Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft. Interview mit Helga und Wolfgang Weber-Zucht

Helga (*1935) und Wolfgang (*1929) Weber-Zucht betreiben in Kassel den gewaltfrei-libertären Verlag Weber & Zucht.

Helga hat sich in den 50er Jahren bei der Naturfreundejugend engagiert. Weitere Stationen ihres politischen Engagements waren von 1964 bis 1966 hauptberuflich der Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) und die Ostermarschbewegung.

Wolfgang war ab 1958 aktives Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner und des VK. 1965 war er Mitherausgeber der in Hannover publizierten "Direkten Aktion - Blätter für Gewaltfreiheit und Anarchismus", einer Vorläuferin der "Graswurzelrevolution". Ende der 60er Jahre lebten Helga und Wolfgang in London, wo sie vier bis fünf Jahre u.a. für die War Resisters' International (WRI) arbeiteten. 1973 kehrten sie nach Deutschland zurück, beteiligten sich an der 1972 gegründeten Graswurzelrevolution (GWR) und gründeten zusammen mit Leuten aus dem Kreis um die Zeitung die Graswurzelwerkstatt. Heute gehören sie noch immer zum GWR-HerausgeberInnenkreis.

Von 1974 bis 1978 war Helga zweite Vorsitzende und von 1978 bis 1985 Ratsmitglied der WRI. Als Graswurzelwerkstatt-Arbeiter fungierten Helga und Wolfgang von Juli 1974 bis Dezember 1980 als Herausgeber des Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, der zuvor von der Gewaltfreien Aktion Betzdorf unter etwas anderem Namen erschienen war. Wolfgang übernahm als Graswurzelwerkstattarbeiter 1980/81 einmal die deutsche und dann die internationale Koordination für den Internationalen Gewaltfreien Marsch für Entmilitarisierung. 1982 schieden beide aus der Werkstatt aus, die in Göttingen und später in Köln weitergeführt wurde. Von 1992 bis 1995 waren Helga und Wolfgang MitherausgeberInnen des Graswurzelrevolution-Kalenders.

Teil 1: Interview mit Helga

GWR: Liebe Helga, wie hast Du Dich politisiert? Was waren wichtige Ereignisse in Deinem politischen Leben?

Helga: Wie ich politisiert wurde oder ob ein Ereignis ein wichtiges im politischen Leben war, wurde mir oft erst im Rückblick deutlich. Es fing ja ganz unpolitisch an, wollte ich grad sagen - und merke gleich, daß das schon zu kurz greifen würde.

Als ich knapp 15 war, zogen wir 1949 nach Krieg und Evakuierung zurück nach Kassel. Meine Eltern hatten zu ihren alten Freunden aus der Vorkriegs-Arbeiterjugend noch Kontakt und haben ganz bewußt dafür gesorgt, daß ich mich deren Tochter bei der Naturfreundejugend anschloß. Ganz sicher war das der erste Schritt in die "linke Richtung" - von meinen Eltern aus ihrer eigenen Sozialisierung her so gewollt, ohne daß ich damals abschätzen konnte, welche Bedeutung das hatte.

Diese alten Freunde und wir wohnten ziemlich nah beieinander, alle in selbstgebauten winzigen Behelfshäuschen mitten in intensiv betriebenen Gemüsegärten, mit langen Wegen bis zum öffentlichen Nahverkehr. Es war toll, so schnell Anschluß zu finden.

Wandern, singen, tanzen, Theater spielen, Musik aus anderen Ländern, und am Wochenende mit Rad und Zelt "auf Fahrt gehen" - wenn ich nicht grad Trümmersteine sauberklopfen mußte für unser nächstes Zimmer. Diese Selbstversorgung und das Haus Marke Eigenbau waren, wenn auch unter leichtem elterlichem Zwang (denn lieber wär ich an allen Wochenenden auf Fahrt gegangen), auch eine Prägung, die mich nicht mehr losgelassen hat. Dazu kamen später die Erkenntnisse aus der Ökologie- und 3.Welt-Bewegung, die das noch festigten: Gemüse und Obst für sich selbst und ohne Gift anbauen, die Welt nicht durch den eigenen Lebensstil belasten.

Es dauerte nicht lang, bis die Naturfreundejugend anfing mit der Aufarbeitung der Nazizeit. Wir waren in den Städten noch umgeben von Trümmern, die Familien trauerten um Vieles: Gefallene, im Konzentrationslager Umgekommene, zerbombte Häuser, verlorene Heimat, vergewaltigte Töchter, Verlust von Hab und Gut, keine Arbeit. Wir Jugendlichen mußten begreifen lernen, wieso es dazu gekommen war.

Die Naturfreunde, wie so viele während des "Dritten Reiches" verbotene Organisationen, entwickelten eine Jugendarbeit von einer tollen Bandbreite: Aufklärung über die Nazizeit, den Krieg und alles, was damit zu tun hatte. Fahrten zu den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz - das hat uns sehr mitgenommen, geprägt, Alpträume verursacht. Meine Eltern waren knapp verschont geblieben, wenn sie auch als frühere Mitglieder der KPD und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes immer wieder bespitzelt worden waren und in Angst gelebt hatten. Viele ihrer Freunde hatten es nicht überlebt. Wir begriffen: das alles darf nie wieder passieren. Aber auch Literatur, Kunst, alles was während der Nazizeit unterdrückt war oder sich eben in der Nachkriegszeit entwickelte, war Teil unserer Gruppenarbeit. Ich denke immer noch mit Bewunderung daran zurück. Nicht nur an das Programm, sondern an diese jungen Männer und Frauen, die fast ihre ganze Freizeit dafür gaben. So scheint es mir im Rückblick zumindest. Sie fuhren nach der Arbeit, auch bei Schnee und Eis, z.B. von Frankfurt nach Kassel und wieder zurück, um zu organisieren, politische Ideen vorzustellen, über Gruppendynamik oder sexuelle Erziehung zu referieren, über Nachtwanderungen oder Sportfeste - oder einfach nur, um mit uns zu singen. Was alles so dazu gehört, zur Jugendleiterausbildung. Ich kam aus dieser kleinen Zwergschule. 15 Kinder gabs im Dorf, einschließlich der Flüchtlinge und Evakuierten, alle Jahrgänge gleichzeitig in einer Klasse! Und konnte nun meinen Horizont erweitern, obwohl ich zu keiner "Höheren" Schule hatte gehen können.

Viele dieser Jugendlichen, die wie ich durch diese Gruppenarbeit solidarisches Gemeinschaftsgefühl entwickelten, wurden zwar auf der politischen Schiene, aber auch auf ganz viel anderen unterschiedlichen Empfindungsebenen berührt, was vielleicht dazu geführt hat, daß ich jetzt nach rund 50 Jahren noch immer viele von ihnen aktiv in sozialen Bewegungen oder auch noch direkt bei den Naturfreunden sehe.

Und zu einer Zeit, als wir lernten, daß sich Krieg und Faschismus nicht wiederholen dürfen, begannen bereits die Planungen für die Wiederaufrüstung. Die Naturfreundejugend schien immer mit zu den Aktiven und den Machern zu gehören, zumindest in Hessen. Sie war intensiv beteiligt am Widerstand gegen die Remilitarisierung. Bei einer der Demos in Frankfurt bin ich voll Empörung und tief bewegt auf offener Straße der Gruppe der Kriegsdienstverweigerer beigetreten, indem ich die WRI-Erklärung unterschrieb:

"Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung seiner Ursachen zu kämpfen."

Ich sehe noch den Freund aus einer der südhessischen Gruppen vor mir, der mich "geworben" hat, obwohl ich keine Ahnung von der WRI hatte und kein eigenes Theoriegebäude im Hinterkopf. Es war der Zorn darüber, daß DIE schon wieder anfingen, die Leute auf Kriege einzustimmen.

Also, so eine Unterschrift ist ja nichts Weltbewegendes. Den Text hätte ich u.U. sogar vergessen, wenn ich nicht viel später so eng mit der WRI zu tun gehabt hätte. Aber es war ein ganz eigenständiger Schritt für mich, außerhalb der Gruppe und in einer Zeit, da es ja noch die sogenannten "Ohnemichel" gab, diejenigen, die nie wieder etwas unterschreiben wollten, wenn ihre Unterschrift für die Nazis ihnen so übel genommen würde. Daraus haben viele abgeleitet, sich nie mehr für etwas zu engagieren. So eine Selbstverpflichtung hat schon eine eigene unsichtbare Dynamik - ich kann sie nicht mehr ungeschehen machen. Ja, und auch heute noch, mehr als 45 Jahre später, piekst sie mich ständig, weil ich nicht mehr tue gegen alle diese Kriege - und gegen vieles andere.

Welchen Platz ich dabei einnahm? In meiner Erinnerung immer beim "Fußvolk": Infostände vor Ort, argumentieren lernen gegen den immerwährenden Spruch "Geht doch nach Drüben, wenn's Euch hier nicht paßt!", Flugblätter verteilen (nicht von mir geschrieben), Spenden sammeln, Mitstreiter finden, Protokolle und Gruppenrundbriefe schreiben, Abzeichen verkaufen. Ich war nie bei den Maßgebenden und Ideenschmiedern. Aber so ganz einfach dürfte es für Frauen damals auch bei den Kriegsdienstverweigerern und dem Ostermarsch nicht gewesen sein, in die "Chefetage" aufzusteigen. Nie habe ich vergessen, wie einer der jungen Männer bezüglich einiger schon etwas älterer, aber sehr aktiver Frauen herablassend meinte, sie wollten sich nur abreagieren, weil sie keine Männer hätten. Und Frauen und Mädchen wurden einerseits kritisiert, weil sie angeblich in den KDVer Organisationen nur als Freundinnen mitkamen, und andererseits, weil viele nicht sahen, was ein weibliches Wesen in so einer männlichen Gruppe von KDVern zu suchen hat. Es gab ja für Frauen keine Wehrpflicht. Ich hoffe, diese Ansichten sind heute Schnee von gestern.

Ich war trotzdem mit Überzeugung dabei, immer aus der Gruppenarbeit der Naturfreundejugend heraus: bei landesweiten Demos der ersten Anti-Atombewegung, mit nur wenigen hundert Teilnehmern, die in großen Abständen liefen, damit's nach mehr aussah. Bei den Ostermärschen der frühen 60er Jahre waren wir dann 15.000 zum Schluß am Frankfurter Römer - das MUSS doch Einfluß haben auf die Politiker, gab einer der Redner damals seiner Hoffnung Ausdruck.

Alle diese Aktivitäten bewirkten, daß ich mich nach außen nur darüber und nie über Beruf und Arbeitsplatz definierte. Über die tieferen Gründe läßt sich nur spekulieren. Vielleicht lag es daran, daß ich von meiner Ausbildung her ja "nur" Stenotypistin war. Viel später, Anfang der 90er, war ich einige male Abteilungssekretärin. Das klang besser, war aber nur mehr Arbeit, nicht mehr Ehre. Ich glaube, als Arbeiterkind wollte ich in normalen Firmen nicht so mitziehen und "das kapitalistische System unterstützen". Auch dies ein Teil der Politisierung. Möglicherweise sogar eine Spätfolge der Schulungen über Marx, Engels und Mehrwert. Eine Unlust am normalen Geschäftsbetrieb, der von mir immer als kapitalistisch und damit verwerflich eingeschätzt wurde. Jetzt bin ich schon lange Rentnerin und darf das mal so öffentlich preisgeben, da ich keine Stelle mehr suche und sicher auch trotz Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht mehr zwangsverpflichtet werde.

Ich hatte schon 14 Berufsjahre in der ganz gewöhnlichen Arbeitswelt, bei kleinen Krautern, großen Konzernen, einem Verein und einer Behörde hinter mir, als der "Umschwung" kam. Ohne diese Berufserfahrungen in der Einöde von Diktate aufnehmen und tippen hätten meine späteren "Arbeitgeber" kaum Verwendung für mich gehabt. Denn zum Glück gehört es auch zu den wichtigen Ereignissen in meinem Leben, daß mir einige interessante Arbeitsplätze in den Schoß gefallen sind, sie wurden an mich herangetragen: die Jahre 1964 bis 1966 in Offenbach für den Ostermarsch und in der Bundesgeschäftsstelle beim Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK). Und ebenso die fünf Jahre im WRI-Büro in London wie auch später die acht Jahre Arbeit für die Gewaltfreien Aktionsgruppen in der Graswurzelwerkstatt.

Die Zeit im WRI Büro und in England überhaupt brachte mich mit so viel unbekannten Ideen in Berührung. Wie sehr uns das bewegte und bereicherte, geht aus dem hervor, was Wolfgang dazu sagt. Außer den WRI-Leuten lernten wir z.B. John Papworth kennen, den Mitbegründer der Zeitschrift Resurgence. Schon damals sprach er darüber, daß es eines Tages Kriege um knapper werdende Wasservorräte geben werde - ein Thema, das hier erst jetzt langsam ins Bewußtsein dringt.

Als wir nach unserer Rückkehr für die Gewaltfreien Aktionsgruppen zu arbeiten begannen, hatte ich vorher keine Vorstellung davon, welch aufregende Zeiten wir vor uns hatten. Viele gwr-LeserInnen sind ja mit der Zeit ab 1974 selbst noch vertraut. Was wir als besonders weitreichend empfanden waren die Selbstorganisation der Gruppen, das Bemühen um Gleichberechtigung, um gemeinsam erarbeitete Entscheidungsprozesse, die Erkenntnis, daß es sich bei Abstimmungen nicht um demokratisches Vorgehen handelt, wenn die Mehrheit mal grad aus 51 % besteht, die sorgfältige Vorbereitung und öffentliche Bekanntmachung von Aktionen - das waren Entwicklungen, für die wir sehr gern gearbeitet und das Büro in unsere kleine Küche gequetscht haben.


GWR: Wie habt Ihr Euch kennen und lieben gelernt?

Helga: Ganz romantisch. Wir scherzen gern und sagen: Wir haben unser Herz in Heidelberg verloren, auf dem berühmten Schloß. Das war 1964 durch meine Arbeit beim VK, der für die WRI eine Studienkonferenz in Offenbach organisierte (mit Ausflug nach Heidelberg). Wolfgang war einer der Teilnehmer. Er war nicht nur am Thema, sondern - für mich unerwartet - auch an mir interessiert, und das mit einem ganz besonderen Charme, dem ich mich nicht verschließen konnte. Aber viele seiner politischen Vorstellungen waren völlig anders als meine, so daß bei stundenlangen Diskussionen meine Antworten alle mit "Ja, aber..." anfingen - kein Wunder, vom Anarchismus hatte ich bis dahin noch nichts gehört. Die Jahre im Büro der WRI in London und das Bekanntwerden mit der weltweiten gewaltfreien Bewegung haben dann auf meine Vorstellungen einen großen Einfluß gehabt - und dabei die Anzahl meiner "Ja, aber" beträchtlich verringert. Und lieben gelernt? Abgesehen von dem anfänglichen Verliebtsein erfahre ich das als einen lebenslangen Prozeß, der sich zum Glück bisher ständig wiederbelebt hat. Eine der ganz schönen Erfahrungen, die hoffentlich noch lange anhält.


GWR: Ihr habt gerade ein neues Buch verlegt: "Ziviler Widerstand im Kosovo" von Howard Clark (siehe Kasten auf dieser Seite). Welche Motivation hattet Ihr, dieses Werk zu produzieren?

Helga: Wir kennen Howard seit Jahrzehnten und wußten, daß er durch seine Arbeit bei der WRI und mit dem Balkan Peace Team sehr viel Zeit im Kosovo verbracht hatte. Und diese intime Kenntnis der Geschehnisse, der Möglichkeiten und Versäumnisse, von Mühen und Erfolgen sollte recht vielen Menschen zugänglich sein, dachten wir, besonders auch für die gewaltlose Bewegung. Auf deutsch gab es bisher zum Kosovo keine Veröffentlichung, die uns die Details und Möglichkeiten solch überwältigender Mobilisierung hätte vermitteln können. Und auch, wenn wir die Internationale Politik und die NATO schon immer mit Mißtrauen betrachtet haben, ist es hilfreich, hier nochmal aufgelistet zu finden, was an welchen Stellen ganz anders hätte laufen können.

Dazu kamen einige Beobachtungen bei der Dreijahreskonferenz der WRI in Kroatien. Wir hörten Berichte von einem Student aus dem Kosovo, von Männern und Frauen aus Kroatien und einigen anderen jugoslawischen Ländern. In Arbeitsgruppen und Plena wurde heiß diskutiert, sogar der Wunsch, die NATO möge endlich eingreifen - und das bei einer Konferenz von Pazifisten! Die Diskussionen waren sehr hitzig. Die Jugoslawen vor allem hatten auf ein solidarisches Signal aus der Konferenz gehofft. So schien es manchem, ein solcher Beschluß hätte den Kosovo retten können. Welche Fehleinschätzung. Natürlich konnte hier nicht für einen Krieg votiert werden. Es blieben zahllose Fragen offen, wie dieser Krise beizukommen wäre, obwohl so viele der Teilnehmer aus ähnlichen Krisengebieten kamen oder jahrzehntelange Erfahrungen in sozialen Bewegungen und mit gewaltfreier Gesellschaftsveränderung hatten.

Und viele der jugoslawischen Teilnehmer - verletzt und aufgewühlt von ihren Kriegserlebnissen - sind wohl sehr frustriert nach Hause gefahren. Das schmerzte alle.

Zwar versuchte ich danach, so viel wie möglich zu verstehen über die Situation im Kosovo, auch im Vorfeld der Bombardierungen und natürlich danach. Obwohl ich u.a. die gelegentlichen Berichte von Howard Clark zum Kosovo las und viele Informationen hatte durch Gespräche mit einem guten Freund, der sich sehr im und für den Kosovo einsetzte, blieb das Gefühl, nicht genug zu verstehen.

Als wir nach dem Krieg hörten, daß Howards schon vorher geschriebenes Buch jetzt erscheinen sollte, dachten wir, daß es gut in unser Programm passen würde. Um ganz besonders die Jahre des Zivilen Widerstands im Kosovo auch ein paar Jahre danach noch mal nachlesen, für die Zukunft aufbewahren und auch anwendbar machen zu können. Das schien uns ganz wichtig.

Ich finde es toll, daß es jetzt erhältlich ist, daß wir dank dem Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung finanzielle Unterstützung erhielten von der Deutschen Stiftung Friedensforschung, die uns bei den Druck- und Übersetzungskosten unter die Arme griff. So ist uns die Entscheidung, das Buch übersetzen zu lassen, auch leicht gefallen. Für Menschen in sozialen Bewegungen, besonders in der gewaltfreien Bewegung, enthält es eine solche Fülle von Details, die einem die Augen öffnen für die Einschätzung dessen, was in einer Gesellschaft mit wessen Hilfe entgegen allen Unkenrufen leistbar, vielleicht sogar veränderbar ist.

Ein besonderer und folgenreicher Aspekt ist dabei die Kampagne zur Beendigung der Blutfehden, wovon ich nichts gewußt hatte. Howard schreibt, daß die Blutrache der Fluch des Kosovo war, daß noch Ende der 1980er Jahre das Leben von 17.000 Männern davon bedroht war, daß viele von ihnen für Jahrzehnte ihre Häuser nicht mehr verließen aus Angst, ermordet zu werden oder morden zu müssen. Wenn es keine Männer mehr gab in einer Familie, mußten die Frauen die Blutrache fortführen. Man könnte sich denken, daß alle den Wunsch hatten, das abzuschaffen. Aber es bedurfte vieler Diskussionen und guten Zuredens von Familie zu Familie, von Dorf zu Dorf, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Betroffenen gegenseitig verzeihen konnten.

Das Jahr 1990 war zum Jahr der Aussöhnung erklärt worden. An den Wochenenden reisten Anton Cetta und viele andere in die Dörfer zu betroffenen Familien. Ein Jahr lang ist die Photographin und Hochschullehrerin Lala Meredith-Vula mit ihm umhergereist. Ihr Umschlagbild zeigt eine Versammlung von einigen tausend Menschen in Xhonaj im Kosovo am 2. Mai 1990. Am gleichen Tag an anderer Stelle waren es fast 500.000, nach Schätzung von Anton Cetta, Leiter der Kampagne, von der die Leute nur vom Hörensagen wußten. Sie kamen tagelang vorher, in langen Fußmärschen, ohne vorherige Anzeigen, Einladungen oder Rundbriefe, ohne zu wissen, wo genau sie hin müßten. Alle kamen als Betroffene und als Zeugen. Die beiden Vertreter von je zwei verfeindeten Familien traten vor und versprachen sich öffentlich in die Hand, "dem Blut zu verzeihen", d.h. die Blutfehde zu beenden.

Natürlich präsentiert Howard auch Situationen, Vorgänge und Ideen, denen nicht gleich das Herz zufliegt, sondern die beachtliche Herausforderungen darstellen. Aber ich glaube, besonders sein letztes Kapitel, die Überlegungen zum zivilen Widerstand, wird immer wieder gelesen werden. Er sagt dort u.a., daß vor allem ein Gefühl der Befähigung notwendig ist, also das Gefühl, daß man etwas zur Gestaltung der Gesellschaft, in der man lebt, beitragen und den Verlauf der Auseinandersetzung, in die man verwickelt ist, verändern kann. Hier scheint mir die wesentliche Herausforderung und vor allem die Chance für die Zukunft zu liegen, den Menschen dieses Gefühl der Befähigung vermitteln zu können - egal wo auf dieser Erde. Und diese weitreichende Wirkung wünsche ich dem Buch und uns allen.


GWR: Herzlichen Dank!

Helga: Ja, lieber Bernd, ganz unsererseits. Dir auch herzlichen Dank, daß Du uns die Chance gegeben hast, selber noch ein bißchen über all diese Fragen nachzudenken.

Teil 2: Interview mit Wolfgang

GWR: Lieber Wolfgang, wie hast Du dich politisiert? Was waren wichtige Ereignisse in Deinem politischen Leben?

Wolfgang: Ich bin recht früh an politischen Fragen interessiert gewesen. Dazu vielleicht etwas über meinen familiären Hintergrund. Meine Eltern waren Bauern. Ihre Familien hatten bis zum Ende des 1.Weltkrieges in Westpreußen gelebt, das mit dem Versailler Vertrag von 1919 polnisch wurde. Da meine Großeltern die polnische Staatsangehörigkeit nicht annehmen wollten, mußten sie Polen verlassen und siedelten Mitte der 20er Jahre in der Uckermark. Dort heirateten meine Eltern und mein Vater führte den Hof seiner verstorbenen Eltern fort. Im Zusammenhang mit dem Interessenverband der Siedler kam mein Vater in Kontakt mit rechten Gruppen und war schließlich sehr angetan von den Nationalsozialisten, wenn er auch nicht mit allen Aspekten einverstanden war. So war eine seiner Thesen Ende der 30er Jahre, daß die eigentliche Revolution erst noch kommt, nämlich die Sozialisierung der Betriebe und vor allem die Kollektivierung der Landwirtschaft, die ihm als Bauer besonders am Herzen lag. Die "Zinsknechtschaft" brachte die Bauern damals in große Bedrängnis und mein Vater erhoffte sich von der Kollektivierung eine Lösung dieser und weiterer Probleme bäuerlicher Arbeit. Bei Familienzusammenkünften gab es mitunter lebhafte Diskussionen. Da waren unterschiedliche Positionen - christliches Engagement, linke Positionen und mein Vater mit seiner Naziposition, was meine Mutter nicht sonderlich gerne sah und was sicher auch zu der späteren Entfremdung zwischen meinen Eltern beigetragen hat. Diese Diskussionen faszinierten mich und ich erinnere mich, daß noch gegen Ende der 30er Jahre einer meiner Onkel meinen Vater gelegentlich mit 'Heil Moskau' und 'Rot Front' begrüßte, worauf meiner Vater 'Rot Front verrecke' zu erwidern pflegte.

1939 kam ich mit 10 Jahren zum Jungvolk. Aber da wir auf einem Dorf lebten, passierte eigentlich wenig, außer vielleicht mal ein Zeltlager im Sommer. In drei Jahren gab es einmal ein Wochenende mit Nachtmarsch, Liedersingen und ähnlichen Aktivitäten. Ich ging zur Schule in die Kreisstadt und kam nachmittags kaum vor 15 Uhr nach Hause, was Teilnahme an Zusammenkünften beim Jungvolk praktisch ausschloß. Die Indoktrinierung mit Nazi-Ideen geschah zu Hause durch meinen Vater. Allerdings waren da auch andere Einflüsse. Ich ging zu einem Gymnasium, dessen Schüler praktisch nur aus bürgerlichen und adligen Kreisen kamen. Der "Pöks", wie Jungvolk und Hitlerjugend verächtlich genannt wurde, war nicht beliebt. Die Jungen, die im Internat lebten, pflegten sich vor dem Dienst von Jungvolk und Hitlerjugend mittwochs und sonnabends zu drücken, wo sie nur konnten, vor allem dann, wenn "Besuch" von Eltern oder Verwandten da war und der kam oft, in Wirklichkeit fast nie (Im Jungvolk war man von 10-14, in der Hitlerjugend von 14-18 Jahren).

Mein Vater hatte Anfang der 30er Jahre einen Arbeitsunfall und verlor dabei ein Bein bis zum Knie. Da er die Arbeit auf dem Hof nicht mehr machen konnte, wurde meine Mutter Hebamme und mein Vater war Hausmann, eine völlig ungewöhnliche Familienkonstellation zu der Zeit. 1942 zogen wir nach Brandenburg/Havel. Auch dort war ich Fahrschüler. Durch die vielen Fliegerangriffe hatten die Züge viel Verspätung und ich war oft erst am späten Nachmittag zu Hause. Dienst bei der Hitlerjugend war längst nicht immer möglich, auch hatte ich zu manchen Aktivitäten keine Lust. So nahm ich lange Zeit am Dienst nicht teil. Im Herbst 1944 schließlich erwischten sie mich und steckten mich mit vielleicht 30 anderen in so etwas wie eine Strafeinheit. Wir waren an einem Sonntag in die HJ-Dienststelle beordert worden, wo wir unsere Gründe für unser Nichterscheinen darlegen mußten. Ich war einer der wenigen, dessen Erklärung von den HJ-Führern akzeptiert wurde. Andere hatten es da viel schwerer und manche wurden im Verlauf des Verhörs sogar geschlagen. Wir mußten von nun an sonntags vormittags Dienst tun, der aus Marschieren im Gelände und Schießen auf dem Schießstand bestand. Bemerkenswert dabei war, daß keiner dieser 30 eine Uniform trug, was völlig ungewöhnlich war, von den Führern aber kritiklos hingenommen wurde - auch das ungewöhnlich. Der Dienst war gleichzeitig Dienst für den Volkssturm und bei Feindalarm sollten wir uns auf der Dienststelle melden. Als gegen Ende April 1945 die Russen vor Brandenburg standen und Feindalarm gegeben wurde, kam es mir überhaupt nicht in den Sinn, daß ich mich zu melden hatte. Nach einer kurzen Unterredung mit meinen Eltern habe ich mich aufs Fahrrad gesetzt und bin nach Westen gefahren. Meine Eltern gaben mir den Rat nach Westdeutschland zu Verwandten zu fahren. Ich war dann zwei Tage etwa 30 km westlich von Brandenburg und bin dann noch mal zurückgefahren und wollte meine Eltern dazu bewegen mitzukommen. Wegen der Schießerein bin ich aber am Stadtrand wieder umgekehrt. Dort traf ich auf einen der höheren HJ-Führer Brandenburgs, der mich zwar kannte, aber nicht wußte, wo er mich hinstecken sollte. Er hat vielleicht zehn Minuten versucht, etwas aus mir herauszukriegen und mir klarzumachen, daß es meine Aufgabe sei, für Führer und Vaterland zu kämpfen, immerhin war ich 16 Jahre alt und die meisten meiner Klassenkameraden waren bereits Flakhelfer oder Soldaten. Ich habe mich aber so verhalten, daß er nichts mit mir anfangen konnte und mich vielleicht auch geistig für etwas minderbemittelt hielt. Schließlich hat er mich mit ungefähr den Worten verabschiedet: "Wer nicht mit dem ganzen Herzen bei der Sache ist, den können wir nicht gebrauchen." Mit großer Erleichterung habe ich mich aufs Rad geschwungen und bin eilig davongefahren. 30 km westlich traf ich auf meine Eltern und Schwester, die gerade noch rechtzeitig die Stadt mit dem Auto verlassen hatten. Als Hebamme gehörte meine Mutter zu den Wenigen, die noch Auto fahren durften. Wir sind bis zur Elbe gefahren, haben das Auto dort stehen lassen und sind mit kleinen Kähnen über die Elbe gesetzt, wo uns amerikanische Soldaten empfingen und uns zurückschicken wollten. Meine Schwester, ihre Freundin und ich haben all unsere geringen Englischkenntnisse hervorgekramt und die Soldaten schließlich dazu bewegen können, uns nicht zurückzuschicken.

Dies mag den Eindruck erwecken, als hätte ich bei Kriegsende den Glauben an die Ideen des Nationalsozialismus aufgegeben. Das war keineswegs der Fall. Natürlich gab es Erfahrungen, die Zweifel möglich machten. Auf der anderen Seite gab es jedoch massive Einflußnahmen von vielen Seiten, nicht zuletzt die propagandistische Darstellung vom "heldenhaften" Kampf "unserer" Soldaten, die Begegnung mit Ritterkreuzträgern, die Beeinflussung im Geschichts- oder Deutschunterricht u.ä. Es gab in den letzten Kriegsjahren noch eine Reihe anderer Erfahrungen, die rückblickend eigentlich einen früheren Bruch mit der Naziideologie hätten zur Folge haben können. Gegen Ende 1943 habe ich zum ersten Mal von Konzentrationslagern erfahren, von Fremdarbeitern und Zwangsarbeitern, die der Sabotage verdächtigt wurden, in Lager kamen, wo sie geschlagen oder sogar zu Tode gefoltert wurden. Im Frühjahr 1944 hatten drei von uns eine Unterhaltung über die Frage, ob der Krieg noch zu gewinnen sei und was ein verlorener Krieg wohl für uns bedeuten könnte. Im Winter sah ich die ukrainischen Frauen in Wattejacken und -hosen barfuß in Holzschuhen durch die Stadt gehen und in Mülltonnen nach Essensresten suchen. Das verursachte ganz unangenehme, fast schmerzhafte Gefühle. Verunsicherung war da, aber keine ernsthafte Infragestellung der Naziideologie. Ein wenig Opposition war auch da. Viele von uns hörten die Feindsender, nicht so sehr wegen der Informationen, die da gegeben wurden, sondern wegen der Jazzmusik, die wir liebten und bewunderten und die von HJ-Seite verpönt und verboten war. Auch erreichten uns Nachrichten über die Edelweißpiraten, wenn wir auch nicht alle Einzelheiten kannten, so war doch Bewunderung für sie da.

Diese Erfahrungen während der Nazizeit waren von ganz entscheidender Bedeutung für mich. Eine bewußte und systematische Auseinandersetzung damit setzte etwa drei bis vier Jahre nach Kriegsende ein. In den letzten Monaten unserer Schulzeit hatten wir einen Lehrer, der uns dazu brachte, unsere Beschäftigung mit der Philosophie im sokratischen Gespräch zu führen. Diese Methode bietet die Möglichkeit zur gewalt- und herrschaftsfreien Diskussion philosophisch-politischer Fragen. Sie erfordert viel Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit, zum Sich-Öffnen für die Argumente der anderen und Infragestellen der eigenen Denkgewohnheiten. Das alles war für uns, die wir die Nazizeit recht bewußt erlebt und in lebhafter Erinnerung hatten, eine enorme Herausforderung. Der Altersunterschied in der Klasse betrug über 10 Jahre. Die Älteren waren Soldat und zwei sogar Offizier gewesen, einer davon in der Waffen-SS. Vor allem durch diesen Lehrer sind wir alle unsere "Nazi-Hangups" gründlich losgeworden. Von ihm hörten wir zum ersten Mal von einem Sozialismus freiwilliger Zusammenschlüsse, von gegenseitiger Hilfe, von der Notwendigkeit von Gewerkschaften ohne Hierarchie und Bürokratie, damit die Kontrolle über die Entscheidungen durch die Arbeitenden gewährleistet ist. Er beteiligte sich, wie ich später erfuhr, an der Arbeit der Freien Büchergilde. Eine wichtige Frage, die wir mit ihm diskutierten, war die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Ein Aspekt dabei war die Sache, daß zu Hause und in der Schule Mädchen klar gemacht wurde, daß ihre Stärke im gefühlsmäßigen Bereich liegt. In der Schule, so wurde erzählt, liege ihre Stärke im Sprachlichen, die Sache der exakten und Naturwissenschaften dagegen sei mehr eine Sache der Männer. Solche Ansichten zu überprüfen, dazu hatten wir in der Klasse gute Gelegenheit, denn zu den Besten in Mathematik, Physik und Chemie gehörten Frauen.

Zwischen 1960 und 1965 lebte ich in Hannover und kam durch den Ostermarsch gegen Atomwaffen in Kontakt mit einem kleinen Freundeskreis, der sich um die Kriegsdienstverweigerung herum gebildet hatte. Die Beschäftigung mit den Atomwaffen, der Kriegsdienstverweigerung, der Rüstung, dem Pazifismus führte uns zu Gandhi, dessen Technikkritik uns ansprach und die wir durch Günter Anders bestätigt und im westlichen Kontext vertieft sahen. Die These der Organisatoren des Ostermarsches, die damals die friedliche Nutzung der Atomspaltung befürworteten, fand bei uns nicht viel Zustimmung, was auf viel Unverständnis, ja sogar Mißtrauen stieß. Das Mißtrauen war auch an anderer Stelle da, beispielsweise bezogen auf den Kommunismus-Antikommunismus. Noch etwa 15 Jahre später, als der Gewaltlose Marsch für Entmilitarisierung in Deutschland stattfand, sagte mir ein Freund aus Italien, der an der Organisierung des Marsches beteiligt war, daß die emotional aufgeladene Atmosphäre in Bezug auf den Ost-West Konflikt in Deutschland, auch innerhalb der Friedensbewegung, ihn überrascht hätte. Er meinte, daß sie es in der Friedensbewegung in Italien auch nicht gerade leicht hätten angesichts der Stärke der italienischen Kommunistischen Partei und deren Friedensableger, er also einiges gewohnt sei. Anfang der 60er Jahre war dieses Problem noch viel stärker und das bekamen wir bei jeder Veranstaltung und den Infotischen zu spüren, die wir zur Vorbereitung der Ostermärsche durchführten, zu Hiroshima- und Nagasaki-Gedenktagen, zum Antikriegstag und ähnlichen Gelegenheiten. Bei Infotischen auf öffentlichen Plätzen bildeten sich Menschentrauben, in denen wild durcheinander diskutiert wurde und kaum jemand auf den anderen hörte. Ja, es kam vor, daß Menschen sich anschrieen und beleidigten. Ich denke, daß das ein wenig die Probleme unserer damaligen Arbeit kennzeichnet.


GWR: Wie kamst Du zum gewaltfreien Anarchismus?

Wolfgang: Durch viele und sehr unterschiedliche Anregungen - Landauer, Kropotkin, Tolstoi um nur einige Namen zu nennen -, näherten wir uns allmählich dem Anarchopazifismus. Als wir dann zum Ostermarsch 1965 die erste Nummer der vervielfältigten Zeitschrift Direkte Aktion (1) herausbrachten, war das schon praktisch am Ende meiner Hannoverschen Zeit. Wir kamen auch in Kontakt zu anderen Anarchisten. So nahmen einige von uns an einer Tagung in Bückeburg teil, wo wir Genossen aus Belgien und den Niederlanden kennen lernten.

Durch die Arbeit in den Organisationen der Kriegsdienstverweigerer kam ich in Kontakt mit deren Internationale, der War Resisters' International (WRI) (2) und nahm im Sommer 1963 an einer Studienkonferenz über Gewaltlosigkeit und sozio-ökonomische Veränderung teil. Dort traf ich auf Satish Kumar und E.P. Menon, die auf einem Marsch von Neu-Delhi nach Washington waren, um unterwegs Menschen zu treffen und mit ihnen über die Gefahren von Krieg und Atomwaffen zu sprechen. Außer in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich trafen sie auch mit Ministerpräsidenten oder Mitgliedern der Regierung der Länder zusammen, die sie durchwanderten. In Frankreich planten sie während der Konferenz eine Demonstration vor dem Palais Elisée, dem Amtssitz des französischen Präsidenten. Ole Bach aus Dänemark und ich erklärten uns bereit, daran teilzunehmen. Die Ausgangsfrage der Konferenz war, ob Abrüstung Frieden schaffen kann oder ob auch grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft dazu erforderlich sind. Dabei wurde dann diskutiert, welche Rolle Gewaltlosigkeit für grundlegende politische, soziale und ökonomische Veränderungen spielen kann.

Die Erklärung, die bei der Konferenz herauskam, war umfassend, aber auch etwas allgemein. An einem Punkt war es dann aber doch sehr konkret. Lanza del Vasto, der Gründer der Arche, einer kommuneartigen religiösen Gemeinschaft, nahm an der Konferenz teil und lud uns ein, die Archegemeinschaft, die sich damals in der Nähe von Bollène, nördlich von Avignon, etwas oberhalb der Rhone befand, zu besuchen. Ole Bach und ich fuhren gemeinsam hin und erlebten eine eigenartige, fremdartige und doch anziehende Gemeinschaft. Unter dem Einfluß Gandhis waren Technikkritik, Handarbeit und Selbstversorgung wesentliche Aspekte ihres Lebens. Einer meiner ersten Eindrücke war, daß ich mich um etwa 200 Jahre zurückversetzt fühlte. So wurde beispielsweise Elektrizität nicht benutzt. Ein anderer Aspekt dieser Gemeinschaft war ihre politische Ausstrahlung. Sie hatten einen wichtigen Beitrag zum Widerstand gegen den Algerienkrieg geleistet - und spielten 15 Jahre später eine ähnliche Rolle im Widerstand gegen den Truppenübungsplatz auf dem Larzac.

Dies waren Dinge, die uns in Hannover interessierten. Anschließend an den Besuch in der Arche fuhren Ole und ich nach Lyon und nahmen an einem Wochenendseminar teil, bei dem ich zum ersten Mal ein Rollenspiel erlebte, wobei Lanza del Vasto die Rolle eines Demonstranten spielte, der von Polizei festgenommen wurde. Das war für uns eine Art Vorbereitung für die Demo in Paris. Dort trafen wir vier unsere letzten Vorbereitungen bei Freunden der Arche und fuhren mit einem Transparent zum Palais Elisee. Wir hatten uns kaum vor dem Gebäude aufgestellt, als wir auch schon eingeladen wurden, ins Gebäude zu kommen und wurden nach einem etwa zweistündigen Gespräch mit einem hohen Beamten ins Gefängnis gebracht, wo wir drei Tage und Nächte auf stinkenden, verpißten Matratzen verbrachten, unterbrochen von täglichen Verhören. Nach drei Tagen wurden Ole und ich in Handschellen mit dem Zug über Straßburg nach Deutschland gebracht. In Verbindung damit ereignete sich eine kleine Begebenheit etwa 13 Jahre später am gleichen Grenzübergang. Wir wollten zu dritt mit dem Auto einreisen, um in Paris an einer Gerichtsverhandlung eines französischen Totalverweigerers teilzunehmen. Wir wurden kontrolliert und sie hatten eine klitzekleine Karteikarte von mir, kaum größer als ein Spickzettel. Da es um Mitternacht war, mußten wir mehrere Stunden warten, bis die Grenzer gegen Morgen Kontakt mit dem Innenministerium bekamen, um zu erfahren, daß ich einreisen durfte.

Anfang 1964 war ich drei Monate in Großbritannien und erhielt Kontakt zu einer Reihe von Gruppen und Organisationen in London, Wales, Birmingham und Schottland. In Glasgow arbeitete ich eine Weile in der Factory for Peace. Natürlich war ich auch einige Tage im Büro der WRI und beim Komitee der Hundert, dem radikalen Flügel mit direkten gewaltlosen Aktionen der Bewegung gegen Atombomben. Eine Weile nach diesem Aufenthalt bekam ich die Anregung, mich für eine freie Stelle bei der WRI zu bewerben.


GWR: Wie hast Du Helga kennen und lieben gelernt?

Im Sommer 1964 fand in Offenbach eine Studienkonferenz der WRI zum Thema Gewaltlose Konfliktlösung statt, besonders bezogen auf Deutschland und Berlin. Dort lernte ich Helga kennen und fühlte mich augenblicklich zu ihr hingezogen. Am dritten Tag der Konferenz war eine Fahrt nach Heidelberg auf dem Plan, und dort, besonders bei einer Besichtigung des Heidelberger Schlosses, kamen wir uns sichtbar näher. Ich habe sie dann ein oder zwei Wochen später bei ihren Eltern in Kassel besucht. Lebhaft erinnere ich mich an einen Besuch der Documenta (Weltausstellung der Gegenwartskunst). Dort ist mir zum ersten Male aufgefallen, welche Veränderungen in der Konzeption von Kunst stattfanden. 1977 als wir die Koordinationsarbeit für die Gewaltfreien Aktions- und Graswurzelgruppen machten, hatten wir Gelegenheit, an einer Documenta aktiv teilzunehmen. In der Bürgerinitiative gegen Atomkraftwerke hatten wir eine Freundin von Beuys kennen gelernt, die den Vorschlag machte, daß wir in Beuys' Raum mit der Honigpumpe an mehreren Tagen das Programm gestalten könnten. Dazu kamen dann einige FreundInnen aus den GA-Gruppen nach Kassel und zusammen haben wir zu den verschiedenen Aspekten Gewaltloser Revolution diskutiert. Die Veranstaltungen waren recht gut besucht und Beuys saß im Hintergrund auf einer Leiter, hörte aufmerksam zu und war sehr beeindruckt.

Im Oktober 1965 ging ich nach London, um im Büro der War Resisters' International zu arbeiten. Die nächsten acht Jahre in England wurden zu den wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Sie brachten eine enorme Öffnung meines Lebenshorizontes. Sie führten aus der Enge und Dumpfheit und konfrontativen Atmosphäre deutscher Gesellschaft in eine viel offenere und freiere Gesellschaft, die zwar auch ihre Grenzen und Vorurteile hatte, wo aber ein großer Unterschied sofort spürbar war. Jahre später habe ich Popper gelesen - Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde - und sah, daß Popper einige Jahrzehnte vorher ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.

Die Arbeit in der WRI brachte mir neue Einsichten in die Entwicklung des Pazifismus und der Gewaltlosigkeit, und ich lernte Persönlichkeiten kennen, die für die Entwicklung von Ideen und Aktionen eine wichtige Rolle gespielt haben. Das will ich an ein oder zwei Beispielen deutlich machen.

Die Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges, die in der WRI eine große Rolle spielten, und von denen ich noch einige kennen lernte, stehen am Anfang einer neuen Widerstandsbewegung gegen Krieg. Bis dahin war Kriegsdienstverweigerung vor allem an religiöse Gruppen und Inhalte gekoppelt. Jetzt erhielt Kriegsdienstverweigerung einen universellen Anspruch. Sie stand allen Menschen offen. Kriegsdienstverweigerung wurde zu einer politischen Kraft.

Die KDVer des 1.Weltkrieges sagten von sich, "Kriegsdienstverweigerer sind dagegen die hartnäckigsten Kämpfer, welche die Welt je gesehen hat. Nicht Frieden wollen sie, sondern Revolution - eine Revolution des Geistes, die eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen und eine Welt schaffen wird, in der alle Menschen gemeinsam für das Wohl aller arbeiten." (aus Der Durchbruch von Runham Brown, War Resisters' International 1930). Die Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges legten den Grundstein zu einer Entwicklung, die in den späten 60er Jahren konkretere Formen annahm, nämlich der Entwicklung hin zur Aufnahme der Kriegsdienstverweigerung in den Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen.

Eine andere Frage, auf die ich aufmerksam wurde, war die Beziehung zwischen Gandhis Ideen der Gewaltlosigkeit und dem Pazifismus. Generalsekretär der WRI war Devi Prasad, der die letzten Jahre vor Gandhis Tod in Gandhis Ashram gelebt hatte. Er half Ideen Gandhis in die Arbeit der WRI und damit auch in den Pazifismus des Westens einzubringen. So beispielsweise die Frage grundsätzlicher gesellschaftlicher Veränderungen als Herausforderung für die Anhänger der Gewaltlosigkeit und als notwendiges Element für eine Welt ohne Krieg. Diese Entwicklung fand einen ersten Höhepunkt auf der Internationalen WRI-Konferenz 1969, auf der ein Manifest für eine Gewaltlose Revolution ins Auge gefaßt wurde. Der "Entwurf für ein Manifest für eine Gewaltlose Revolution" wurde dann der Internationalen WRI-Konferenz 1972 von George Lakey vorgelegt.

Dies alles hatte bereits eine 20jährige Vorgeschichte. Gandhi selbst hatte ein Treffen mit führenden Pazifisten Europas und der USA vorgeschlagen, das ein Jahr nach Gandhis Tod in Indien als Weltkonferenz der Pazifisten stattfand.

Kriegsdienstverweigerer des 2. Weltkrieges in den USA haben in den Gefängnissen und Lagern Gandhi studiert und diskutiert, wie sie diese Ideen später umsetzen könnten. Im Gefängnis selbst haben sie sogar damit angefangen und Aktionen durchgeführt, um die Lebensbedingungen für die Gefangenen zu verbessern.

Ich entdeckte, daß die Entwicklung im Pazifismus in den USA und Großbritannien, besonders mit der Praxis von Gewaltloser (Direkter) Aktion und Zivilem Ungehorsam, der Entwicklung in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern um Jahrzehnte voraus war. Literatur zu diesen Fragen war in Deutschland, aber auch anderen Ländern Europas nur wenigen bekannt. Menschen, die sich mit solchen oder verwandten Fragen befaßten, wie Nikolaus Koch in Dortmund in den 50er und 60er Jahren, fanden nur wenig Resonanz.


GWR: Als die Graswurzelrevolution 1972 in Augsburg gegründet wurde, hast Du mit Helga in London für die War Resisters' International gearbeitet. Wie seid Ihr zur Graswurzelrevolution gekommen?

Wolfgang: 1972 auf der Internationalen WRI-Konferenz in England sahen wir die erste Nummer der Graswurzelrevolution und lernten den Redakteur Wolfgang Hertle kennen. Die Zeitung gefiel uns, und als Helga und ich ein Jahr später nach Deutschland zurückkehrten, stellten wir bald die Kontakte her. 1974 fingen wir mit der Arbeit in der Graswurzelwerkstatt an, der Koordinierungsarbeit für die GAs und Graswurzelgruppen. Und solange die Redaktion der GWR in Berlin war, sind wir immer mal nach Berlin gefahren, um an der Redaktionsarbeit teilzunehmen.

Teil 3: Interview mit Helga und Wolfgang Weber-Zucht

Graswurzelrevolution: Schon früh gab es ein Netzwerk zwischen Graswurzelbewegungen der BRD und der DDR (3). Ihr hattet gute Kontakte zu DDR-Graswurzelgruppen. Erzählt doch mal.

Helga: Einerseits gern, weil ich so beeindruckt war von den Menschen, die ich dort traf. Andererseits müßten zu diesem Themenkomplex andere etwas sagen, die damals intensiver beteiligt waren und viel mehr Risiken eingegangen sind - auf beiden Seiten.

Zuerst noch eine Anmerkung zu Deiner Frage. Sehr "früh" gab es diese Kontakte meines Wissens nicht, aber da mag ich mich irren. Ob man von einem Netzwerk zwischen uns und DDR-Friedensgruppen sprechen kann, bezweifele ich. Dafür waren es zu wenig Kontakte, und auch die Gefährdung für die Freunde in der DDR war viel zu groß. Und ich zögere, den Begriff DDR-Graswurzelgruppen zu benutzen. Wenn er in dem Sinne benutzt würde wie in England oder den USA, dann vielleicht - also Initiativen, die sich ganz unten und von allein entwickeln. Aber "wir Graswurzler" haben den Begriff ja immer eng verknüpft mit der GWR benutzt. Und in dem Zusammenhang würde ich nicht von DDR-Graswurzelgruppen sprechen wollen. Das schiene mir selbst im Nachhinein noch eine unzulässige Vereinnahmung.

Wie ich die wenigen Menschen wahrgenommen habe, die ich kennen lernte, und darüber hinaus die, von denen man im Laufe der Zeit erfuhr - auch durch die Medien -, haben diese Gruppen sehr eigenständige Entwicklungen durchlaufen. Sicher hat es gegenseitige Ermutigungen durch Begegnungen und Austausch gegeben. Aber ob wir hier in Westdeutschland von ihrem Mut und ihrer Risikobereitschaft nicht viel mehr hätten lernen sollen, als sie an Anregungen aus unseren Aktionsberichten erfahren oder gar hätten auf ihre Situation übertragen können, das hätten wir vielleicht damals alle intensiver wahrnehmen und diskutieren sollen. Darüber hinaus hat es Ende der 80er und danach, wie Du auch angemerkt hast, viele Gruppen und Organisationen gegeben, die Kontakt zu den gleichen Leuten hatten.

Wir sind durch die damaligen Herausgeber der Graswurzelrevolution in Berlin in direkten Kontakt zu Leuten in Ostberlin gekommen (dort gab es einen philosophischen Arbeitskreis, später dann auch die damit eng verbundenen Frauen für den Frieden) sowie zu den Freunden vom Friedensseminar in Königswalde, im Süden der DDR.

Kleiner Einschub hier für das Wiedererkennungsmoment, das wir ja oft brauchen: In den beiden Gruppen in Berlin waren z.B. Bärbel Bohley, Frau Havemann, die Poppes und andere, deren Namen in den 1980ern und noch mehr nach der Wiedervereinigung vielen geläufig wurden.

Es wäre vielleicht wichtiger, aus der Sicht der damals hier wie dort Beteiligten darüber etwas zu lesen.


GWR: Es wäre aber schade, wenn Du nichts weiter dazu sagen magst, nachdem Du mir kürzlich am Telefon davon erzählt hast.

Helga: Es gab so vieles, was sich mir tief eingeprägt hat und mir nach so viel Jahren noch immer wichtig ist. Dafür muß ich zeitlich ein bißchen zurückgreifen. Während meiner Arbeit im Londoner WRI-Büro organisierte die WRI eine weltweite Unterschriftenkampagne unter eine Petition an die Vereinten Nationen zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. Abgesehen von ein paar eher offiziellen DDR-Adressen, wie dem Deutschen Friedensrat, hatte die WRI auch einige Kontakte zu Privatpersonen in der DDR. Sie alle erhielten natürlich auch diese Petition mit der Bitte um Unterschriftensammlung.

Es dauerte Monate, bis die Unterschriftenlisten aus aller Welt wieder in London eintrafen (noch keine flotten Faxe oder ähnliches wie heute). Und ich kann Dir gar nicht beschreiben, welchen Eindruck das bei der WRI hinterlassen hat und wie mich das ganz persönlich berührte, als im Laufe der Zeit in mehreren 20g-Briefumschlägen insgesamt an die 270 Unterschriften aus der DDR ankamen, immer soviel, wie auf eine DIN A4-Seite drauf passten - alle auf dem gleichen blauen Durchschlagpapier.

Es waren, glaube ich, aus aller Welt knapp 10.000 Unterschriften - aber für mich waren diese 270 aus der DDR fast so gewichtig, wie die anderen zusammen. Denn wir konnten uns gut vorstellen, was das für ein Risiko gewesen sein muß für diejenigen, die sich dafür eingesetzt hatten. Erstmal, eine Schreibmaschine, wer durfte die schon haben. Dann die Mühe, die Petition und die Liste an die 30 bis 40 x abzutippen, gleich mit vielen Durchschlägen zum Weiterreichen. Dann das Weiterreichen selbst und das Darüber-Reden mit anderen. Und daß solche "kritischen" Geister ständig Kontakt hielten untereinander - das hat uns sehr berührt. Dabei konnten sie doch nie wissen, wie lange so etwas "gut geht", ob jemand alles verpfeift, welches genau die Folgen wären.

Aus der Zeit schon stammte meine Hochachtung vor diesen Freunden. Viele Jahre später, Anfang 1980, habe ich einmal an einem der Königswalder Friedensseminare teilgenommen und traf zu meiner Überraschung und großen Freude endlich einen, dessen Namen ich aus meiner WRI-Zeit in London kannte, der evtl. schon Kontakt zur WRI hatte, als es die sogenannten Bausoldaten offiziell noch nicht einmal gab, als seine eigene Kriegsdienstverweigerung den DDR-Behörden die ersten Schwierigkeiten bereitete -, und ihm selbst natürlich erst recht. Deren Netzwerke scheinen mir viel älter und größer als die der Graswurzler und Gewaltfreien Aktionsgruppen, die Anfang der 1970er entstanden.


GWR: Wie wurden die Kontakte aufrecht erhalten?

Helga: Das war nie so ganz einfach. Wir hatten das Glück, Verwandte in Ostberlin zu haben und nutzten die Gelegenheit dann oft, auch die Freunde in Ostberlin zu besuchen, immer im Bemühen, weder Freunde noch Familie zu gefährden. Und immer mit etwas Angst, ob das gelegentliche Buch, die Schallplatte oder ein Artikelchen sicher durch die Grenze gebracht werden könnten und man nicht unterwegs beobachtet wurde.

Wolfgangs Teilnahme an dem Protest in Budapest im September 1968 gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in die Tschechoslowakei und die Reaktion der DDR-Behörden darauf war immer im Hinterkopf als ein Gefährdungsgrund für die Freunde. Und als Westler auf Besuch im Osten Kontakt zur DDR-Friedensbewegung zu haben, war immer auch ein Gefährdungsgrund für die Familie.

Daneben entwickelten sich die Beziehungen ähnlich wie die zur Familie: Päckchen hin und wieder verschicken, Briefe und Karten zu den Festtagen. Mitteilungen über das tägliche Leben, wir erfuhren, wenn Kinder geboren wurden und wie sie sich entwickelten.

Wenn wir Glück hatten, hatte bei einem unserer Besuche der philosophische Arbeitskreis grad seinen Gruppenabend, so daß wir von ihnen auch etwas erfahren konnten. Oder wir berichteten über die Arbeit der Gewaltfreien Aktionsgruppen. Mir schien es, daß die Freunde fast immer das Gesetzbuch unterm Arm hatten, um herauszufinden, wie denn "Gewaltloser Widerstand", "Sitzblockade" oder "Ziviler Ungehorsam" in den DDR-Gesetzen ihren Widerpart fänden, wie die Reaktionen sein könnten, wenn so etwas bei ihnen stattfände.

Und wir erfuhren, was passiert, wenn man bei offiziellen DDR-Großveranstaltungen den Mut hat, ein selbstgemaltes Plakat zu tragen; oder wie man Hase und Igel spielt, weil beim nächsten Mal schon die Polizei vor der Tür stand und den Freund mit seiner Plakatrolle verfolgte bis zur Demo und dort die Herausgabe des Plakates forderte - um feststellen zu müssen, daß diesmal nichts drauf stand.

Während in jeder Gruppe von aufmüpfigen Menschen weltweit oft überlegt wird, was zu tun ist, wenn eine Hausdurchsuchung ansteht, erfuhren wir dort, wie oft das konkret geschah, und wenn man Glück hatte, waren die unter den Kohlen versteckten wertvollen Bücher oder ähnliches nicht gefunden worden. Wer hat schon Lust, Kohlen zu schippen? Das mag lustig klingen, aber wenn bei jedem Treffen die Polizei das Haus beobachtet, kann man allen Humor verlieren. Die Geschichte der polizeilichen (oder war es die Stasi?) Beobachtungen - und viel mehr darüber hinaus - des Köngswalder Friedensseminars über viele Jahre hin, und daß es sich trotzdem von anfangs ca. 20 Leuten in einem privaten Wohnzimmer zu mehr als 700 in einer großen Kirche entwickelte, zeigte uns viel Einfallsreichtum und eine bewundernswerte Durchhaltekraft.


GWR: Wie habt Ihr das Ende der DDR und des Staatssozialismus in Europa erlebt? Wie bewertet Ihr den Einfluss der Bürgerrechtsbewegung?

Wolfgang: Das hat eine persönliche und eine politische Seite. Wenn ich an die persönliche Seite denke, die natürlich mit der politischen zusammenhängt, dann denke ich an die vielen Besuche bei meiner Mutter und anderen Verwandten in der DDR. Die vielen idiotischen Kontrollen - ein Beispiel:

Meine Mutter besuchte uns jährlich für 4 - 6 Wochen. Und in einem Jahr, Anfang der 80er Jahre fuhren wir mit ihr zurück nach Ostberlin. Wir hatten das Auto vollgepackt mit Schokolade, Kaffee, Äpfeln und allen möglichen Konserven. In meiner Aktentasche hatte ich ein Manuskript für ein Buch, das ich während des Urlaubs in Ostberlin in Ruhe zu lesen hoffte. Die DDR-Grenzer entdeckten das Manuskript, beratschlagten zwei Stunden oder mehr darüber und erlaubten Helga schließlich, es zurückzubringen zum Westberliner Kontrollpunkt, wo es für uns aufbewahrt wurde.


GWR: Was war das für ein Buch?

Wolfgang: Von Gunar Seitz: Ökologische Kriegsdienstverweigerung, das dann bei uns erschien. Während Helga ihre Wanderung vom Kontrollpunkt Ost nach West und zurück nach Ost machen durfte, mußte ich das ganze Auto ausladen und jedes einzelne Teil wurde geröntgt. So verbrachten wir den ganzen Nachmittag zwischen allen Stühlen - für meine Mutter als DDR-Bürgerin eine beängstigende Erfahrung - und für uns auch. Gegen Abend kamen wir dann doch wohlbehalten mit allem Gepäck, außer dem Manuskript, in ihrer Wohnung an.

Helga: Dazu ist noch zu sagen, daß diese Kriegsdienstverweigerung in dem Manuskript natürlich auch für die DDR-Grenzer beängstigend war. Sie wollten wissen, was wir damit vorhaben, wen wir besuchen wollen, wer der Autor ist und vieles mehr, was ich vergessen habe. Es waren mindestens 6 bis 7 Beamte in ständigem Rennen über den Hof zum nächsten Vorgesetzten am Entscheidungsprozeß beteiligt, ehe ich die Sachen in den Westen rübertragen durfte, zum Glück ohne weitere Nachteile für uns, was nicht selbstverständlich war.

Wolfgang: Unsere politischen Aktivitäten hier in der BRD hatten auch andere Familienmitglieder in der DDR zu spüren bekommen. Meine Schwester und ihr Mann erhielten wiederholt Besuch von der Stasi, die über ihre Kontakte zu uns und über unsere politische Betätigung mehr erfahren wollten. Offensichtlich waren wiederholt Briefsendungen abgefangen worden. Es handelte sich wohl um die GWR, und bei Öffnung des Umschlages sah jemand unsere Adresse von Versandbuchhandlung & Verlag bei den Kontaktadressen. Dies wurde vielleicht als Absender mißverstanden oder aber mit anderen Dingen in Zusammenhang gebracht und führte dazu, daß bei der Familie die Stasi auftauchte.

Es gab noch weitere Beispiele: Meiner jüngeren Schwester, die mehrere Jahre als Dolmetscherin mit DDR-Firmen in arabischen Ländern gearbeitet hatte, war es nach meinen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Besetzung der Tschechoslowakei durch fünf Warschauer Pakt Staaten nicht mehr möglich, ins Ausland zu reisen.

So war es eine Erlösung, als ich am 1. Mai 1990 bei meiner Nichte in Ostberlin zu Besuch war, endlich frei reden zu können über unsere Arbeit und auch über unsere Kontakte zu Freunden in der DDR.

Das Ende der DDR und des Staatssozialismus haben wir zwiespältig erfahren. Natürlich waren wir froh, mit unseren Freunden in der DDR nun frei kommunizieren und uns mit ihnen treffen zu können. Auf der anderen Seite teilten wir ihre Ansichten für einen freien und freiwilligen Sozialismus, womit sie in der DDR eine Minderheit waren und auf viel Widerstand stießen. Das hat uns sehr geschmerzt. Es zeigt die Grenzen der Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung, die durch ihre Aktivitäten die Menschen dazu ermutigt haben, sich gegen den Staat offen aufzulehnen, aber mit ihrer Forderung nach einer DDR in Freiheit nicht durchkamen.


GWR: Wolfgang, Du warst 1965 Gründungsmitglied und Mitherausgeber der Direkten Aktion (4). Kannst Du beschreiben, wie sich die Direkte Aktion entwickelt hat?

Wolfgang: Ich habe in der letzten Ausgabe der Graswurzelrevolution ja schon einiges zu der Arbeit des Kreises um die Direkte Aktion gesagt und in welchem politischen Kontext die Arbeit stand. Einer der wichtigsten Aspekte bei der Gruppe bestand wohl darin, daß es sich im Kern um einen Freundeskreis von bis zu 10 Leuten handelte, die sich in wechselnder Zusammensetzung mehrere Male in der Woche trafen. Wenn es nicht um die Vorbereitung von Veranstaltungen oder Aktionen ging, kamen wir zusammen zu nichts anderem als freundschaftlichem Beisammensein mit Wanderungen oder Musik. Es wurden auch Protestsongs getextet und komponiert. Oder es wurden Bücher diskutiert - nicht nur politische oder sozialkritische Literatur. Wichtig waren die Vorstellungen der Sarvodaya-Gesellschaft, wie sie von Gandhi, Vinoba Bhave und anderen in Indien entwickelt worden waren und die im wesentlichen die indische Variante einer anarchistischen Gesellschaft darstellen. Auf diese Weise versuchten wir Gewaltlosigkeit und Anarchismus zu verbinden und Protagonisten und Gruppen solcher Vorstellungen in Europa zu entdecken. Im Zusammenhang mit Gandhi stießen wir auf Tolstoi, entdeckten Landauer und andere. Als Ausweg aus dem Dilemma von Zentralismus und Bürokratie, auch im Zusammenhang mit Sozialismus, sahen wir die Bildung von Affinitätsgruppen von 10-15 Menschen, in denen ein festeres Gemeinschaftsleben, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbstorganisation eher garantiert ist und der Verwirklichung einer direkten, freiheitlichen Demokratie näher kommt.

Bald nach dem Beginn der Zeitschrift Direkte Aktion bin ich nach England gegangen und habe die Aktivitäten nur aus der Ferne verfolgen können. So weit ich das feststellen konnte, hat die Gruppe im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg verstärkt Aktionen organisiert, so daß es bald Schwierigkeiten gab, beides - Zeitschrift und Organisieren von Aktionen - unter einen Hut zu bringen.


GWR: Was ist aus den anderen Redaktionsmitgliedern geworden? Habt Ihr noch Kontakt?

Wolfgang: Als ich 1973 nach Deutschland zurückkam, existierte die Redaktion nicht mehr. Bei einigen wenigen Besuchen in Hannover habe ich vier FreundInnen wiedergesehen, die alle im Berufsleben standen. Einer von ihnen war politisch noch sehr aktiv. Er starb vor etwa zehn Jahren. In der Tageszeitung in Hannover stand ein kurzer Nachruf auf ihn, wo er als sozialistisches Urgestein beschrieben wurde. Einen weiteren Freund habe ich vor 25 Jahren bei einer Fahrt an den Bodensee getroffen, der dort in einer anthroposophischen Einrichtung für Behinderte arbeitete. Mit einem Freund in Hannover stehe ich noch in losem Kontakt. Vor drei Jahren hatte die Graswurzelgruppe Hannover mit anderen "Anarchistische Tage" organisiert, bei denen er mit seinem Sohn an einigen Veranstaltungen teilgenommen hat und Du ihn auch kennen gelernt hast.

Noch einige Worte zu zwei Leuten, die nicht zur Redaktion gehörten, aber zum weiteren Kreis. Es muß etwa 1970 gewesen sein. Vielleicht war es in dem Jahr als meine jüngere Schwester starb und wir zur Beerdigung in Ostberlin waren und ich mehrere Wochen in Deutschland war, auch in Hannover. Wir trafen auf einen Freund, der, so weit ich mich erinnere, zu der Zeit studierte und angab, politisierende Bewußtseinsarbeit mit Drogen zu machen. Wir kannten in swinging London natürlich diese Vorstellungen, hatten darüber diskutiert und auch Beobachtungen gemacht und festgestellt, daß mit Experimenten dieser Art leichtsinnig umgegangen wird und Menschen in heillose Verwirrung und Depression geraten können. Auf jeden Fall waren wir entsetzt zu sehen, in welche Richtung ein Mensch aus der Gruppe um die Direkte Aktion sich entwickelt. Jahre später wurde er Verleger einer Stadtzeitung.

Eine Frau, die wenige Monate vor meinem Umzug nach London zu unserer Gruppe gestoßen war ist später zur RAF gegangen. Sie ist im Flugzeug in Mogadischu umgekommen. Es hat mir einen riesigen Schreck eingejagt, als ich das Jahre später erfuhr. Für mich war das besonders schmerzlich, denn sie hatte gesagt, daß sie wesentliche Anregungen für ihr Denken von mir erhalten hat. Es ist schon eine unbegreifliches Geschichte, in welcher Weise Menschen mitunter Anregungen für ihr eigenes Leben verarbeiten.


GWR: Ihr kennt die Graswurzelrevolution seit mehr als 30 Jahren. Wie seht Ihr die Entwicklung der GWR? Was gefällt Euch? Was fehlt oder missfällt Euch, wenn Ihr die letzten Jahrgänge betrachtet?

Wolfgang: Die Graswurzelrevolution ist eine Zeitung für soziale Bewegungen, besonders gewaltlose Graswurzelbewegungen. Sie berichtet über ihre Aktionen, Ideen und Strategien in vielen Teilen der Erde und hilft mit Analysen und Auswertungen Erfolge und Mißerfolge zu erklären und zu verstehen. Sie analysiert nationale und internationale Regierungspolitik, vor allem wo sie in Beziehung steht zu der Arbeit und den Kampagnen sozialer Bewegungen. Es gibt aber Fragen, von denen die meisten Menschen betroffen sind, also auch Menschen, die die Graswurzelrevolution lesen und ihr schreiben. Aber dennoch wird in dieser Zeitung kaum etwas darüber geschrieben. Dazu gehört die Frage der sozialen Sicherheit, der Gesundheit, der Krankenversicherung, der Rentenversicherung. Ich war daher froh, daß in der Nummer 279 ein Beitrag von Horst Blume zu Fragen um den Sozialabbau erschien. Wie stehen wir eigentlich zu einem System der sozialen Sicherung, vor allem Kranken- und Rentenversicherung, die vom Staat gelenkt, kontrolliert und garantiert wird? Diese Fragen scheinen mir aktuell zu sein, vor allem angesichts der Tatsache, daß es immer mehr Stimmen gibt, die eine völlige Privatisierung der Alters- und Krankenversicherung fordern. Damit hätten wir ja nicht mehr ein System der sozialen Sicherheit, sondern der sozialen Unsicherheit, die von Profit bestimmt wird und dem weltweit rotierenden Kapital mit verheerenden Folgen an den Börsen - siehe das Schicksal der US-Rentenkassen vor einigen Jahren. Gibt es selbstbestimmte und selbstverwaltete Systeme der sozialen Sicherheit? Wie sah es vor der Einführung der staatlichen Alters- und Krankenversicherung aus? In England ist das erst etwas mehr als 50 Jahre her, und einige dieser Einrichtungen sollen bis heute überlebt haben, wenn auch in reduzierter Form. Gibt es Alternativen oder Gegenstrategien zur unheiligen Allianz von Pharmaindustrie, Regierung und Parlament, Krankenkassen und Ärzteschaft mit den Folgen, daß Menschen durch Behandlung oft in Krankheit und Abhängigkeit gehalten werden? Sollten uns diese Fragen nicht interessieren?


GWR: Wie weit entspricht Eurer Meinung nach die Graswurzelrevolution sowohl als Zeitung als auch als "Bewegung" dem Ideal der Gewaltfreiheit, das z.B. von Gandhi aufgestellt wurde?

Wolfgang: Ich denke, daß Gandhis Handeln und Denken in mancher Hinsicht nicht einem Ideal von Gewaltlosigkeit entspricht. Dazu sind einige Seiten seines Handelns und Denkens zu sehr gebunden an den geschichtlichen und kulturellen Kontext in Indien. Vieles, was in den vergangenen Jahrzehnten in der gewaltlosen Bewegung in vielen Teilen der Erde entwickelt worden ist und was ein Geben, Lernen und Zurückgeben mit neuen Erfahrungen und Ideen beinhaltet, geht über Gandhi hinaus. Bezugsgruppenmodell, Konsens und andere Elemente von Graswurzelbewegung wurden in Gandhis Indien nicht in der Weise, wie wir es kennen, praktiziert. Dafür war Gandhi selbst wahrscheinlich zu sehr Autokrat, Autorität oder Guru. Die Graswurzelrevolution hat seit ihrem Bestehen daran gearbeitet, die Verdienste und Bedeutung Gandhis für eine weltweite gewaltlose Bewegung herauszuarbeiten, und an der Weiterentwicklung von Aktion und Theorie gewaltloser Aktion in unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten mitgewirkt. In dieser Weise führt sie vielleicht fort, was Gandhi meinte, wenn er sagte: "My Life is My Message" (Mein Leben ist meine Botschaft).


GWR: Die Graswurzelbewegung erlebt zwar immer mal wieder Hochs. Insgesamt ist die Zahl der aktiven Graswurzelgruppen aber klein, nicht erst seit Auflösung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA). Nicht wenige ehemalige GraswurzelrevolutionärInnen haben sich entpolitisiert, sich zurückgezogen oder sie sind, wie z.B. Michael Schroeren (5), ins parteipolitische Lager abgewandert. Nicht alle bleiben so lange ihren gewaltfrei-libertären Idealen treu wie Ihr. Wie erklärt Ihr euch das?

Wolfgang: Es gab ja bemerkenswerte Unterschiede zwischen uns und den meisten Menschen, die in den Gewaltfreien- und Graswurzelgruppen aktiv waren. Auf dem ersten Weihnachtstreffen der Graswurzler 1973 waren einige TeilnehmerInnen kaum 18 Jahre alt und außer uns nur zwei oder drei älter als 25 Jahre. Wir hatten, als wir vier Monate später mit der Koordinationsarbeit der Gruppen in der Graswurzelwerkstatt (GWW) anfingen, viele Berufsjahre hinter uns, und ich war 45 Jahre alt. Berufsjahre können einem eine gewisse Distanz zu den Zielen und Grundsätzen von Gewaltlosigkeit, Anarchismus und Revolution verschaffen. Das Alltagsleben, die Sorgen, Nöte und Freuden von ArbeiterInnen und Angestellten hautnah kennen zulernen und zu teilen, machte uns in der Arbeit für Gewaltlosigkeit, Anarchismus und Revolution bescheidener als viele der 20jährigen, die studierten oder in der Berufsausbildung standen. Es ist eine meiner Vorstellungen, daß jemand, der oder die hauptamtliche Arbeit im Graswurzelzusammenhang oder in der Friedensbewegung macht, eine 5jährige Erfahrung in einem "normalen" Beruf haben sollte. Wir haben gegen Anfang unserer Arbeit in der GWW jemanden gehört, der zu Beginn seiner Mitarbeit an der Graswurzelrevolution die Vorstellung hatte, daß man nur genügend Zeitungen verkaufen müsse und die Menschen damit schon von den Ideen überzeugen könne, denn sie seien doch zwingend. Er wird zu der Zeit kaum älter als 18 Jahre gewesen sein. Wir waren schockiert und sprachlos. Dies mag 30 Jahre später etwas vereinfacht wiedergegeben sein, trifft aber den Kern dessen, was er sagte. Solche Sachen muß man natürlich im Zusammenhang mit der Atmosphäre der damaligen Zeit sehen, die für viele Menschen heute kaum nachvollziehbar ist. Auch ich mußte das damals erst lernen. Viele Graswurzler bis Ende der 70er Jahre bezogen wesentliche Anstöße aus den Ereignissen und Ideen der 68er. Als ich dies das erste Mal von einem Graswurzler hörte, mußte ich erst mal tief Luft holen, bis mir klar wurde, wo die Unterschiede zwischen ihm und mir liegen. Wir hatten die Ereignisse seit 1967 in London zwar nur gebremst wahrgenommen, dabei aber deutlich die negativen Tendenzen gesehen, die sich dann vor allem in den K-Gruppen manifestierten - und natürlich der RAF. Für uns gehörte das mit zu 68 und machte uns skeptisch.

Das Studium und die streckenweise begeisterte Arbeit und die Gemeinschaft in den Graswurzelgruppen erfuhr bei vielen im Beruf eine mitunter niederschmetternde Ernüchterung. Daraus erwuchs bei so manchem und mancher eine Ablehnung der eigenen Vergangenheit. So etwas haben wir wiederholt gehört. Natürlich gibt es dabei noch andere Faktoren. Heirat und Familie gehören dazu. Familie war für manche auch so eine überraschende Erfahrung, denn in den 70ern waren viele entschiedene Gegner von Familie und Anhänger vom Leben in Kommunen, wo die typischen patriarchalen Strukturen der Familie vermieden werden können.

Helga: Ich möchte noch "ein Wort einlegen" für einige unserer besten Weggefährten, die heute für uns unsichtbar scheinen. Wie Wolfgang schon gesagt hat, schienen wenige eine Vorstellung von den Schwierigkeiten zu haben, die mit dem Leben im Broterwerb einhergehen, oder wie sich die Utopien übertragen lassen, was bei der Altersstruktur nicht verwunderlich war. Das mag dazu geführt haben, daß so mancher, der einen dieser anderen Wege einschlug, sogar als "Verräter" betrachtet wurde. Ich erinnere mich an Gespräche mit einem, der sich wegen dieser Anschuldigung zurückzog und erst danach für uns verloren schien. Vielleicht ist es die Absolutheit in den Ansprüchen, die uns so viele gute Leute hat verlieren lassen.

Aber wer sagt denn, daß sie verloren sind? Ich denke an eine ganze Reihe ganz besonderer Frauen und Männer, die den Gruppen, der Zeitung, den Ideen über viele Jahre eng verbunden waren und alle ihre Energie und Kreativität einbrachten - zu unser aller Bereicherung. Sie stehen heute teils mit ihrem Broterwerb, teils darüber hinaus im ehrenamtlichen Bereich noch immer in der guten Tradition des Engagements. Aber nicht sichtbar für uns, weil wir grad dort nicht selbst wohnen, die Kontakte nicht aufrecht halten können. Und ich weiß von einigen von ihnen, daß sie ihre Arbeit noch immer als "Graswurzelarbeit" verstehen. Was es in der Tat auch ist. Eine der Frauen erzählte mir vor einigen Jahren, daß die Zeit und die Ideen in den GAs ihr dieses Handwerkszeug vermittelt hätten, das sie bei ihrer Arbeit braucht und anwendet. Also ist es vielleicht so, daß nur, weil wir es nicht wissen, uns das als Verlust erscheint? Oder weil es nicht koordiniert unter unserem Namen läuft? Und doch wird es gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben - zumindest in der Region, wo sie lebt.

Ich bin da etwas zuversichtlicher, was diese scheinbar Unsichtbaren angeht, obwohl ich deren kleine Zahl natürlich sehe gegenüber all den hunderten, die durch GA-Gruppen berührt und bewegt wurden. Vielleicht auch, weil ich einigen dieser Männer und Frauen immer wieder begegne bei den Jahrestagungen des Versöhnungsbundes, jetzt sogar mit ihren immer erwachsener werdenden Kindern in einigen Fällen. Das ist sehr schön, denn es macht mir auch Mut in manchmal mutlosen Zeiten, wenn ich sie dort wiedertreffe, die ich ursprünglich vor 30 Jahren bei den Gewaltfreien Aktionsgruppen traf.

Wolfgang: So ganz stellt mich diese Sicht nicht zufrieden. Ich denke dabei an unsere Arbeit in der WRI. Noch gegen Ende der 60er Jahre haben KDVer des Ersten Weltkrieges Kontakt zur WRI gehalten, haben Spenden geschickt und gelegentlich kam Geld aus dem Nachlaß von KDVern, die gestorben waren. Uns hat das damals wie heute ungemein beeindruckt. Einige dieser Freunde haben wir auch noch persönlich kennen gelernt. Solch eine langfristige, lebenslange Verbundenheit haben wir nicht und das vermisse ich.

Helga: Leider haben wir Graswurzler es nicht geschafft, mehr dieser Menschen zusammen zu halten, was zu den Aufgaben der Organisationsbildung gehört hätte.


GWR: Was wünscht Ihr euch für die Zukunft?

Helga: Hier beschränke ich mich auf den persönlichen Bereich: Ich wünsche uns genug Gesundheit und Energie für noch viele Jahre, damit wir weiter mitmischen können, wo es uns wichtig ist.

Wolfgang: Als um 1980 die Bewegung gegen die Mittelstreckenraketen an Momentum gewann, war mein Eindruck, daß die Graswurzel- und Gewaltfreien Aktionsgruppen nicht unbedingt gestärkt aus dieser Bewegung hervorgehen würden. Wir waren diejenigen, die Gewaltlose Direkte Aktion und Zivilen Ungehorsam in Deutschland auf die Tagesordnung gebracht haben, und zeitweise wurden diese Fragen weithin in der Öffentlichkeit diskutiert. Gruppen und Organisationen, die diese Aktionsformen noch wenige Jahre vorher abgelehnt hatten, übernahmen sie nach und nach. Neue Organisationen wurden gegründet, für die diese Aktionsformen jetzt selbstverständlich waren. Einige Gruppen und Organisationen lösten sich auf oder verloren an Bedeutung, zu denen auch die Graswurzelgruppen gehörten. Es wäre sicher interessant zu untersuchen, was zu diesem Niedergang beigetragen hat, und vielleicht kommt ja noch einmal eine Diskussion darüber in gang. Vielleicht gibt es dann etwas Klarheit darüber, wo die Schwächen bei uns lagen und ob es Faktoren gab, die außerhalb unserer Kontrolle lagen. Auf jeden Fall wünsche ich uns eine lebendige und kraftvolle Graswurzelbewegung, für die es in unserer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation viele Aufgaben gäbe.


GWR: Gibt es etwas, das Ihr den GWR-LeserInnen mit auf den Weg geben wollt?

Wolfgang: Ich denke, daß in diesem Interview einige unserer Erfahrungen zum Ausdruck gekommen sind und vielleicht kann die eine oder der andere daraus etwas mit auf seinen Weg nehmen.


GWR: Liebe Helga, lieber Wolfgang, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Interview: Bernd Drücke

Anmerkungen:
(1) Die in Hannover herausgegebene "Direkte Aktion - libertär-pazifistische Blätter" erschien 13-mal von 1965 bis 1966. Sie ist eine Vorläuferin der seit 1972 erscheinenden "Graswurzelrevolution". Mit der seit 1977 erscheinenden anarchosyndikalistischen DA hat sie nur den Namen gemein.
(2) Zur Geschichte der WRI siehe GWR Nr. 208/209-Sonderheft "War Resisters' International 1921-1996. Vom Widerstand gegen den Krieg zur gewaltfreien Revolution", Mai 1996
(3) Von 1988 bis 1992 habe ich im Münsteraner Umweltzentrum gearbeitet. Wir hatten einen regen Publikations- und Infoaustausch mit der Ostberliner Umweltbibliothek. Im Westen konnten wir ein wenig zur Verbreitung der anarchistischen DDR-Untergrundzeitung Kopfsprung und der Ostberliner Umweltblätter beitragen. Die Umweltblätter waren für uns so etwas wie eine "Graswurzelrevolution der DDR". Zur Geschichte von Kopfsprung, Umweltblättern, telegraph u.a. siehe auch: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998
(4) Die Direkte Aktion erschien 1965/66 in Hannover. Wer sich die 13 Ausgaben der "Blätter für Anarchismus und Gewaltfreiheit" (Untertitel) anschaut, kann erkennen, dass es sich um eine Vorläuferin der GWR handelt.
(5) Michael Schroeren war in den späten 70ern GWR-Redakteur. Heute ist er grüner Politiker und Pressesprecher des Bundesumweltministeriums.

Aus: Graswurzelrevolution Nr. 285 - 286

Originaltexte:  http://www.graswurzel.net/284/wezu.shtml / http://www.graswurzel.net/285/wezu.shtml / http://www.graswurzel.net/286/wezu.shtml


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