Ulrich Klemm - Prinzip Gemeinschaft & Föderation. Versuch über den Anarchismus als Organisationstheorie und die Anarchie als Ordnungsbegriff
Wird der Anarchismus als eine Organisationstheorie verstanden, dann betrifft dies alle Facetten seines Denk- und Handlungssystems. Der Anarchismus benötigt - neben einem politischen und philosophischen Wertsystem - in besonderem Maße aus diesem Blickwinkel ein Ordnungssystem als Bezugsrahmen eines freiheitlichen Lebens.
Exemplarisch für den Anspruch eines gewerkschaftlich orientierten Arbeiter-Anarchismus steht das Selbstverständnis von Rudolf Rocker, dem wichtigsten Mentor des deutschen Anarcho-Syndikalismus: "Wir nennen Anarchismus diejenige Richtung in der sozialistischen Gedankenwelt, die eine Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens auf der Basis persönlicher Freiheit und sozialer Gleichheit der Menschen anstrebt. Der Anarchist ist der Meinung, daß eine solche Erneuerung nicht von oben nach unten durch ein Konsortium von Gesetzgebern oder durch irgendeine Regierung diktiert werden kann, sondern sich organisch aus dem Schoße des Volkes entwickeln und zuerst als bestimmte Überzeugung ihren geistigen Niederschlag finden muß. Aus diesem Grunde erstreben wir nicht die Eroberung der politischen Macht - das unverrückbare Ziel aller politischen Parteien -, sondern die Ausschaltung des Staates und aller seiner Organe aus dem gesellschaftlichen Leben, da der Staat seinem innersten Wesen nach stets ein Werkzeug für die geistige Bevormundung und die wirtschaftliche Ausbeutung der Massen gewesen ist und nie etwas anderes sein kann, ungeachtet der Parteischablone, der er zufällig unterworfen ist, und der Personen, die vorübergehend seine ausführenden Organe sind. Der Anarchist sucht also nicht Fuß zu fassen in den Herrschaftseinrichtungen der heutigen Gesellschaft; er bekämpft diese Einrichtungen bis zum Äußersten und fördert nur solche Organisationsgebilde und Institutionen, die sich spontan aus der Masse entwickeln, deren unmittelbare Bedürfnisse verteidigen und dem Einzelnen die größtmögliche Freiheit und die Betätigung bewußter Solidarität und gegenseitiger Hilfe gewähren. Freiheit und Solidarität, die sich in dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit synthetisch zusammenfinden, sind die Eckpfeiler der Anarchie." (R. Rocker 1927, S.11/12).
Anarchismus wird hier als Ermöglichungsort für die Gewährung und Ausübung von Freiheit, Solidarität und gegenseitiger Hilfe gesehen, "spontan aus der Masse"(1927, S.12) entwickelt und geleitet von ihren Bedürfnissen. Eine "Diktatur des Proletariats" als gesellschaftliche Übergangsform, wie sie der Marxismus kennt, taucht in der anarchistischen Theorie nicht auf und wird als Fehlentwicklung gesehen.
Dieser Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten - einer von vielen - ist typisch und führte innerhalb der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zur Ausdifferenzierung des Sozialismus in einen sogenannten "antiautoritären" und "autoritären" Flügel .
M. Bakunin kommentierte diesen Bruch bzw. diese Unterschiedlichkeit der Auffassungen bezüglich der "Staatsfrage" in einem Brief vom 23. Januar 1872 an die "Internationalisten der Romagne": "Marx ist autoritärer und zentralistischer Kommunist. Er will, was wir wollen: den vollständigen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit, aber im Staate und durch die Staatsmacht, durch die Diktatur einer sehr starken und sozusagen despotischen provisorischen Regierung, das heißt durch die Negation der Freiheit. Sein ökonomisches Ideal ist der Staat als einziger Besitzer von Grund und Boden und jedem Kapital, das Land bebauend durch gut bezahlte und von seinen Ingenieuren geleitete landwirtschaftliche Assoziationen und mit dem Kapital alle industriellen und Handelsassoziationen kommandierend. Wir wollen den gleichen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit durch die Abschaffung des Staates und von allem, was juridisches Recht genannt wird, und was nach unserer Ansicht die permanente Negation des menschlichen Rechtes ist. Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschheit nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte - sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der von dem Joch des Staates befreiten Arbeiterassoziationen aller Art" (M. Bakunin 1924, S.188).
Erich Mühsam macht diesen Unterschied 1930 ebenfalls deutlich, wenn er zwischen einem "System der Regierung" und einem "System der Föderation" unterscheidet: "Das System der Regierung von oben nach unten, das System der Zentralisierung der Kräfte, hat sich in aller Welt durchgesetzt und bis jetzt, kaum ernstlich bedrängt, erhalten. Das System der Föderation von unten nach oben, des Bündniswesens, der Kameradschaft und der Freiheit, dieses System der Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit muß den Beweis seiner Verwendbarkeit in der wirklichen Welt aus der grauen Vorzeit der Menschheitsgeschichte und aus den täglichen Beispielen der uns umgebenden Tierwelt führen"( 1930, S. 272).
Zweifellos ist hier auch jener Zweifel herauszulesen, der sich fast zwangsläufig nach der Auswertung einer "Erfolgsbilanz", das heißt bei der Frage nach gesellschaftlicher Anschlußfähigkeit und politischem Erfolg des Anarchismus, ergeben muß.
II.
Die anarchistische Politik nach 1945 wird nicht nur aus diesem Grund alltagstauglicher formuliert und für die Praxis angelegt. Mitte unseres Jahrhunderts setzt eine pragmatische Wende im Anarchismus ein, die in erster Linie von England und den USA ausgeht und versucht einen Anarchismus für den Alltag im real existierenden Kapitalismus zu entwerfen.
Die Frage lautet, wie Herrschaft, Gewalt und zentrale Strukturen im Ensemble des vorhandenen Gesellschaft abgebaut, verringert und durch selbstverwaltete Systeme ersetzt werden können, ohne die Hoffnung zu haben, den verhaßten Staat selbst unmittelbar abzuschaffen und die soziale Revolution verwirklichen zu können.
Es ist zu diesem Zeitpunkt vor allem der russische Anarchist und Wissenschaftler Peter Kropotkin, auf den wieder zurückgegriffen bzw. der neu entdeckt und als Pate für einen pragmatischen Anarchismus herangezogen wird. Bereits 1942 bringt Herbert Read eine neue Edition von Texten Kropotkins heraus; 1948, zum fünfzigsten Jahrestag der Erstveröffentlichung von P. Kropotkins Werk "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk" würdigt Paul Goodman in einem Beitrag die Aktualität dieser Studie. Auf die Bedeutung für die heutige Zeit weist ebenfalls in den 60er Jahren der (Nicht-Anarchist) Sozialwissenschaftler Lewis Mumford (1961; 1964/1966 ) hin und schließlich wird für die holländische Kabouter-Bewegung in den 60er Jahren P. Kropotkin zum wichtigsten Klassiker und Vorläufer (R. van Duyn 1969, dt. 1971). In dieser Tradition steht auch der englische Architekt, Sozialwissenschaftler und Anarchist, Colin Ward, der 1966 vier zentrale anarchistische Organisationsprinzipien formuliert:
"Ich habe einmal in einer Rezension des frivolen, aber nützlichen Buches "Parkinsons Gesetz" versucht, vier Prinzipien einer anarchistischen Organisationstheorie aufzustellen: Die Organisationen müssen (1) freiwillig, (2) funktionsgerecht, (3) zeitlich begrenzt und (4) klein sein. Freiwillig sollen sie aus naheliegenden Gründen sein. Denn unser Eintreten für die individuelle Freiheit und Verantwortung wäre zwecklos, wenn wir gleichzeitig Organisationen forderten, bei denen die Mitgliedschaft obligatorisch ist. Aus ähnlichen naheliegenden, aber nicht immer beachteten Gründen sollen sie eine echte Funktion haben. Organisationen neigen dazu, auch dann weiterzubestehen, wenn sie gar keine Funktion mehr haben oder ihre früheren Funktionen überlebt haben. Zeitlich begrenzt sollen sie eben deshalb sein, weil die permanente Existenz einer der Faktoren ist, die die Arterien einer Organisation verkalken läßt, indem sie das Interesse am eigenen Überleben und damit die Tendenz fest begründet, eher den Interessen der Funktionäre als der Ausübung der scheinbaren Funktionen zu dienen. Klein sollen sie sein, weil in kleinen Gruppen, in denen man sich untereinander kennt, die bürokratisierenden und hierarchischen Tendenzen, die jeder Organisation innewohnen, sich am wenigstens entfalten können"(1972, S.408).
Wenn hier von einer anarchistischen Organisationstheorie gesprochen wird, dann heißt dies, daß der Anarchismus sowohl als Ziel gesellschaftlicher Entwicklung als auch als gesellschaftliche Methode zur Strukturierung von Alltag und Arbeit gesehen wird. Anarchie wird zu einem Ordnungsbegriff (U. Klug 1978) und Anarchismus zum Legitimationsprogramm der Anarchie; mit I. Kant gesprochen : eines Zustands von "Recht und Freiheit ohne Gewalt".
Anders ausgedrückt: Wenn das Ziel die größtmögliche individuelle Freiheit des Menschen ist, dann kann der Weg dorthin auch nur über freiheitliche Strukturen in Form von freiwilligen Zusammenschlüssen erfolgen.
Diese Sichtweise setzt ein hohes Maß aller Beteiligten an Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft voraus, impliziert eine ethische Grundhaltung der "gegenseitigen Hilfe" (P. Kropotkin) und macht einen anthropologischen Optimismus notwendig. Eine solche föderative und egalitäre Gesellschaftsstruktur, im Gegensatz zu einer zentralistisch-autoritären, setzt ebenfalls eine kollektiven Willen und einen Konsens voraus, den der deutsche Anarchist Gustav Landauer 1909 in einem Aufsatz über Organisationsformen wie folgt beschreibt: "Es gibt also zweierlei Organisationsformen. Die erste ist ein Bund von Bünden oder Gruppen, deren Glieder zur Selbsttätigkeit entschlossen sind, die niemals abdanken und nur zu praktischen Zwecken, vorübergehend und unter dauernder Aufmerksamkeit bestimmte Tätigkeiten Beauftragten übertragen. Die zweite schafft sich eine dauernde Bürokratie und ein Instanzensystem, sie ist zentralistisch, und die Vertreter handeln "aus eigener Machtvollkommenheit" und entscheiden über Dinge, um derentwillen die Vertretenen sie gar nicht entsandt oder gewählt haben"( 1909, S.79).
Der moralische und ethische Anspruch, der dabei zur Grundlage gemacht wird, verdeutlicht G. Landauer wenn er fordert: "Zusammenschließen soll man sich, um aus gemeinsamen Geist heraus Tatsächliches zu schaffen. Dazu sind nur die Aufrechten, die Selbständigen und die Tateifrigen zu brauchen, und darum können sie sich nie zu einer Organisationsform entschließen, die ihre eigene Betätigung ausschaltet und durch angestellte Beamte ersetzt"(1909, S.80).
Diesen Anspruch versuchte G. Landauer vor dem Ersten Weltkrieg mit seinem "Sozialistischen Bund" umzusetzen, der sich als ein "Bund von Bünden" versteht und auf dieser Basis zu neuen Siedlungs- und Schulmodellen aufruft. Dieses anarchistische Organisationsprinzip ist gekennzeichnet durch
- den Grundsatz der Autonomie des Individuums,
- die föderative Verbundenheit dieser selbständigen Individuen sowie
- durch die freiwillige Anerkennung dieser Prinzipien.
III.
Der "Sprung" in die gesellschaftliche Praxis gelingt dem Anarchismus jedoch nur selten im großen Maßstab. Erfolgreicher ist er dagegen als ein auf den Einzelnen begrenztes Lebensprinzip und Leitbild. So ist es heute auch nicht die gesellschaftliche Praxis die primär überzeugen kann - da sie nicht oder nur selten stattfindet - , sondern die Vision und Überzeugungskraft einer herrschaftsfreien Gesellschaft als Alternative zu real existierenden autoritären Verhältnissen und Zuständen.
Dieses Dilemma des Anarchismus begleitet ihn heute mehr denn je, obgleich er als gesellschaftliche und philosophische Leitidee seit den 60er Jahren eine neue Akzeptanz und Resonanz gefunden hat:
- E. F. Schumachers "Rückkehr zum menschlichen Maß als Alternative für Wirtschaft und Technik"(1973,dt. 1977) leitet unter dem Slogan "Small is Beautifull" eine Tendenzwende im Planungsdenken ein;
- in den letzten Jahren wird zunehmend - und nicht von Anarchisten - die Entstaatlichung als Neue Perspektive für das Gemeinwesen gesehen (Th. Schmid 1988) und die Grenzen des Staates neu unter dem Motto "Kein Staat mit diesem Staat" (D. Hummel u.a. 1986) diskutiert;
- die Diskussion um Theorie und Praxis der "alternativen Ökonomie" (vgl. z.B. R. Schwendter 1976 u. 1986) seit den 60er Jahren trägt die Ideen der Selbstverwaltungs- und Genossenschaftsökonomie des Anarchismus bzw. des utopischen Sozialismus ( z.B. Ch. Fourier, R. Owen) weiter;
- die Diskussion um die "Rückkehr in die Gemeinschaft" (D. Korczak 1981) und die Diskussion um neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt vor dem Hintergrund der zunehmenden Vereinzelung des urbanen Menschen sind originär im Anarchismus unter dem Stichwort der "gegenseitigen Hilfe" angelegt;
- der anarchistische Gesellschaftsbegriff findet bewußt in neue Politikmodelle Eingang und hat in den USA beispielsweise als "Anarchokapitalismus" mit der erfolgreichen Bewegung der "Libertarians" ein Politik-und Wirtschaftsverständnis entwickelt, das zwischen Individualanarchismus, Liberalismus und Konservatismus angesiedelt ist und mit dem amerikanischen Ökonom Murray Rothbard eine internationale Leitfigur hat (Überblick U. Heider 1992). In Deutschland wird seit Mitte der 80er Jahre der "Demokratische Sozialismus" auch unter der Perspektive des "libertären Sozialismus" diskutiert (R. Cantzen 1984) und schließlich finden wir auch bei den "Grünen" mit ihrer Politik einer "direkten Demokratie" anarchistische Politikelemente;
- die sogenannte "Gegenkultur", wie sie sich seit den 60er Jahren in einer kaum überblickbaren Vielfalt weltweit entwickelt hat (vgl. z.B. J. Gehret 1985; W. Hollstein 1981; Th. Roszak 1973, engl. 1968/1969), transportiert nicht nur bewußt oder unbewußt in vielen Fällen die anarchistische Gesellschafts- und Beziehungsvision als ein neues Lebensgefühl in das Zeitalter der "Postmoderne", sondern wird ab Mitte der 60er Jahre in weiten Teilen zum Träger und Animateur eines "Neuen Anarchismus" (z.B. die holländischen Provos und Kabouter; vgl. R.van Duyn 1971, holl. 1969; R.de Jong 1975, engl. 1971), von dem aus Impulse auf die kurz darauffolgenden Studentenunruhen in Kalifornien, Paris, Berlin, etc. ausgehen;
- schließlich dürfen in diesem Zusammenhang auch der "enfant terrible" der Wissenschaftstheorie, Paul Feyerabend, sowie sein deutscher Kollege, der Philosoph, Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Dürr nicht unerwähnt bleiben, die sich mit dem Axiom von "Wider den Methodenzwang" (P. Feyerabend 1976, engl. 1975) für einen erkenntnistheoretischen Pluralismus ("Dadaismus") im öffentlich-gesellschaftlichen sowie im wissenschaftlichen Diskurs aussprechen und Rationalität nur als eine mögliche und zudem suspekte Form von Bewußtheit und Erkenntnisgewinnung sehen. P. Feyerabend spricht von einem "Erkenntnistheoretischen Anarchismus" (1976), wobei Vernunft und Rationalität nur ein möglicher Maßstab unseres Denkens sein können, denn schließlich habe noch niemand bewiesen, so eine These von P. Feyerabend, "daß Wissenschaft besser als Hexerei sei und daß die Wissenschaft rational vorgehe" (1976, S.132).
Ohne daß diese Aufzählung vollständig sein kann und will - sie hat fragmentarischen und exemplarischen Charakter - soll angedeutet werden, daß sich auf verschiedenen praktischen und theoretischen Ebenen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung anarchistische Organisationselemente zum Tragen kommen und als Alternative Eingang in die öffentliche Diskussion finden.
Zweifellos kann dieser Trend nun nicht als der "Neuer Anarchismus" bezeichnet werden, da seinen Trägern in vielen Fällen die bewußte und beabsichtigte politische Identifikation mit der Geschichte und Theorie des Anarchismus fehlt. Andererseits finden hier aber auch unter einem anderen Vorzeichen libertäre Elemente Eingang in die gesellschaftliche Realität und Auseinandersetzung, die von Anarchisten seit jeher eingeklagt und gefordert werden.
Auch wenn der politische Anarchismus nur selten originär und explizit als Leitidee zu verorten ist, steht die Philosophie und Anthropologie des Anarchismus hierbei Pate. So erscheint es sinnvoll und notwendig, den Anarchismus unter der Perspektive der Organisationstheorie in gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht neu zu diskutieren. Dies erfolgt vor allem in England und den USA ab den 60er Jahren unter der Leitidee eines "Pragmatischen Anarchismus". Colin Ward nennt in diesem Zusammenhang, wie bereits oben zitiert, vier Organisationsparameter des Anarchismus, die er mit freiwillig, funktionsgereicht, zeitlich begrenzt und klein beschreibt.
Ähnliche Bekenntnisse zum Anarchismus als einer Organisationstheorie finden wir auch in jüngster Zeit bei Horst Stowasser - er schreibt: "Es mag manche überraschen, daß es so etwas überhaupt gibt: anarchistische Organisationstheorie. Das widerspricht jener verbreiteten Auffassung, in welcher Anarchie - diffamierend wie wohlwollend - als organisationsfeindlich, ordnungswidrig und strukturverneinend verstanden wird. Dabei ist Anarchie sehr wohl eine strukturierte Ordnung mit spezifischer Organisation. Ich meine sogar, daß die Organisationsmodelle des Anarchismus mit das Spannendste und Vielversprechendste sind, was er heute zu bieten hat" (H. Stowasser 1988, S.255).
IV.
Als ein Kernpunkt anarchistischen Organisationssoziologie kann festgehalten werden, daß es um die Transformation bürokratisierter, hierarchisierter und zentralisierter Strukturen in ein System der Föderation, Selbstverwaltung und -Verantwortung sowie Solidarität ("gegenseitige Hilfe") geht.
Mit Bezug auf den deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies (1887/1988) kann man hier auch im Gegensatz zu "Gesellschaft" von "Gemeinschaft" als Ziel des Anarchismus sprechen (1). Martin Buber, in Anlehnung an F. Tönnies und G. Landauer, definiert dieses Verständnis von Gemeinschaft als "Ausdruck und Ausbildung des ursprünglichen, die Totalität des Menschen vertretenden, naturhaft einheitlichen, bildungsgetragenen Willens" (M. Buber 1919, S.7).
Dem gegenüber steht die Gesellschaft, die als "geordnete Getrenntheit, äußerlich zusammengehalten durch Zwang, Vertrag, Konvention, öffentliche Meinung" (M. Buber 1919, S.8) auftritt (2).
In dem Maße, wie der Anarchismus als Oganisationstheorie verstanden wird, in dem Maße muß die Anarchie auch als Ordnungsbegriff, der unabhängig von der konkreten politischen und sozialen Bewegung des modernen Anarchismus existiert, definiert werden.
Als Ordnungsbegriff beschreibt der Staatsrechtler und ehemalige Justizsenator Ulrich Klug die "geordnete Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaats"(1978) und macht auf eine überzeitliche und staatsrechtlich-philosophische Bedeutung aufmerksam, die der Diskussion um Anarchie und Anarchismus die Emotionalität nehmen soll und die Begriffe in den Kontext der Staatsrechtstheorie stellt: "Die falsche Identifizierung der Anarchie mit dem Chaos und die ständige Wiederholung der These, ohne Herrschaft gäbe es keine Ordnung, sind uralte Methoden, mit denen die Herrschenden den Beherrschten die unumstößliche Notwenigkeit ihrer Herrschaft suggerieren." (1978, S.288).
Anmerkungen:
(1) Diese für die deutsche Soziologie klassische Schrift verbindet Soziologie, Psychologie, Anthropologie und Philosophie vor dem Hintergrund der beiden Idealtypen sozialer Vergesellschaftung: der "Gemeinschaft" und der "Gesellschaft". Tönnies spricht von "zwei Typen individueller Willensgestaltung"(1988 (1912), S.XXXIII), die er als "Wesenwille" und "Kürwille" bezeichnet und sowohl bestimmte Stufen in der kulturellen Evolution markieren als auch Ausdruck grundsätzlich verschiedener sozialer und politischer Ordnungssysteme sind.
Der Typus der Gemeinschaft ist ein gleichsam organisch gewachsenes Sozialsystem aus Verbundenheit, Ganzheitlichkeit, Bewußtheit und Tradition, während die Gesellschaft einem zweckrationalen Bündnis auf der Grundlage von kündbaren Verträgen gleichkommt und durch Distanz der Individuen zueinander gekennzeichnet ist.
Das Subjekt der Gemeinschaft ist das "Gemeinwesen"(1988,S.216), das der Gesellschaft der "Staat"( 1988.S.216): "Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares"(1988, S.4).
Zur Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, von Wesenwille und Kürwille, bringt Tönnies auch den Vergleich von "Organ" und "Gerät"( 1988, S. 106) und versteht darunter den Gegensatz zwischen einer künstlichen Maschine, geschaffen für einen bestimmten Zweck und einem Organ als Teil eines Organismus, das Kraft und Energie aus sich selbst schöpft.
Dieses Gegensatzpaar stellt für Tönnies die Grundbegriffe der "reinen Soziologie" dar und bezeichnet "soziale Wesenheiten", wobei die Gemeinschaft als eine in erster Linie organische Beziehung aus dem Wesenwillen resultiert und die Gesellschaft als Ausdruck eines Zweck-Mittel-Denkens die Konsequenz eines Kürwillens ist.
Historisch gesehen löst dabei die Gesellschaft die ursprüngliche Gemeinschaft ab. Tönnies Typologie wird in diesem Sinne in der Soziologie auch unter dem Stichwort "sozialer Wandel" diskutiert.
Sein Traktat von 1887 erschien bislang in Deutschland in über 10 Auflagen, teils als unveränderter Nachdruck, teils als veränderte Neuauflage, von denen vier Auflagen nach dem zweiten Weltkrieg 1963,1978, 1988 und 1991 publiziert wurden.
(2) Während des Ersten Weltkriegs vollzieht sich bei Martin Buber ein Bruch bzw. eine "Bekehrung" in seiner Biographie (vgl. A. Schapira 1986), die eine Hinwendung zur politisch-sozialen Realität bedeutet, philosophisch die Idee der "Gemeinschaft" als Sozialutopie in den Vordergrund rückt und 1947 mit der erstmaligen Veröffentlichung seiner Studie "Pfade in Utopia" ihren publizistischen Höhepunkt findet.
Jedoch bereits in einer Jugendarbeit (1901) erkennt der Buberbiograph und -forscher Abraham Schapira einen utopisch-anarchistischen Traum von der Gemeinschaft (1986, S.427), der sich erst viele Jahre später philosophisch und publizistisch äußert und im Zusammenhang mit der Freundschaft zu dem deutschen Juden und Anarchisten Gustav Landauer zu sehen ist. Seinem bereits zitierten Aufsatz "Gemeinschaft" (1919) stellt er in diesem Sinne neben einem Zitat von F. Tönnies und L. Tolstoi auch eines von G. Landauer (aus seinem Pamphlet "Aufruf zum Sozialismus", 1911) voran.
Auch wenn Buber nicht in erster Linie und explizit der anarchistischen Bewegung zuzurechnen ist, zeigt seine Sozialutopie von Gemeinschaft die Anschlußfähigkeit der originär anarchistischen Idee herrschaftsfreier sozialer Verhältnisse an die politisch-philosophische Diskussion des 20. Jahrhunderts.
Aus: Gerhard Kern (Hg.): AKAZ. Beiträge zur Religions- und Staatskritik Nr. 7 / Mai 1995
Gescannt von anarchismus.at