Aufbruch in eine andere Moderne. Die ökonomischen Grundlagen des libertären Sozialismus

Der libertäre Sozialismus oder Anarchismus kann als ein „Befreiungsprogramm“ begriffen werden, das dem Individuum eine entscheidende Basis dafür liefert, sich aus seiner Verstrickung in Unterwerfungsideologien und Unterwerfungsordnungen zu lösen. In Anlehnung an Max Stirner wäre so die Beziehung der/des Einzelnen zu ihrer/seiner Lebenswelt als selbst bestimmbarer und eigenverantwortlich kreierbarer Bereich zu definieren.( 1) Wird das „Ich“ dem gemäß als Möglichkeit ergriffen und entworfen, so kann die gefundene „eigene“ Lebensform nicht mehr von anderen gestaltet oder als Maske für fremde Interessen missbraucht werden.

Das libertäre Programm setzt aber auch auf neue Interaktions- und Kommunikationsmuster, deren Grundlagen sich jenseits eines darwinistischen Gesellschaftsbildes befinden. Die Thesen vom „Kampf ums Dasein“ und vom „survival of the fittest”, die der Soziologe Herbert Spencer (2) populär gemacht hatte, waren von Piotr A. Kropotkin in seinem Werk „Mutual Aid. A Factor of Evolution“ bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts massiv relativiert worden. (3) Nicht die “Gesetze des Dschungels” sieht Kropotkin im Zentrum des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern die „gegenseitige Hilfe“. Die für alle lebendige Entwicklung notwendige Eigenschaft stellt die Soziabilität dar. Sie tritt nach Kropotkin stärker in Erscheinung als der Selbsterhaltungstrieb. Die wesentliche Motivation für das menschliche Handeln liegt demnach in der Entfaltung der eigenen Individualität, mehr aber noch im Streben nach gelungenen Beziehungen mit den Mitmenschen.

Hierbei stellt sich die naheliegende Frage nach dem Zusammenspiel der wirtschaftlichen Kräfte. Die wesentlichen ökonomischen Theoretiker aus dem Spektrum des libertären Sozialismus zeigen sich überzeugt, dass es Alternativen innerhalb der Industriegesellschaft gibt, aber keine zu ihr. Im libertären Denken spielt die Idee des lokalen Wirtschaftens innerhalb dezentraler Strukturen eine wesentliche Rolle – doch eben nicht nur. In der Programmatik des Syndikalismus aber auch bei anderen Theoretikern des libertären Spektrums ist die Gestaltung eines herrschaftsfreien Raumes auch innerhalb des Rahmens einer großindustriell geprägten Ökonomie vorstellbar. In seiner 1921 erstmals erschienenen Schrift „Die Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus“ plädierte Pierre Ramus für den Aufbau eines Gildensozialismus. (4) Er meinte damit eine Wirtschaftsverfassung, innerhalb der der gesamte Produktionsmittelbestand einer Region von branchenmäßig gegliederten Selbstverwaltungskörpern übernommen wird: Diese Selbstverwaltungskörper, Gilden genannt, stellen die Arbeitsmittel zur Verfügung und sie sind „von unten“ demokratisch kontrolliert. Als ökonomische Hauptprinzipien sind in diesem Zusammenhang bei Ramus formuliert:

  1. Innerhalb der Gesellschaft darf es keinerlei Monopolisierung von Arbeitsgeräten, Grund und Boden, Rohmaterialien sowie allen, für jedes Individuum wichtigen Lebensmittel durch einzelne Personen geben.
  2. Die Lebensbedingungen müssen für sämtliche Gesellschaftsmitglieder so geartet sein, daß kein Individuum genötigt ist, sich einer anderen Person unter ausbeuterischen Bedingungen zur Verfügung stellen zu müssen.

Eine von Monopolen und Oligopolen befreite Wirtschaft setzt bei konsequenter Betrachtung auch eine Veränderung der Geldordnung voraus, welche das bislang akkumulationsorientierte Geld neutralisiert und die bisherige auf der Kapitalkonzentration beruhende „technologische Formation“ der Gesellschaft dadurch in einem allmählichen Übergangsprozess zu einer stärker egalitären Gesellschaft umformt. (5)

Da das Geld in der modernen Wirtschaftsgesellschaft das wichtigste Mittel der ökonomischen Regulierung darstellt und zugleich alle Instrumente zur Abwicklung der Transaktionen einschließt (Münzen, Banknoten, Depots, Rechner, aber auch Verfahrensregeln, genormte Abläufe und das zugehörige spezifische Wissen), ist der Zusammenhang von Technik und Gesellschaft in diesem Sektor evident wie sonst kaum irgendwo. Es ist das Geld, das den Austausch zwischen ökonomisch handelnden Personen vermittelt, das die Informationsfindung und die Kommunikation erleichtert, das seiner äußeren physischen Form nach alle Eigenschaften einer Technologie aufzuweisen hat. Für den US-amerikanischen Großtechnik-Kritiker Lewis Mumford („The Myth of the Machine“) ist eine Betrachtung der „Technologie Geld“ ohne Bezugnahme auf seine Funktion als Herrschaftsmittel jedoch unvollständig. Er sieht im modernen Produktionsprozess die Umwandlung menschlicher Arbeit in abstrakte, gleichförmige Einheiten, „letztlich in Einheiten von Energie oder Geld ...“. Geldkapital ist unendlich sammelbar, akkumulierbar, hortbar, es kennt keine biologischen Grenzen und es bewirkt wegen seiner Tendenz, Vermögenskonzentrationen zu fördern, ein Machtgefälle innerhalb der Gesellschaft. Für Mumford ist das herkömmliche Geld „... das gefährlichste Halluzinogen des modernen Menschen“. (6)

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Forderung nach einem Geldwesen, das Knappheit und Unterversorgung im ökonomischen Bereich überwinden hilft, das aber auch einer ökologisch problematischen „Teufel-komm-raus“-Produktion einen Riegel vorschiebt. Dies entspräche einem Gelde, das seine Funktion als Herrschaftsmittel verloren hat und das keine durch die Zinswirkung herbeigeführten Verteilungsungerechtigkeiten mehr kennt. Auf der Suche nach einer solchen neuen Geldordnung werden die Konzepte eines Pierre-Joseph Proudhon (7) oder eines Silvio Gesell (8), die eine Angleichung von Warenwelt und Geldwesen anstrebten, besonders beachtlich sein. Geld, das wie die Ware einem „Alterungsprozess“ (Dieter Suhr) unterworfen ist, indem es periodisch einen Teil seines Nennwertes einbüßt, wirkt einer Selbstvermehrung der großen Vermögen entgegen, die Verteilungsprobleme könnten so zumindest entschärft werden. Dass bei solcherart verstetigter Konjunktur ein umweltverträgliches produktionsniveau erreichbar wird, dafür sorgen der verminderte Rentabilitätsdruck, der sich aus dem „alternden Geld“ ergibt, und der Umstand, dass Anleger unter den veränderten Bedingungen zu wertbeständigen Realinvestitionen tendieren werden. Unter diesen Umständen wird die Wirtschaftlichkeit anstelle der Rentabilität zum Hauptkriterium der ökonomischen Vernunft. Hinzu kommt, dass besonders nach den Vorstellungen Gesells auch der Boden und die Ressourcen nicht länger der Verfügung des anlagesuchenden Kapitals ausgeliefert sein sollen. Sie sollen vielmehr in gesellschaftliches Eigentum übergehen, an dem entgeltliche Rechte zur privaten Nutzung ausgegeben werden. Während sich aus den Entgelten für die Nutzung von Ressourcen ökologische Investitionen finanzieren lassen, könnte aus den Entgelten für die Nutzung von Grundstücken zu Wohn- und Arbeitszwecken eine soziale Grundsicherung finanziert werden. (9)

In ähnlicher Weise wollen auch neuere Autoren wie Günther Witzany ein gesellschaftliches Basiseinkommen an eine Bodenrechtsreform gekoppelt wissen. Das Privateigentum an Grund und Boden, dem nicht zu Unrecht beachtliche negative Auswirkungen zugeschrieben werden (Spekulationsobjekt; unkontrollierte Effekte von Bodenwertsteigerungen; Pachtzins als Monopoltribut, da der Boden ein unvermehrbares Gut darstellt) soll aufgelöst werden. Unter der Verwaltung des Grund und Bodens durch die öffentliche Hand wären über den Weg der Pachteinnahmen von Ländern und Gemeinden die finanziellen Voraussetzungen geschaffen, ein Grundeinkommen ohne Arbeit sicherzustellen. (10)

Der programmatische Ansatz einer „egalitär materiellen Grundsicherung mit dem Status eines Bürgerrechts“, der inzwischen auch von prominenten Ökonomen vertreten wird, ist von der Erwartung getragen, dass mit einer solchen Befreiung des Menschen von der Lohnarbeit dem Dasein unnötige Härten genommen würden und dass die Herstellung eines neuen sozialen Klimas möglich werde. Die Lösung des Einkommens von der Arbeitstätigkeit und das Beschreiten neuer Wege im Hinblick auf eine Subsistenzsicherung erweitern die Chancen auf eine friedliche Koexistenz zwischen technisch hoher Leistungsfähigkeit und strukturell bedingter reduzierter Arbeitsnachfrage. Erst unter den Bedingungen, die ein „basic income“ schaffen würde, wird die Technik zum Helfer des Menschen, da sie ihn von der Arbeit entlastet und ihn nicht mit der Sorge um seine Existenz belastet. Menschen werden nicht mehr gezwungen, um jeden Preis in einem Unternehmen tätig zu sein, in dem sie nur einen Bruchteil dessen bekommen, was sie für den Betrieb tatsächlich erarbeiten. Die Subventionierung verlustträchtiger Unternehmen würde überflüssig und Betriebe, die umweltpolitisch bedenklich sind, könnten ohne gravierende Kaufkraftverluste befürchten zu müssen, geschlossen werden. Entbunden der Sorge um die tägliche Lebenshaltung wären für die Menschen viel größere Spielräume gegeben, etwa Wissenschaft oder Kunst zu betreiben, sich politisch zu betätigen oder sich humanitären bzw. idealen Beschäftigungen hinzugeben. (11)

Anstatt als ausgelaugte, von Zeitnot geplagte Zombies im Laufschritt umherzuhetzen, hätten die Menschen endlich die Chance, sich ausgeruht und energiegeladen in einem der wachsenden Non-Profit-Sektoren einzubringen. Die Stärkung einer postmaterialistisch ausgerichteten Gemeinwirtschaft, die sich nicht mehr nur nach sichtbaren ökonomischen Ergebnissen wie etwa Gewinnen misst, könnte dazu führen, dass die Integrationsleistung der Gesellschaft insgesamt erhöht wird (Selbsthilfeaktionen, Pflege von Behinderten, Generationensolidarität, Nachbarschaftshilfe). Die in der Blüteperiode des industriell-technischen Zeitalters von Max Stirner entwickelte Idee des „Vereins“ als Assoziation der „Eigenen“, der eine echte Begegnung zwischen authentisch handelnden Personen möglich machen und eine neue Qualität der sozialen Einbindung gewährleisten sollte, hätte endlich seine Chance auf Verwirklichung.

G. S.

Fußnoten:
1) Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Freiburg/Br. 1986
2) Herbert Spencer, The Man versus The State: A Classic Statement of the Case for Individual Liberty, London 1945 (Erstausgabe 1888).
3) Piotr A. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, Leipzig 1904.
4) Pierre Ramus, Die Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus, Wien 1921
5) Dieter Suhr, Alterndes Geld, Schaffhausen 1988.
6) Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Wien 1974, Sn. 315, 409, 524 und 528.
7) Lutz Roemheld und Gerhard Senft (Hg.), Pierre-Joseph Proudhon, System der ökonomischen Widersprüche oder: Philosophie des Elends, Berlin 2003.
8) Silvio Gesell, Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld (1920), in: Gesammelte Werke Band 11, Lütjeburg bei Kiel 1991.
9) Etwa zur Zeit Gesells traten die Österreicher Josef Popper-Lynkeus und Pierre Ramus für eine Grundversorgung für die gesamte Bevölkerung ein. Popper-Lynkeus wollte dieses „basic income“ aus dem allgemeinen Staatshaushalt, Ramus aus einem selbstverwalteten Sozialversicherungsfonds finanziert wissen. Josef Popper-Lynkeus, Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage, Dresden 1912. Gerhard Senft (Hg.), Pierre Ramus, Erkenntnis und Befreiung. Konturen einer libertären Sozialverfassung, Wien 2000, S. 122 ff.
10) Günther Witzany, Größenwahn – Geschwindigkeitsrausch – Vereinigungsfieber. Texte zum Ende der Fortschrittsreligionen, Salzburg 1992, S. 36.
11) Witzany 1992, S. 36. August Schorsch (Hg.), Des Ingenieurs Josef Popper allgemeine Nährpflicht als nötige Institution für die Computer-Gesellschaft, Düsseldorf 1986, S. 184. Friedrich F. Brezina, Gesellschaft ohne Armut. Zur Erinnerung an Josef Popper-Lynkeus, Wien 1996

Aus: Anarchie Nr. 0

Originaltext: www.schwarzwurzeln.org


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