Bernd Drücke - Anarchismus im 21. Jahrhundert (Buchvorwort)

Anarchismus im 21. Jahrhundert? Das gibt es doch gar nicht! Ja gut ..., damals, 1936 in Spanien, da haben sich Millionen Menschen gegen den faschistischen Putsch des General Franco erhoben und - trotz Bürgerkrieg - in großen Teilen des Landes einen "kurzen Sommer der Anarchie" verwirklicht. Aber all das ist siebzig Jahre her - wer kennt das schon noch?

Noch unbekannter dürfte sein, dass Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine relativ große anarchistische Bewegung existierte. Rund 150.000 Menschen, überwiegend Industriearbeiter, waren 1920 in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) organisiert. Der Syndikalist, ein Sprachrohr der FAUD, erreichte zeitweise eine wöchentliche Auflage von bis zu 120.000 Exemplaren, und im Ruhrgebiet erschien sogar eine anarchistische Tageszeitung: Die Schöpfung.

Schön und gut. Aber heute? Nirgends eine Spur von Anarchismus zu sehen. Außer natürlich im Kinderzimmer!

Die von Elfie Donnelly geschaffene Hexe Bibi Blocksberg agiert seit 1980 als Heldin eines Hörspiel-Renners mit 83 Folgen und über 35 Millionen verkauften Kassetten. Und auch der Elefant Benjamin Blümchen wirkt seit 1977 mit 102 Folgen und 60 Millionen verkauften Kassetten weit erfolgreicher und subversiver, als wir es mit einer eigenen anarchistischen Kinderzeitung je sein könnten.

Wer bisher gedacht hat, die Benjamin Blümchen-Hörspielkassetten seien deshalb kinder- und jugendgefährdend, weil das dauernd aus dem Kinderzimmer zu vernehmende "Töröööö" des sprechenden Dickhäuters bei nicht wenigen Eltern beinahe zum Hirnschlag geführt und somit viele Kinder zu Vollwaisen gemacht hätte, irrt sich.

Benjamin Blümchen ist jugendgefährdend, weil er Anarchist ist! Durch seine beharrliche Agitation im Kinderzimmer ist er dafür verantwortlich, dass aus den Kleinen später einmal aufrechte Genossinnen und Genossen werden. Ähnlich jugendgefährdend, weil ebenso anarchistisch, ist Benjamins Genossin Bibi.

Wer's nicht glauben mag, dem sei die Lektüre von Spiegel online empfohlen. Unter der Überschrift "Wie Bibi Blocksberg Kinder politisch verhext" ist dort folgendes zu lesen:

"Die Hörspiele mit Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg (...) vermitteln politische Zerrbilder, behauptet Gerd Strohmeier, 30. Im Interview erklärt der Passauer Politologe, warum der Elefant und die kleine Hexe für anarchistische Positionen stehen. (...)

Strohmeier: In kaum einer anderen Hörspielserie wird so ein starker politischer Bezug hergestellt wie bei Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg, die beide in dem fiktionalen Ort Neustadt spielen. Die Hörspiele richten sich an Kinder im Alter bis zu zwölf Jahren, also genau die Zeit, in der sich die politische Grundpersönlichkeit herausbildet. Die ist zwar noch recht holzschnittartig, aber daraus entstehen dann später politische Einstellungen. (...) Das Politikbild, das in den von mir untersuchten Hörspielfolgen vermittelt wird, ist sehr bedenklich. Die Politiker werden durch den Bürgermeister von Neustadt repräsentiert, und der ist inkompetent, korrupt und immer nur an seinem eigenen Wohl interessiert. Er lässt sich von seinem Assistenten als ‚Majestät' behandeln und übergeht ständig den Stadtrat. Entscheidungen werden nicht demokratisch, sondern autokratisch getroffen. (...) Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg (...) bilden zusammen mit der Reporterin Karla Kolumna eine Koalition der Guten. Karla Kolumna ist gewiss etwas sensationsgierig, deckt aber die Schandtaten des Bürgermeisters auf, berichtet objektiv und orientiert sich am Gemeinwohl. Mit ihren Artikeln mobilisiert sie die Neustädter Bürger. Sie tauchen dann ebenfalls auf der ‚richtigen' Seite auf, die man als linksliberal bis linksalternativ beschreiben kann. Die Hör-spielhelden sind pazifistisch, egalitär, bisweilen anarchisch und antikapitalistisch eingestellt.

SPIEGEL ONLINE: Benjamin und Bibi sehen Sie tatsächlich als Anarcho-Rebellen?

Strohmeier: Die Wirtschaft wird grundsätzlich negativ dargestellt. Figuren wie Herr Schmeichler oder Ulrich Umsatz lügen und betrügen, um ihren eigenen Profit zu maximieren. Polizisten erscheinen als verlängerter Arm des Bürgermeisters. Dazu kommen Aussagen wie ‚Wir haben zu viel Ordnung in diesem Land'. Ich denke, hier spiegeln sich die politischen Einstellungen der Erfinderin wider. (...)

SPIEGEL ONLINE: Heißt das: Kinder, die Benjamin Blümchen hören, werden später zu politikverdrossenen Antidemokraten?

Strohmeier: (...) Politische Sozialisation ist ein vielschichtiger Prozess. Da wird man keine 1:1-Wirkung feststellen können. Allerdings sind diese Hörspiele der Entwicklung zum mündigen Bürger nicht förderlich, das kann man schon so sagen. Wo sonst erfahren Kinder in diesem Alter denn politische Bezüge? Im Gespräch mit Eltern ist das eher selten der Fall. Sie nehmen vor allem auf, was sie in den Kassetten hören. (...)

SPIEGEL ONLINE: Sollten Eltern ihren Kindern nun verbieten, Kassetten von Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen zu hören?

Strohmeier: Nein, das nicht. Aber sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Hörspiele politisch auf keinen Fall das Prädikat ‚wertvoll' verdienen."

Spaß beiseite! Gibt es Anarchisten nur noch als Zerrbilder und Klischees?

"Anarchisten" torkeln mittlerweile also eher als Benjamin Blümchen-Karikaturen durch die Köpfe von Wissenschaftlern, Spiegel-Leserinnen und -Lesern, also Menschen, die allesamt "mehr wissen" wollen und sollten?

Viel verbreiteter und langlebiger ist allerdings das Zerrbild des Bomben werfenden Anarchos im schwarzen Kittel. Es ist aber längst nicht mehr so virulent und für Libertäre so bedrohlich wie noch vor wenigen Jahren.

Versetzen wir uns kurz zurück in die Bundesrepublik der 1970er und 80er Jahre, in die Zeit der "Terroristenhysterie" und "Anarchistenhatz". Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß tönte: "Die Außergesetzlichen haben in gröbster Weise die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört (...) Diese Personen nützen nicht nur alle Lücken der Paragraphen eines Rechtsstaates aus, sondern benehmen sich wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist." Er brachte damit die in der Bevölkerung weit verbreitete Stimmung auf den Punkt: "Wir wollen keine Anarchie und keine Terrorbanden."

Auf den Fahndungsplakaten prangten unter dem Titel "ANARCHISTEN - Vorsicht Schusswaffen" die Gesichter von gesuchten Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF). Diese verstand sich selbst zwar als eine marxistisch-leninistische Kadergruppe und distanzierte sich ausdrücklich vom Anarchismus. Die "Leninisten mit Knarre" wurden aber als "anarchistische Gewalttäter" gejagt. Die permanente Verwendung der Begriffe "Anarchist" und "Anarchie" als Schlagwörter in bürgerlichen Medien sorgte für eine verhängnisvolle Identifizierung mit "Terror" und führte zu einem aggressiven Klima, bis hin zu gelegentlichen Lynchjustizgelüsten.

So spukte das Klischee vom langhaarigen Bombenleger nicht nur bald in den meinungs- und maßgebenden Köpfen der Herrschenden in Politik, Unternehmen und Medienkonzernen. Der Hass auf "Anarchisten" wurde Teil des Mainstreams. Was nicht bedeutete, dass den Leuten die Bedeutung des Begriffs bekannt gewesen wäre. Das bürgerlich-liberale Bewusstsein war größtenteils nicht in der Lage, zwischen kommunistischen und anarchistischen, militanten und gewaltfreien Linken zu unterscheiden. Für die meisten war das alles einfach "der Sympathisantensumpf"".
Eine differenziertere öffentliche Wahrnehmung realer anarchistischer Personen oder gar ihrer konstruktiven Positionen?
Fehlanzeige.

Der oben zitierte Franz Josef Strauß hat 1988 im wahrsten Sinne des Wortes die Flinte ins Korn geworfen. Während einer Treibjagd erlitt der Hobby-Jäger einen tödlichen Herzinfarkt. So fanden auch seine politischen Treibjagden ein Ende, auf "Anarchisten" oder "langhaarige, verdreckte Vietconganhänger, die da öffentlich Geschlechtsverkehr treiben unter Bäumen."

Das Wort "Anarchist" wurde seit seiner Entstehung stets auch immer als Schmähbegriff benutzt, nicht zuletzt seit seinem ersten Auftritt auf der Bühne politischer Ereignisse in den Jahren nach 1793 und nicht erst infolge einer neo-anarchistischen Bewegung in den 1960er Jahren. Kontinuierlich diente es der Diffamierung des jeweiligen politischen Gegners - als Synonym für "Chaot", "Terrorist" oder "Gewalttäter".

Und heute? "Anarchie in Liberia", "Anarchie in Haiti", "Anarchie in Frankreichs Stadt-Ghettos", "Anarchie in New Orleans", ... wenn überall dort, wo nach Angaben von Spiegel, FAZ, taz und Co. "Anarchie herrscht", eine herrschaftsfreie Gesellschaft existierte, dann gäbe es ja dort, wenigstens in Ansätzen, geradezu paradiesische Zustände! Tatsächlich handelt es sich aber hier, auch nach über zweihundert Jahren, noch immer um die übliche geistlose Gleichsetzung von "Anarchie" mit "Chaos und Terror".

Ein Beispiel für diese Verdrehung des Anarchiebegriffs in sein genaues Gegenteil liefert auch die Berichterstattung zum 2003 vom Zaune gebrochenen Krieg der USA und ihrer "Koalition der Willigen" im Irak. So weiß das Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter der Überschrift "Kampf gegen die Anarchie" zu berichten: "Die Amerikaner wollen der wuchernden Anarchie im Irak nicht länger zusehen." Auch die Süddeutsche Zeitung beschäftigt sich mit der angeblichen "Anarchie im Irak". Ihr Redakteur Stefan Kornelius kommentiert in der SZ vom 20. August 2003 die Situation nach dem Anschlag auf das UNO-Gebäude als "Logik der Anarchie" und liefert auch gleich eine Definition: "Anarchie ist der Zustand der Rechtlosigkeit, Anarchie steht für die Auflösung aller Herrschaft, für Willkür, Chaos, die Abwesenheit aller ordnenden Gewalt."

Dabei ist die Wahrheit ebenso banal wie augenfällig: Menschenfeindliche Verhältnisse wie im Irak wurden und werden durch die Herrschaft von Menschen über Menschen, durch Staatsterrorismus, Militär und Krieg herbeigeführt. Das, was im Irak und in anderen Kriegsgebieten tagtäglich geschieht, hat mit staatlicher Gewalt und Gegengewalt zu tun, aber rein gar nichts mit Anarchie.

Anarchie - eine notwendige Begriffsklärung

Mit der Wirklichkeit und dem Selbstverständnis von Menschen, die den Begriff "Anarchist" beziehungsweise "Anarchistin" für sich verwenden, haben die dominierenden Klischees nichts gemein. Um so langlebiger jedoch sind solche Entstellungen.

Das hat unter anderem zur Folge, dass viele Menschen, die eigentlich anarchistisch fühlen und denken, sich nicht selbst als "Anarchisten" bezeichnen beziehungsweise nicht als solche bezeichnet werden wollen. Manche bevorzugen deshalb lieber die weniger verfänglichen Begriffe "Libertäre", "libertäre Sozialistin" oder "freiheitlicher Sozialist", wenn sie sich selbst benennen möchten.

Eines haben sie alle gemein: Libertäre, freiheitliche Sozialisten, Anarchistinnen und Anarchisten wollen weder herrschen noch beherrscht werden. Sie wollen nicht Chaos und Terror, sondern streben eine klassenlose, freiheitlich-sozialistische und menschengerechte Welt an, eine Ordnung ohne Herrschaft: die Anarchie.

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Anarchie und des Anarchismus.

Der semantische Ursprung des Wortes "Anarchie" findet sich in der griechischen Sprache. "Anarchie" wird von "an-archia" (αναρχíα - ohne Herrschaft) abgeleitet. In der Antike benutzten die Griechen den Begriff für die Zeit zwischen den Wahlen, für einen Zustand ohne Führung.

Zweieinhalbtausend Jahre später definiert die freie Enzyklopädie Wikipedia Anarchie als "Idee einer herrschaftsfreien und gewaltlosen Gesellschaft, in der Menschen ohne politischen Zwang (Macht) und Herrschaft gleichberechtigt und ohne Standesunterschiede miteinander leben und sich so frei entfalten können. Ein Mensch, der nach diesen Idealen lebt, oder einer, der eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstrebt, wird als Anarchist bezeichnet."

Auch für Immanuel Kant hatte Anarchie nichts mit Bomben zu tun; er definierte sie als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt".

Die russisch-amerikanische Anarchistin Emma Goldman (1869-1940) sah den Anarchismus im Jahre 1911 als "Philosophie einer neuen sozialen Ordnung, deren Grundlage die Freiheit ist, uneingeschränkt durch von Menschen geschaffene Gesetze". Anarchismus sei die Theorie, dass alle Formen von Herrschaft auf Gewalt beruhen und folglich übel, schädlich und unnötig seien. Der Anarchismus bedeute die Befreiung des menschlichen Geistes aus der Herrschaft der Religion; die Befreiung der menschlichen Kraft aus der Herrschaft des Eigentums; die Befreiung von den Fesseln und dem Zwang durch die Regierung. Anarchismus bedeute eine soziale Ordnung, die auf der freien Vereinbarung Einzelner, mit dem Zweck wirklichen sozialen Wohlstand zu schaffen, beruhe, eine Ordnung, die jedem menschlichen Wesen freien Zugang zur Erde und vollen Genuss des zum Leben Notwendigen, entsprechend individuellen Wünschen, Neigungen und Bedürfnissen, zusichern werde. Der Anarchismus sei nicht eine Theorie über die Zukunft, die durch göttliche Erleuchtung verwirklicht werden solle. Er wirke als lebendige Kraft in unseren Lebensangelegenheiten und schaffe beständig neue Bedingungen. Die Methoden des Anarchismus unterlägen folglich keinem starren Programm, das es unter allen Umständen durchzusetzen gelte.

Der "Anarchismus, dieses großartige Gift des Denkens, dringt heute in jeden Bereich menschlichen Strebens ein. Wissenschaft, Kunst, Literatur, das Drama, die Bemühungen um wirtschaftliche Verbesserungen, wahrhaftig jeder individuelle und soziale Widerstand gegen die bestehende Unordnung der Verhältnisse wird durch das geistige Licht des Anarchismus erhellt. Er ist die Philosophie der Souveränität des Individuums. Er ist die Theorie der sozialen Harmonie."

Auch für Emma Goldmans langjährigen Lebensgefährten Alexander Berkman (1870-1936) war Anarchismus "die vernünftigste und praktische Konzeption eines gesellschaftlichen Lebens in Freiheit und Harmonie".

Und der italienische Anarchist Errico Malatesta (1853-1932) beantwortete die Frage "Warum sind wir Anarchisten?" wie folgt: "Abgesehen von unseren Vorstellungen über den politischen Staat und die Regierung, das heißt die zwangsmäßige Organisation der Gesellschaft, die unser spezifisches Wesensmerkmal bilden, abgesehen auch von unseren Ideen über die beste Möglichkeit, allen Menschen die Benutzung der Produktionsmittel und die Beteiligung an den Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu garantieren, sind wir Anarchisten aufgrund unseres Gefühls, das die Triebfeder sämtlicher gesellschaftlicher Erneuerer ist, ohne das unser Anarchismus eine Lüge oder ohne Sinn wäre. Dieses Gefühl ist die Liebe zu den Menschen, ist die Tatsache, an den Leiden der anderen zu leiden. (...) wenn ich esse, dann kann ich keinen Geschmack daran finden, wenn ich denke, dass Menschen Hungers sterben; wenn ich meiner kleinen Tochter ein Spielzeug kaufe und ganz glücklich über ihre Freude bin, dann wird diese Freude schnell getrübt, wenn ich vor dem Schaufenster des Händlers Kinder mit weit aufgerissenen Augen sehe, die mit einem Pfennigpüppchen glücklich gemacht werden könnten; wenn ich mich vergnüge, dann verdüstert sich mein Gemüt, sobald mir in den Sinn kommt, dass es Unglückliche gibt, die im Kerker schmachten; wenn ich studiere oder eine Arbeit mache, die mir gefällt, empfinde ich so etwas wie Gewissensbisse, wenn ich daran denke, wie viele es gibt, die klüger sind als ich und gezwungen sind, ihr Leben in einer abstumpfenden, oft unnützen oder schädlichen Arbeit zu vergeuden. Reiner Egoismus, wie ihr seht, doch ein Egoismus, den andere Altruismus nennen und ohne den niemand ein wirklicher Anarchist sein kann."

Anarchismus heute

Der moderne Anarchismus ist eine Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen (Führer, Chefs, staatliche Herrschaft, Hierarchie, ...) gewaltsam und durch nichts gerechtfertigt ist. Herrschaft stellt eine Form von Unterdrückung dar und muss deshalb aufgehoben werden.

Im Mittelpunkt dieser libertären Weltanschauung stehen positive Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstverwaltung der Individuen; die Ausübung von Zwang wird abgelehnt. Anarchie ist das Ziel, Anarchismus der Weg dahin.

Der Anarchismus entwickelte sich von einer Denkschule zu einer eigenständigen sozialen Bewegung, die sich eine herrschaftsfreie, freiheitlich-sozialistische Gesellschaft auf ihre schwarzen und schwarz-roten Fahnen schrieb. In ihren frühen Tagen formulierte der russische Anarchist Michail Bakunin (1814-1876): "Jedes menschliche Wesen ist das unfreiwillige Produkt des natürlichen und sozialen Milieus, in dem es geboren ist, sich entwickelt hat, und dessen Einfluss es weiter empfindet. (...) Um eine radikale Revolution zu machen, muss man also die Stellungen und Dinge angreifen, das Eigentum und den Staat zerstören, dann wird man nicht nötig haben, Menschen zu zerstören und sich zu der unfehlbaren, unvermeidlichen Reaktion zu verurteilen, die in jeder Gesellschaft das Massaker von Menschen stets herbeiführte und stets herbeiführen wird."

Seit 160 Jahren prägen diese Worte jene vielseitige internationale soziale Bewegung namens Anarchismus. Sind das noch Themen, für die sich die Menschen unserer Zeit interessieren?

Heute liegt die Zahl der Menschen, die sich in der Bundesrepublik selbst als Libertäre, Anarchistinnen oder Anarchisten sehen, vielleicht zwischen 2.000 und 20.000. Die Schätzungen von Anarchismusforschern einerseits und dem Verfassungsschutz andererseits gehen weit auseinander. Die tatsächliche Zahl liegt womöglich irgendwo in der Mitte.

Als aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer an sozialen Bewegungen produzieren Libertäre zum Beispiel Zeitschriften und Bücher, mobilisieren zu Aktionen oder initiieren soziale Projekte. Der Gegenwartsanarchismus wird ab und an auch öffentlich sichtbar, etwa bei Demonstrationen gegen Sozialkahlschlag, gegen Nazis, Krieg, Militarismus, Sexismus und Rassismus.

Und sonst?

Für viele der oftmals studentischen Aktivistinnen und Aktivisten folgt nicht selten nach wenigen Jahren in der libertären Szene der Rückzug ins Private. Der Anarchismus scheint immer noch zu wenig Möglichkeiten zu bieten, mit und in dieser Bewegung alt zu werden.

Warum dieses Buch?

"Das Leben lehrt die Menschen mehr als alle Theorien und Bücher es je vermögen. Die, die meinen, das was sie sich häppchenweise aus Büchern angeeignet haben, einfach in die Praxis übernehmen zu können, machen sich selbst etwas vor; die, die solche Bücher aber mit den Erfahrungen des Lebens bereichern, können ein Meisterwerk schaffen", so der spanische Sozialrevolutionär Nosotros im März 1937.

Der Anarchismus ist nichts Vergangenes. Es gibt viele Menschen, die ihre anarchistischen Ideale und Utopien nicht vergessen und sich kontinuierlich um die anarchistische Sache verdient machen. Sie stehen nicht im Rampenlicht der Massenmedien. Was sie denken, sagen oder tun, findet kaum Gehör.

Ein Ziel dieses Buches ist es, einige dieser "unbekannten" Anarchistinnen und Anarchisten dem Vergessen zu entreißen. Denn das, was sie umtreibt, kann Inspiration und Ermutigung sein für alle, die sich hier und heute für die Idee der Anarchie begeistern. Ihre guten wie schlechten Erfahrungen sind zu wichtig, um in Archiven zu verstauben. Frei nach Gustav Landauer ist Anarchie nicht nur eine Sache der Forderungen, sondern des Lebens.

Die Interviewten bekommen die Gelegenheit, ihre Geschichten, Ideen und Träume von einem Leben ohne Chefs und Staat zu erzählen. Durch diese "oral history" sollen Erfahrungen weitergegeben werden, um daraus lernen zu können.

  • Wovon träumen heutige Anarchistinnen und Anarchisten?
  • Was tun sie, damit ihre Träume Wirklichkeit werden?
  • Was bedeutet für sie Anarchie?
  • Wie haben sie sich politisiert?
  • Welche Perspektiven sehen sie im 21. Jahrhundert?


Das sind Fragen, auf die sich in diesem Buch einige Antworten finden lassen. Die Texte sind zum großen Teil Interviews, die für die Graswurzelrevolution (GWR), eine seit 1972 erscheinende "Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft", geführt wurden.

Zustande gekommen sind sie auf unterschiedliche Weise. Einige Interviews wurden schriftlich über E-Mail geführt, bei anderen handelt es sich um mitgeschnittene Gespräche, die anschließend transkribiert wurden. Für das Buch wurden die Manuskripte in Absprache mit den Interviewten überarbeitet, aktualisiert und zum Teil um weitere Fragen, Antworten und Anmerkungen ergänzt.

"ja! Anarchismus" ist in sechs Kapitel gegliedert.

Im Kapitel "Anarchismus und Kultur" kommen der Filmemacher Peter Lilienthal, der Songwriter, Gitarrist und Sänger der Folkrockband Cochise, Pit Budde, "Deutschlands bekanntester Straßenmusiker" Klaus der Geiger, sowie die Lyriker Michael Halfbrodt und Ralf Burnicki von der Edition Blackbox zu Wort. Etwas aus dem Rahmen fällt das Gespräch mit dem Kabarettensemble Der Blarze Schwock: Katrin Huxel, Daniel Korth, Torsten "Bewi" Bewernitz und Martin "Baxi" Baxmeyer.

Der Gegenwartsanarchismus spiegelt sich vor allem in seinen Publikationen. Im Kapitel "Anarchistische Medien und Verlage" berichten Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg (beide Edition Nautilus / Die Aktion), Wolfgang Haug (Ex-Schwarzer Faden / Trotzdem Verlag), Bernd und Karin Kramer (Ex-linkeck / Karin Kramer Verlag) unter anderem über ihre Erfahrungen als Verlegerinnen und Verleger, Zeitungsmacherinnen und Zeitungsmacher.

Das dritte Kapitel erzählt Geschichte(n) aus Gegenwart und Vergangenheit speziell des gewaltfreien Anarchismus und der Graswurzelrevolution.

Wer soviel erlebt hat wie Helga Weber und Wolfgang Zucht, kann das nicht in wenigen Sätzen wiedergeben. Den Interviews mit den beiden wird darum viel Raum gegeben, zumal sie nie an Spannung verlieren.

Das Interview mit Wolfgang Hertle (Archiv Aktiv) knüpft direkt daran an. Er hat 1972 die überregionale Zeitung Graswurzelrevolution gegründet, angeregt unter anderem durch die von Wolfgang Zucht 1965 in Hannover mit herausgegebene Direkte Aktion - Blätter für Gewaltfreiheit und Anarchismus.

Das darauf folgende Gespräch irritiert durch einen Rollenwechsel. Der Interviewer und Herausgeber dieses Bandes wird zum Befragten. Die Fragen zur Entwicklung der GWR stellt Lea Hagedorn, eine Aktivistin der anarchosyndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU). Anlass des Gesprächs war das Erscheinen der Nummer 300 im Juni 2005: "300 Ausgaben gelebte Utopie".

Auf Osman Murat Ülke wird bereits im Interview mit Peter Lilienthal Bezug genommen. Nun kommt der türkische Graswurzelrevolutionär, der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung insgesamt 701 Tage in türkischen Gefängnissen verbringen musste, selbst zu Wort. Er erzählt seine eigene und die Geschichte antimilitaristischer, gewaltfreilibertärer, schwul-lesbischer, feministischer und anderer sozialer Bewegungen in der Türkei.

Anarchafeminismus und soziale Revolution sind ein Schwerpunkt des vierten Kapitels.

Marianne Enckell vom internationalen Zentrum zur Erforschung des Anarchismus Centre International de Recherches sur l´Anarchisme (CIRA, Lausanne) ist seit mehr als 40 Jahren nicht nur im französischen Sprachraum als feministische Anarchistin, Autorin, Übersetzerin und Bibliothekarin aktiv. Sie beschreibt, wie sie "in die anarchistische Grube gefallen" ist und welche Perspektiven sie sieht.

Als Autorin anarchistischer Bücher ist auch Mona Grosche von der Bonner Ortsgruppe der FAU bekannt. Ihre Veröffentlichung über "Anarchismus und Revolution" war Anlass dieses Gesprächs.

Ilse Schwipper saß wegen Mitgliedschaft in der Stadtguerillagruppe Bewegung 2. Juni lange Zeit unter Isolationshaftbedingungen im Gefängnis. Wie Marianne Enckell und Mona Grosche versteht sie sich als Anarchafeministin. Ilse Schwippers Positionen zur Politik von RAF und Bewegung 2. Juni werden in der libertären Szene kontrovers diskutiert und bilden einen Kontrast zu denen gewaltfreier Anarchistinnen und Anarchisten.

Im Mittelpunkt des fünften Kapitels stehen gelebte Utopien.

Der Schriftsteller Horst Stowasser hat mit "Leben ohne Chef und Staat", "Freiheit pur" und "Das Projekt A" moderne anarchistische Standardwerke geschaffen. Gemeinsam mit anderen versucht er, den Traum von einer herrschaftslosen Gesellschaft in einem konkreten "Projekt A / Plan B" zu realisieren.

Uwe Kurzbein zeigt, dass aus Kommunen keine Sekten werden müssen. Er lebt seit 1980 in Kommunen und reflektiert im Rahmen eines Küchentischgesprächs in der Kommune Olgashof seine Erfahrungen. Eigentlich war auch ein Interview mit Marie Christine-Mikhailo eingeplant. Die Mutter von Marianne Enckell starb jedoch 88-jährig am 8. November 2004. Mit einem Nachruf auf sie und ihrem Artikel über das Altwerden in der anarchistischen Bewegung endet das Kapitel.

Wer durch die Lektüre neugierig geworden ist, kann die Literaturliste im Anhang des Buches als Basis nehmen, um sich intensiver (nicht nur) mit libertären Themen zu beschäftigen.

Eine Interviewsammlung wie die vorliegende kann nur in Ansätzen beleuchten, wie lebendig und vielfältig die anarchistische Bewegung am Anfang des 21. Jahrhunderts ist. Dieses Buch soll deshalb in gewissem Sinne als "Appetithappen" dienen. Es soll ungewöhnliche Menschen, libertäre Geschichte, Gegenwart und Zukunft näher bringen.

Ich wünsche eine anregende Lektüre und beende dieses Vorwort mit einem Zitat von Gustav Landauer (1870-1919): "Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält."

Bernd Drücke, April 2006

Aus dem empfehlenswerten Buch: Bernd Drücke (Hg.):Ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag

Originaltext: http://www.karin-kramer-verlag.de/lp/307-1-lp.html#vor


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