Jens Kastner - „Von den Schwierigkeiten, die Regierung stürzen zu wollen“. Neoliberalismus, Staat und Widerstand in Foucaults „Gouvernementalitätsansatz“

„Die Kunst des Regierens ist gerade die Kunst,
die Macht in der Form und nach dem
Vorbild der Ökonomie auszuüben“
(Michel Foucault, Die Gouvernementalität).

„Bildet Regierungen!“ lautete das leicht irritierende Motto eines Symposiums, das Ende Januar (30./31.01.2004) in Lüneburg stattfand. Auf dem Programm stand der „Gouvernementalitätsansatz“ des französischen Philosophen Michel Foucault. Sollten nun etwa angesichts des unter dem Eindruck neoliberaler Ökonomien allerorten diagnostizierten Einflussverlustes des Nationalstaates neue, alternative Regierungen gebildet werden? Nicht ganz. Was es mit der Gouvernementalität auf sich hat, und was das für ein Verständnis von Herrschaft und Widerstand bedeutet, soll im folgenden skizziert und diskutiert werden.

Die Macht als Regierung

Ende der 1970er Jahre, also zwischen der so eingeteilten zweiten (mit dem Schwerpunkt auf „Macht“) und seiner dritten Werksphase (mit Augenmerk auf „Subjekt“) beginnt Foucault, Prozesse der Herrschaft und die Arten und Weisen, wie Menschen zu Subjekten werden, zusammenzudenken. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der sich durchsetzende Neoliberalismus – was als recht weitsichtig gelten kann, denn weder Thatcher noch Reagan sind bereits gewählt.

Der Begriff der Regierung wird dabei zum Leitfaden und erweitert die bisherige Machtanalyse um eine entscheidende Dimension. Macht wird nicht mehr aus dem Blickwinkel vom Modell des Rechts oder dem des Krieges betrachtet, sondern unter dem Gesichtspunkt von „Führung“: wie werden Menschen geführt, und wie führen sie sich (auf). Regierung lässt sich als eine Form der Machtausübung bezeichnen, die als solche nicht nur von Herrschaft, Ausbeutung, etc. zu unterscheiden ist, sondern auch historisch verschiedene Führungstechniken umfasst (z.B. die griechisch-antike, die christlich-pastorale). „Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden“ (Foucault, zit. n. Bröckling u.a. 2000: 29). Regierung wird so – laut Thomas Lemke (1997) – konzipiert als Bindeglied zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen. Damit unterscheidet Foucault erstmals deutlich zwischen Macht und Herrschaft. Zweitens vermittelt der Begriff der Regierung zwischen Macht und Subjektivität, d.h. es kann nun untersucht werden, wie sich Herrschaftstechniken und Technologien des Selbst verknüpfen. Und drittens ermöglicht der Regierungsbegriff die Untersuchung der Verflechtungen von Macht und Wissen. Dafür wird der Begriff der Gouvernementalität geprägt, der Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) semantisch verbindet. Zum Ausdruck kommen soll damit, dass es komplizierter geworden ist mit dem alten revolutionären Traum, der schließlich auf der 2001er-CD der Goldenen Zitronen („Schafott zum Fahrstuhl“) auch nur noch ironisch gebrochen zu haben ist: „Alles was ich will, ist nur die Regierung stürzen“.

Der Staat als Effekt

Die Macht ohne den König zu denken – „Alles was ich will, ist nur ein paar Köpfe kürzen“ (Die Goldenen Zitronen) –, hatte Foucault schon zuvor angemahnt. Nicht nur repressiv und vernichtend, sondern auch selbst produzierend sei die Macht zu denken. Zudem geht sie nicht, wie anarchistische und marxistische Theorien oft vertraten, allein vom Staat aus. Foucault will den Staat nicht als autonome Quelle von Macht mit eigenem Wesen verstanden wissen, auf das sich mögliche Angriffe richten ließen. „Der Staat“, so Foucault (2000: 69), „ist keine Universalie“, sondern Effekt von Gouvernementalität. Der Staat sei nichts anderes als die Tatsachen, „das Profil, der bewegliche Zuschnitt einer ständigen Verstaatlichung oder ständiger Verstaatlichungen, unaufhörlicher Transaktionen, welche die Finanzangelegenheiten, die Investitionsweisen, die Entscheidungszentren, die Formen und Typen der Kontrolle und die Beziehungen zwischen den lokalen Mächten und der zentralen Autorität verändern, verschieben, umstürzen oder allmählich ins Rutschen bringen, wie auch immer“ (Foucault 2000: 70). Ist der Staat nun ein Effekt von Gouvernementalitäten, löst er sich im Neoliberalismus keineswegs auf, sondern vervielfältigt sich eher: Die NGO, die zur Vermittlerin zwischen RegierungsbeamtInnen und KonzernvertreterInnen mutiert ist, das gegen Miethaie und StadtplanerInnen durchgesetzte Innenstadt-Parkprojekt, das nun zur vermarktbaren Aufwertung des Stadtteils beiträgt, die „unabhängigen“ Arbeitsverhältnisse von Kunstschaffenden, die inzwischen zum Modell für Zwangsflexibilität und Prekarisierung geworden sind – die Beispiele sind unendlich, an denen sich zeigt, wie durchlässig ehemalige Frontlinien geworden sind. Herrschaft ist dadurch nicht weniger geworden, sondern nur komplexer und schwerer zu begreifen.

Wie sind nun aber neue Gouvernementalitäten zu denken? Obwohl bei Foucault gerade als Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene, zwischen Individuum und Gesellschaft gedacht, scheinen sich die mittlerweile auch im deutschen Sprachraum betriebenen gouvernementality studies doch wieder zwischen beiden Bereichen aufzuteilen. Wer Gouvernementalität vor allem methodologisch auffasst, richtet den Blick in erster Linie auf besonders ausgefeilte Techniken der individuellen Selbstbeherrschung oder gar auf Potentiale der Selbstregierung. Eher zeitdiagnostisch verstanden, widmet sich die Suche nach Gouvernementalitäten vor allem Verflechtungen verschiedener Strukturen, Institutionen und Praktiken. Foucault selbst hat den Begriff erst angesichts der historisch-spezifischen Situation des erstarkenden Neoliberalismus geprägt, setzt aber mit seiner Geschichte der Gouvernementalitäten im 19.Jahrhundert an. So, wie sich die Modi der Machtausübung angesichts von Bevölkerungswachstum und veränderten Produktionsweisen veränderten, wird heute eine neue Form von Regierung entwickelt.

Das neoliberale Projekt

Die ökonomische Krise der westlichen Industrieländer, die sich seit Mitte der 70er Jahre in abnehmenden Wachstumsraten bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben manifestiert, ist nicht nur eine grundsätzliche Krise der fordistischen Regulationsweise und Akkumulation. Sie ist laut Foucault auch eine politische und soziale Krise. Keynesianismus und Sozialstaat sind dabei in die Kritik geraten. Fehlende Souveränität des Staates wird von rechts ebenso beklagt wie seine ausgebauten repressiven und Herrschaftsfunktionen von links moniert werden. In die Krise geraten ist damit auch das allgemeine Dispositiv des Regierens. Auf der Suche nach einer neuen Gouvernementalität werden daraufhin linke und rechte Sozialstaatskritik aufgegriffen und in einem neuen Programm reformuliert: im neoliberalen Projekt. Von der liberalen Gouvernementalität unterscheidet sich die neoliberale v.a. in zwei Punkten: Zum einen wird das Verhältnis von Staat und Ökonomie neu definiert: Das klassisch liberale Verständnis wird umgekehrt, nicht mehr der Staat überwacht und definiert die Marktfreiheit, sondern der Markt wird selbst zum definierenden und regulierenden Prinzip des Staates. „Der Neoliberalismus ersetzt ein begrenzendes und äußerliches durch ein regulatorisches und innerliches Prinzip: Es ist die Form des Marktes, die als Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft dient“ (Lemke 1997: 241). Zum zweiten wird die Differenz zur Grundlage des Regierens: Die natürliche Freiheit des Individuums ist im klassischen Liberalismus die technische Bedingung einer rationalen Regierung, da es diese individuelle Rationalität ist, die den Markt funktionieren lässt. Der Neoliberalismus rekurriert zwar auch auf individuelle Freiheit, jedoch nicht auf eine als natürlich begriffene, sondern auf individuelle Freiheit als ein künstliches Arrangement konkurrenziellen und unternehmerischen Verhaltens.

Im Gegensatz zu früheren Machttechniken zielt das neoliberale Projekt nicht (so sehr) auf eine disziplinierende oder auf eine normalisierende Gesellschaft. Das Programm des Neoliberalismus zeichnet sich durch Vorstellungen und Praktiken aus, die auf eine Gesellschaft gerichtet sind, in der die Kultivierung und Optimierung von Differenzen betrieben wird. Einheit stiften auch die Institutionen und gesellschaftlichen Vorgänge nicht mehr, die wir als Staat kennen. Viel mehr wirken sie gegenwärtig an der zentralen Ermutigung des Neoliberalismus mit: der individuellen Existenz eine unternehmerische Form zu geben. Eine nicht unerhebliche Rolle auch für die Effektivität gegenwärtiger Gouvernementalität spielt dabei u.a. die marktkonforme Neukontextualisierung der alternativen 68er-Werte wie Kreativität, Selbstverwirklichung und Autonomie.

Widerstand

Umstritten ist, wie mit Foucaults Konzept Widerstand zu beschreiben ist. Der Untertitel des einleitend erwähnten Symposiums, „Gouvernementalität jenseits von Ökonomisierung und Verwertungslogik“ legt zumindest die Lesart nahe, es könne irgendwie alternative Gouvernementalitäten geben. Dabei ist ja gerade an Foucaults Verständnis von Macht immer wieder kritisiert worden, dass es kein Außerhalb zulasse, woraus gefolgert wurde, dass es auch keinen Standpunkt für Kritik oder Widerstand geben könne. Versteht Foucault Herrschaft als eine Art verhärteter Machtstrukturen und –mechanismen, ist, wo Macht ist, laut Foucault auch Widerstand. Ob er sich in Nischenprojekten eher, besser, effektiver äußert als in künstlerischen Projekten als in Stadtteilarbeit als in queeren Verschiebungen vorgefundener Bedeutungen, sei (vorerst) dahingestellt. Wenn die Zapatistas im Süden Mexikos alternative Entscheidungsstrukturen installieren („Juntas de Buen Gobierno“), ist das mit Regieren im foucaultschen Sinne jedenfalls nicht zu beschreiben. Wenn es auch kein Außen und keine Alternativgouvernementalität gibt, um den Widerstand steht es dennoch – auch mit einem an Foucault geschulten Blick – nicht unbedingt schlecht. Widerstand als das spontane und temporäre Absetzen und Sich-Entziehen, wie Ulrich Bröckling es auf dem Symposium beschrieb, sind Praktiken, die sich in den Sozialen Bewegungen der letzten Jahre wieder großer Beliebtheit erfreuen. Wieder? Ein wenig nach libertärer Tradition von Thoreau über die SituationistInnen zur 70er-Subkultur klingt das schon, auch wenn die große Weigerung nun wohl aus vielen kleinen besteht.

Ausgearbeitet ist das Konzept der Gouvernementalität vor allem in:

  • Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Berlin/ Hamburg 1997 (Argument).
  • Foucaults Vorlesungen zum Thema plus einiger Anwendungen des Gouvernementalitätskonzeptes finden sich in:
  • Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/ M. 2000 (Suhrkamp). Darin finden sich auch die Texte von Foucault selbst, aus denen hier zitiert wurde: „Die Gouvernementaltät“, S.41-67, und „Staatsphobie“, S.68-71.
  • Aufsätze, in denen das Konzept angewendet wird, finden sich in: Pieper, Marianne und Encarnación Gutíerrez Rodriguez (Hg.): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault, Frankfurt/ M. 2003 (Campus).
  • Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Heft 92, Dezember 2003, „Gouvernementalität“, Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot).


Aus: Graswurzelrevolution Nr. 290 (Juni 2004)

Originaltext: http://www.postanarchismus.net/texte/kastner_gouvernementalitaet.htm


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