Pfui, Reformismus!"? Warum attac für die radikale Linke wichtig ist

Wie ein paar anderen hier eingestellten Texten zu erkennen ist, stehe ich ATTAC kritisch gegenüber. Nichts desto trotz folgt hier ein Standpunkt, der die Wichtigkeit von ATTAC für die radikale Linke betont. Der Text stammt aus der "Gründungszeit" der Bewegung 2001 - heute ist von ATTAC nur mehr selten etwas zu hören...

Pfui, Reformismus!"? Warum attac für die radikale Linke wichtig ist

Eine "neue Weltordnung" wollte George Bush senior seinerzeit mit dem 2. Golfkrieg etablieren. Der erste Krieg nach dem Ende der zwischen zwei Supermächten geteilten Welt mischte die Karten neu; ein Teil der alten Friedensbewegung wie der alten Linken wechselte ins Lager seiner BefürworterInnen, viele verstummten, einige blieben kritisch. Selbst für die aber war nicht so recht klar, was diese neue Weltordnung denn nun eigentlich sein sollte: Sie war offensichtlich ein auf militärische Macht gestütztes Herrschaftsprojekt, entzog sich aber ansonsten jeder genaueren Bestimmung. Heute heißt das Projekt Globalisierung und ist noch genauso schillernd wie vor zehn Jahren, aber es hat seine eigene Gegenbewegung hervorgebracht.

Und darin spielt attac eine wichtige Rolle. Das war eher Zufall. Es hätte auch andere treffen können, denn viele hatten sich bemüht, dem Widerspruch zur neuen alten Weltglobalisierungsordnung eine Stimme zu geben. Und die Idee, aus der Forderung nach einer Devisenumsatzsteuer eine breite Bewegung zu entwickeln, die gleichermaßen tagespolitisch orientiert wie bedingt kapitalismuskritisch sein sollte, macht doch eher den Eindruck einer Kopfgeburt. Seit über zehn Jahren hatten sich Gruppen vor allem aus der Soliszene bemüht, eine Kampagne gegen internationale Finanzinstitutionen aufzubauen. Die Aktionen gegen die IWF/Weltbank-Tagung 1988 in Berlin schienen der Durchbruch zu sein. Doch spätestens seit dem Fall der Mauer war das alles Makulatur; Geschichte schien sich in eine ganz andere Richtung zu entwickeln.

Zwar hatte sich bis 1997 gezeigt, dass die reale Entwicklung des Kapitalismus alles andere als das Ende der Geschichte gebracht hatte, aber die Formen und Stimmen der Gegenwehr blieben isoliert. Der Vorschlag einiger weniger französischer Intellektueller für eine "Vereinigung zum Zwecke einer Devisenumsatzsteuer zum Wohle der BürgerInnen" (so die französische Ausschreibung von "attac") traf einen richtigen Punkt. Die Konkretheit des Vorschlages einerseits und die mit ihm andererseits ausgedrückte Entwicklungsrichtung zu Gunsten politischer Eingriffe in die Ökonomie zwecks besserer Lebensverhältnisse überzeugte: In Frankreich traten Tausende bei, in vielen Ländern gründeten sich Ableger.

Weniger richtig, mehr nützlich

Auch in der BRD wurde im Januar 2000 das Netzwerk für die demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte gegründet, das sich später in attac umbenannte. Es erwies sich im Wesentlichen als die Plattform zur Zusammenarbeit mehr oder weniger kleiner NGOs und verständigte sich in seiner Gründungserklärung auf eine Liste von Forderungen, von denen in der Praxis drei in den Vordergrund traten: die Ablehnung jeglicher Privatisierung in der Altersversorgung, die Forderung nach einer Devisenumsatzsteuer (sogenannte Tobin Tax) und die Forderung nach Schließung der Steuerparadiese. Trotz dieser verhältnismäßig großen inhaltlichen Breite, trotz klarer internationalistischer und Aktionsorientierung (attac Deutschland ist beteiligt an den Protesten gegen die IWF/Weltbank-Tagung in Prag im Sommer 2000, gegen den EU-Gipfel in Nizza im Dezember, gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2001 sowie am Weltsozialforum in Porto Alegre zur selben Zeit) blieb der deutsche Ableger zunächst klein. Erst Göteborg und vor allem Genua geben einen massiven Schub, die Mitgliederzahlen vervielfachen sich, Lokalgruppen entstehen in vielen Städten. Der Kongress im Oktober verstärkt diesen Trend: In wenigen Monaten ist attac auch in der BRD eine wichtige Größe geworden.

Das weckt Begehrlichkeiten und Ängste aller Art. So manche eineR will sich sonnen im Glanz der neuen Bewegung und andere fürchten den neuen reformistischen Superverein, der alle radikaleren Politikansätze erdrückt. Ein ruhigerer Blick auf das, was attac ist und kann, wäre allen zu empfehlen.

Organisiertes diffuses Unbehagen

attac hat gegenwärtig etwa 3000 formale Mitglieder, davon etwa 200 Organisationen, der sind Rest Einzelpersonen. In den über 50 Lokalgruppen und -initiativen arbeiten auch Leute mit, die nicht Mitglied von attac sind. Eine Zahl von 5000 Menschen, die mehr oder minder eng mit attac in der BRD verbunden sind, könnte realistisch sein. Das ist weit weg von einem allmächtigen Verband. Dem entsprechen auch nicht die Strukturen: Ein gewählter Koordinierungskreis von einem guten Dutzend Personen arbeitet ehrenamtlich mit etwa monatlichen Treffen. Ein zentrales Büro mit einer Handvoll Leute wird ebenfalls ganz überwiegend nicht bezahlt. Ich kenne sogar lokale Gruppen, die über einen ausgebauteren Apparat verfügen.

Auch inhaltlich ist attac weder eine schlagkräftige spezialisierte Truppe, die eines oder wenige Themen perfekt drauf hat und alle Kraft dafür einsetzt, noch eine organisierte Strömung, die gemeinsam eine bestimmte Sicht der Welt propagiert. Längst sind andere Themen neben die drei ursprünglichen getreten (von der WTO über das Gesundheitssystem bis zum internationalen Patentrecht) und immer noch ist es so, dass bei einigen Themen die vorhandenen Meinungen sowohl eine bestimmte Position wie auch ihr Gegenteil umfassen können.

An nichts könnte das besser deutlich werden als an der Frage, was man denn nun ist: Globalisierungsgegner, -kritikerin, -gestalter; Gegnerin der kapitalistischen, neoliberalen, ökonomischen Globalisierung, Internationalist, Antikapitalistin, Reformer? Alle diese Selbstzuschreibungen sind vorhanden und existieren nebeneinander fort. Und dazu kommen unzählige Fremdzuschreibungen, die zwar meistens mehr über die Autoren als über attac sagen, die z.T. aber auch bewusst angenommen werden.

attac bezieht seine Stärke also weder aus einer engen Ein-Punkt-Spezialisierung, wie es sie etwa die Erlassjahrkampagne am Thema Verschuldung versucht hatte. Es ist auch nicht die große Zahl von Menschen, die bei attac mitarbeiten oder von attac mobilisierbar wären, wie es bei der Friedensbewegung der 80er Jahre der Fall war. Es fehlt der durchsetzungsfähige, schlagkräftige Apparat, wie ihn die DKP vor 1989 hatte. Und auch das Angebot einer zusammenhängenden Erklärung der Gesellschaft, wie es etwa kommunistische Gruppen aller Schattierungen auszeichnet, ist bei attac Fehlanzeige.

All diese Momente können - und werden auch - als Schwächen und Defizite von attac kritisiert werden. In der Tat kann niemand vorhersehen, ob und welches der beschriebenen Phänomen sich einmal als Sargnagel erweisen könnte. Heute jedenfalls wirken sie alle zusammen als die entscheidende Stärke von attac: attac ist erkennbar offen - inhaltlich, praktisch, aktionsmäßig. Menschen können sich einbringen, von ihnen werden keine Eintrittskarten verlangt dergestalt, dass sie Vorleistungen bezüglich Position, Erfahrung, Wissen erbringen müssten.

Es war von Anfang an bei der Gründung von attac in der BRD gemeinsame Überzeugung, dass es in diesem Land eine große Zahl von Menschen gibt, die mit den Verhältnissen unzufrieden sind. Ihnen fehlen z.T. die Begriffe dafür oder die Kommunikationswege, um das anderen mitzuteilen; einige erleben sich als vereinzelt; manchen fehlen Mut und Erfahrung für öffentliches Auftreten. Und, vor allem: Sie können und wollen nichts mit den bestehenden Angeboten für politisches Engagement anfangen. Weder angeblich reformorientierte Parteien noch themenspezialisierte BIs, weder linksradikale noch menschenrechtliche Gruppen, weder Soliszene mit der 3.Welt noch Umweltaktivismus war das, was sie gerne machen würden.

Es sollte schon um Ökonomie gehen und um die ganze Gesellschaft - aber ohne dass fertige Antworten gleich mitgeliefert würden. Das Ganze sollte halbwegs professionell und frei von dem behäbig-alternativen Image der Altlinken sein. Man wollte etwas tun, aber ohne sich für alles Mögliche zu binden, etwas Konkretes sollte es sein, ohne dass daraus Ansprüche abgeleitet werden könnten nach dem Motte, wer A sage, müsse auch B sagen. Ein junges attac-Mitglied hat das mal so beschrieben, dass er und seine Generation kein Richtigkeits- sondern ein Nützlichkeitsverhältnis zu Politik hätten; sie fragten nicht, was grundsätzlich notwendig und richtig sei, sondern was ihnen hier und jetzt nützlich erscheine. Eine andere Welt ist möglich, aber Stück für Stück und ohne sich von ihrem Bild erdrücken zu lassen. Diesem Gefühl hat attac einen Platz geschaffen. attac ist die organisatorische Form, in der sich dieses diffuse Unbehagen an den Verhältnissen in politische Dynamik verwandelt.

Tagespolitische Zuspitzung...

attac ist also demnach selbstverständlich keine revolutionäre Bewegung. Es hält an der erfolgreichen Gründungsidee fest, eine tagespolitische Zuspitzung in einer Forderung o.Ä. zu suchen und dahinter unterschiedliche Begründungen und weitergehende Ideen bestehen zu lassen. Wäre alles das, was attac heute fordert, tatsächliche Politik etwa der Bundesregierung, so wäre es die Aufgabe der radikalen Linken, diese Politik scharf zu kritisieren. Aber, und das würde eine solche Situation von der heutigen unterscheiden, die Lebensbedingungen der Menschen wären entschieden andere. attac will die Politik der Umverteilung von unten nach oben umkehren. Dieses Ziel teile ich als radikaler Linker mit ihnen und bis dahin haben wir einen gemeinsamen Weg. Danach wird man sehen.

... statt Verbalradikalismus

Heute existiert keine revolutionäre Situation, in der es darauf ankäme, schnell, entschlossen und weit in eine Richtung voranzugehen. Das kann sich ändern. Man kann aus den Ereignissen beim Untergang der DDR die Lehre ziehen, dass Geschichte manchmal scheinbar aus dem Nichts sehr schnell werden kann - und da steht die Richtung nicht vorher fest, es könnte auch mal die unsere sein. Es ist wichtig, dass radikale linke Politik diese Möglichkeit nicht aus den Augen verliert, die Idee nicht aufgibt, bei passender Gelegenheit die Verhältnisse wirklich gründlich über den Haufen zu werfen.

Aber diese Gelegenheit kann man nicht willkürlich herstellen. Um sie wahrnehmen zu können, ja um sie überhaupt nur zu bemerken, müssten wir entstehende Dynamiken erkennen und Teil von ihnen werden. Die Chancen dafür stehen bei all denen wirklich nicht gut, die immer schon vorher wissen, was richtig und falsch ist. Politische Dynamik ist ein Prozess, der widersprüchlich und höchst sprunghaft, im Konkreten fast immer "falsch" verläuft und dessen Charakter sich erst durch seine historische Richtung zeigt. Radikalität, praktische Veränderungsbereitschaft, entsteht in diesem Prozess, nicht außerhalb. Wer sich daneben stellt, mit dem Finger zeigt und "Pfui, Reformismus!" ruft, mag zwar recht haben, bleibt aber eben daneben und draußen aus diesem Prozess. Wer als RevolutionärIn bestehende Dynamiken verachtet, springt immer und systematisch zu kurz, völlig egal, ob diese Dynamiken auf Tagesforderungen oder aufs Grundsätzliche gerichtet sind.

Es ist die Richtung, die über die Qualität solcher Prozesse entscheidet, nicht die (Verbal-)Radikalität ihrer Selbstinszenierung. Im Konkreten kann "Brot und Frieden" so gut zur sozialistischen Revolution führen wie "patria libre o morir" in den Korruptionssumpf. Wenn Menschen unter schlechten Bedingungen leiden und dagegen kämpfen, ist es die Aufgabe der Linken, dabei zu sein. Alles Andere wäre nicht nur zynisch, es wäre auch zum Misserfolg verurteilt. Die Menschen sind nicht dumm, auch wenn's manchmal so scheinen mag. Sie werden keiner Politik folgen, die ihre Alltagsbedürfnisse für das große, weit entfernte Ziel der Revolution opfert.

Sie werden sich für dieses Ziel auch nicht erwärmen lassen, wenn erst mal statt der Kapitalisten die radikalen Linken das Sagen hätten und sie zur klassenlosen Gesellschaft führen wollten. Sozialistische Veränderungen werden nur gelingen, wenn sie getragen werden von Mehrheiten. Die bestehen nicht als feste Größen, sie entwickeln und verändern sich in Kämpfen und Dynamiken, die fast immer bei konkreten Alltagsbedürfnissen beginnen. Der Unterschied zwischen ReformistInnen und RevolutionärInnen besteht darin, dass die einen Veränderungen ausdrücklich auf diese Bedürfnisse beschränken, die anderen sie ausdrücklich darüber hinaustreiben wollen. Was davon in der politischen Praxis Bestand hat, ist eine andere Frage. Aber wer einen prinzipiellen Widerspruch zwischen (reformistischer) Tagespolitik und (sozialistischer) Revolution konstruiert, versteht weder was von Revolution noch von Sozialismus!

Werner Rätz, Bonn - Mitglied im Koordinierungskreis von attac in der BRD

Aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 456 / 22.11.2001

Originaltext: http://www.akweb.de/ak_s/ak456/22.htm


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