„Ungehorsam ist unbekannt“ - Interview mit Michael Wilk
Gegen das Höher, Schneller, Weiter in der Ökonomie: »Das Recht auf Faulheit« von Paul Lafargue wurde neu aufgelegt. Ein Gespräch mit Michael Wilk. Interview: Gitta Düperthal
Michael Wilk ist Arzt und Anarchist aus Wiesbaden. Im Trotzdem Verlag hat er »Das Recht auf Faulheit« von Paul Lafargue, französischer Sozialist und Schwiegersohn von Karl Marx, wieder herausgegeben und mit einem neuen Vorwort versehen. Das Buch erschien ursprünglich 1883.
Warum sollten wir heute wieder »Das Recht auf Faulheit« einfordern?
Es ist notwendig, unser Denken und Handeln zu hinterfragen, das den momentanen Zeitgeist in der Republik bestimmt. Dabei geht es immer nur um das eine: daß alle in Brot und Lohn sind. Wenn das der einzige Qualitätsmaßstab ist, den wir haben, wird es Zeit, ihn gegen den Strich zu bürsten. Das hat Lafargue getan.
Was ist falsch daran, neue Arbeitsplätze schaffen zu wollen?
Keiner fragt danach, wie produziert wird; warum und unter welchen Umständen Menschen dies tun müssen. Besitzverhältnisse werden kritiklos hingenommen, ebenso die ungerechte Verteilung von Arbeit!
Es geht auch nicht um Mindestlöhne, sondern darum, die Verhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen. Lafargue hat vor mehr als hundert Jahren formuliert: Eine Arbeit von drei Stunden pro Tag würde völlig ausreichen, wenn man die vorhandene Arbeit anders verteilt. Im kapitalistischen System aber läuft letztlich alles immer darauf hinaus: Die einen schaffen sich die Knochen kaputt, während andere »freigesetzt« werden.
Lafargue kritisierte damals nicht nur Ausbeuter und Unterdrücker, sondern auch die proletarische Bewegung, weil sie im vorauseilenden Gehorsam um Arbeit betteln würde. Sie kritisieren heute die Gewerkschaften, weil sie Beschäftigung und Wachstum einfordern – Ihrer Ansicht ist das genau das, was uns alle quält.
In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß »Das Recht auf Faulheit« im existierenden Sozialismus nie gedruckt wurde. Auch heute ist zu hinterfragen, wie staatstragend Gewerkschaften und linke Parteien sind – oder solche, die sich dafür halten. Wenn der Europäische Gewerkschaftsbund »Vorrang für Beschäftigung und Wachstum« fordert, bewegt er sich in engem Rahmen, will Profitmaximierung und Beschleunigung vorantreiben: höher, schneller, weiter. Ich kritisiere auch den DGB, der weder an Besitzstände rühren will noch an die Verteilung von Arbeit. Die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union sieht das anders. Lafargues Text ist immer noch interessant genug, um diese Debatte in Gang zu bringen. Sein antiautoritärer Ansatz hat damals schon für viel Ärger gesorgt. Ihm ging es um Genuß und Lebensfreude. Das Leben zu genießen, kann nicht mit gesteigerter Arbeitsintensität einhergehen. Wer das jedem zugestehen will, muß an die Besitzverhältnisse herangehen.
Lafargue schrieb von einer regelrechten Arbeitssucht.
Wie stark wir darunter leiden, sehen wir daran, daß eine Konfrontation mit Arbeitslosigkeit niemanden glücklich macht. Keiner sagt »ach, wie wunderbar!«. Nicht nur, weil das mit finanziellem Desaster, einem Absturz ins Ungewisse verbunden ist – sondern auch, weil sich die Wertigkeit des Menschen in unserer Gesellschaft von seiner Produktivität als Faktor innerhalb der Wirtschaft ableitet. Lafargue hat gesagt, das ist krank. Insbesondere, wenn die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaft diese Ideologie weiter vorantreiben. Die Parole der Revolution 1848 »Recht auf Arbeit« fand er falsch. Vielmehr muß gesagt werden: Es gibt ein Recht auf Leben.
Wir, die Bevölkerung, müssen neue Impulse setzen. Es geht darum, wie wir uns weiterhin verkaufen und ob wir das überhaupt wollen. Das Zusammenwirken vom hochgehaltenen Arbeitsmythos der Gewerkschaftsbewegung und der christlichen Arbeitsmoral »ora et labora« hat Lafargue als gefährliche Mischung angesehen, die Menschen in freiwillige Unterwerfungsrituale treibt. In der Gegenwart ergeben sich daraus bizarre Identifizierungen mit Betrieben, die beispielsweise in den Ausspruch münden »Wir sind Opel«. Ist aber Opel nicht erst ein Betrieb der Beschäftigten, wenn diese über die Produktionsmittel verfügen?
Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in der Bundesrepublik einen Trend zu freiwilliger Anpassung und vorauseilendem Gehorsam. Mit Lohnverzicht und längeren Arbeitszeiten werden Betriebe von unten gesponsert, um sie zu retten und konkurrenzfähiger zu machen. In Frankreich und anderen südlichen Ländern übt man hingegen Druck aus, indem man beispielsweise Manager als Geiseln nimmt. Hierzulande undenkbar!
Wie kommt es, daß bei uns das »Recht auf Arbeit« stärker in die Köpfe gehämmert ist als anderswo?
Als libertär denkender Mensch sehe ich darin einen autoritären Charakterzug, der nicht zuletzt damit zu tun hat, daß die Bewegung der Beschäftigten sich in marxistischen Theorien wiederfindet. Verweigerung gegenüber Obrigkeiten und ziviler Ungehorsam sind hier weitgehend unbekannt.
Ist die anarchistische Bewegung, die mit strenger Arbeitsmoral nichts zu tun haben will, den Gewerkschaften spinnefeind?
Nein, ich persönlich würde auch vor dem katholischen Landfrauenverband einen Vortrag halten. Ich halte nichts davon, sich abzugrenzen, sondern finde es wichtig, in eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung einzutreten. Wir wollen Zugang zu den Herzen und Köpfen bekommen.
Aber es mangelt den Anarchisten an Organisationsstärke.
Wir sind in sozialen Bewegungen an der Stelle, wo Multiplikatoren zu sitzen pflegen. Wir sind die Hefe im Teig. Grenzenüberschreitende Denkmodelle sind notwendig, weil wir in unserer Gesellschaft an Utopienverlust leiden. Wer hat schon noch die Vorstellungskraft, daß das menschliche Zusammenleben ganz anders aussehen könnte! Es geht um ein Menschenrecht auf Muße, Genuß und ein notwendiges Maß an Arbeit – nicht aber um ein staatlich verbrieftes Recht, sondern um eine philosophische Debatte.
Das Interview erschien in der Jungen Welt vom 03.11.2010
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2010/11/03/%E2%80%9Eungehorsam-ist-unbekannt%E2%80%9C/