Kraft verliert, denn die Arbeitgeberschaft kann ja jederzeit auf eine "Reservearmee" (Marx) zurückgreifen, und nicht nur das, die Zahl der nicht lohnabhängig Arbeitenden erscheint so hoch, dass es neben dieser "Reservearmee" eine Vielzahl von "Überflüssigen", gibt, einer globalen Unterklasse von Subalternen, die keine strukturelle Arbeitermacht innehaben und sich daher direkter, körperlicher Gewalt bedienen - zu beobachten vor kurzem in den französischen Banlieues, aber auch in den islamistischen Attacken auf europäische Botschaften, im zweiten Fall nur ideologisch überformt. Andererseits: Ein kurzer Streifzug durch die Tagespresse und alternative Medien wird uns belehren, dass sehr viel gestreikt wird. Drei sehr verschiedene Streiks sollen an dieser Stelle kurz beleuchtet werden, um letztendlich zu einer Einschätzung über die Zukunft des Streiks zu kommen.
Einen formalen tariflichen Streik im Rahmen der Gesetzgebung fechten zur Zeit die Angestellten der Firma Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen aus. Bei Gate Gourmet handelt es sich um den weltweit zweitgrößten Caterer im Bereich des Flugverkehrs mit global 22.000 MitarbeiterInnen. Gate Gourmet gehört seit der Übernahme von SwissAir der Texas Pacific Group. Am Düsseldorfer Gate Gourmet-Streik gibt es trotz der vermeintlich traditionellen Form einige Besonderheiten: Zum ersten hat dieser Streik einen populär gewordenen Vorläufer, den Generalstreik fast aller ArbeiterInnen am Flughafen London-Heathrow in Solidarität mit den dort von Kürzungen bedrohten Gate Gourmet-ArbeiterInnen. Zweitens wird in diesem Streik mit ungewöhnlich harten Bandagen gekämpft: Er hält nunmehr seit über vier Monaten an und die Streikenden greifen zu Mitteln, die nicht dem Tarifrecht entsprechen, z. B. Blockaden des Flughafens. Harte Bandagen auch von Arbeitgeberseite durch den Einsatz von Streikbrechern. Drittens handelt es sich bei den Streikenden einerseits nahezu ausschließlich um LeiharbeiterInnen und andererseits um MigrantInnen: Gruppen, die aufgrund ihres prekären Status in Arbeitsleben und Öffentlichkeit bisher selten gestreikt haben. Diese Aspekte machen die Relevanz des Streiks für zukünftige Arbeitskämpfe deutlich: Keine Seite ist kompromissbereit, denn würde der Streik Erfolg haben, müssten die Arbeitgeber von prekär Beschäftigten mit einer Nachahmung in globalem Maßstab rechnen, gewerkschaftliche Rechte würden in einem Bereich Einzug erhalten, wo sie zur Zeit noch marginal sind. Andererseits haben die Beschäftigten durch ihre Prekarität im Vergleich zum traditionellen Fabrikarbeiter relativ wenig zu verlieren und streiken daher mit entsprechender Vehemenz.
"Traditionelle Fabrikarbeiter" ist das Stichwort für das zweite Beispiel: Die "sechs Tage der Selbstermächtigung" bei Opel Bochum im Oktober 2004 (vgl. S. 30, Die Red.). Nachdem ein Arbeitsplatzabbau von 4000 Stellen angekündigt wurde, traten die ArbeiterInnen von Opel Bochum in einen "wilden Streik", d. h., ohne Urabstimmung und ohne Zustimmung des Betriebsrats. Dieser akzeptierte die illegale Form zwar, indem er ihr einen legalen Rahmen gab: die permanente Beratung der ArbeiterInnen durch den Betriebsrat, der während der Arbeitszeit erlaubt ist. Aber durch eine Abstimmung unter der Frage "Soll der Betriebsrat die Verhandlungen mit der Geschäftsleitung weiter führen und die Arbeit wieder aufgenommen werden?" - einer Doppelfrage also, die nur gemeinsam bejaht oder verneint werden konnte -, wurde nach einer Woche die Arbeit wieder aufgenommen, obwohl sich etwa ein Drittel der Belegschaft für eine weitere Aussetzung der Arbeit eingesetzt hat. Der hier relevante Aspekt ist dennoch: Die Eigenaktivität der Arbeitenden ohne Konsultierung eines Betriebsrats oder einer anerkannten Gewerkschaft. Der wilde Streik genoss hohe Sympathien in der Bevölkerung, am Tag der Abstimmung demonstrierten 15.000 Menschen in Bochum.
Drittes Beispiel: Die europaweiten Proteste gegen die Einführung der EU-Richtlinie "Port Package II". Docker waren immer ein streiklustiges Völkchen, in den USA hatte der Streik der Docker so weitgehende ökonomische Auswirkungen, dass der Irak-Krieg beinahe daran gescheitert wäre. In einem solchen Fall, die "nationale Sicherheit" betreffend, kann jedoch der Gesetzgeber eingreifen: Der Streik der US-amerikanischen Docker 2003 wurde schlicht verboten. Im Falle "Port Package II" befanden sich europaweit 40.000 Docker zwei Tage im Ausstand, viele reisten nach Straßburg zu einer entsprechend großen Demonstration: Port Package II scheiterte, wie schon Port Package I zwei Jahre zuvor, am Widerstand der HafenarbeiterInnen. Im Gegensatz zu den Streiks bei Gate Gourmet und Opel ist hier interessant, dass der Streik sich nicht gegen einen Arbeitgeber, sondern gegen den Gesetzgeber richtete. Die Proteste der Docker ließen sich auch einordnen in die Proteste gegen die ökonomische Globalisierung á la Seattle, Genua und Göteborg.
Die strukturelle Arbeitermacht ist, das sollen diese Beispiele erläutern, nicht verschwunden, sie ist nur gewandert, den Fluchtbewegungen des Kapitals hinterher. Strukturelle Arbeitermacht und damit die Möglichkeit des Streiks im originären Sinne liegt nicht mehr bei dem (weiß und männlich gedachten) Proletarier der Massenindustrie, sondern, das zeigen die Beispiele Gate Gourmet und Port Package II, oftmals bei TransportarbeiterInnen und DienstleisterInnen. "Sie konstituieren den Kern der industriellen Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts." (Karl Heinz Roth) Regional verschiebt sich der Schwerpunkt von Streiks in die neuen Produktionszonen (Lateinamerika, Ostasien), strukturell in die Prekarität: LeiharbeiterInnen, ZeitarbeiterInnen und JobberInnen bekommen dann eine Arbeitermacht, wenn sie kollektiv handeln, in Koordination mit den "Überflüssigen", die sie sonst ersetzen würden. Zweiter Aspekt einer Neubestimmung von Streik ist das Misstrauen in die ritualisierten Formen, Streik wird unabhängig von etablierten Strukturen geplant und durchgeführt mit phantasievollen Mitteln wie Bummelstreik Dienst nach Vorschrift oder wildem Streik. Drittens ist der Streik hierzulande und in Europa und den USA oftmals nicht mehr gegen eine Arbeitgeberschaft gerichtet, diese Konflikte spielen sich an anderen Orten mit anderen Protagonisten ab. Das Beispiel "Port Package II" zeigt, dass Streik sich auch gegen die Institutionen wenden kann - gegen den "Überbau" (Marx) der die Rahmenbedingungen schafft. Auch in dieser Hinsicht ist die Besinnung auf alternative Streikpraktiken relevant.
Der Streik der Zukunft sieht anders aus als das eingangs beschriebene Klischee. Aber gerade der "moderne Arbeiter" ist immer noch mehr als Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft und Konsument seiner eigenen Produkte. Die Geschichte des Streiks ist, allen Unkenrufen zum Trotz, noch nicht zu Ende.
Aus: Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Streik", Frühjahr 2006.
Originaltext: http://www.linksnet.de/de/artikel/20433