Anarchie - Eine Welt ohne Gefängnisse

AnarchistInnen stellen sich eine Gesellschaft ohne Gefangene, BewacherInnen, Gerichte und PolizistInnen vor. Aber wird das dann nicht der Kampf Alle gegen Alle sein? Wie soll sich dann eine freie Gesellschaft gegen antisoziales und zerstörerisches Verhalten verteidigen? Um eine Debatte über diese und andere Fragen anzuregen, wird ein Blick auf anarchistische und radikale Sichtweisen der Themen Gesetz, abweichendes Verhalten und Strafe sowie der Rolle des Gefängnisses in der modernen Gesellschaft geworfen werden.

Eine sinnvolle Diskussion der Institutionen der Bestrafung und des Gesetzes in unserer Gesellschaft muss sich unbedingt mit der Rolle und Funktion des Gefängnissystems beschäftigen. Gefangenschaft ist das Anliegen dieser Institutionen und prägt sie. Diese Situation ist jedoch historisch bestimmt, und besteht erst seit ein paar Hundert Jahren.

In vorkapitalistischen Zeiten war Gefangenschaft höchstens ein temporärer Zustand bevor es zur eigentlichen Strafanwendung kam (sei diese die körperliche Bestrafung, Verstümmelung, Tod oder Abzug der materiellen Waren). Bestrafungsmethoden waren häufig grausam und spektakulär, oft entsprechend dem Prinzip wonach die Strafe den verursachten Schäden irgendwie entsprechen sollte.

Solche Formen der Bestrafung gelten bei allen Seiten als barbarisch und abscheulich. Dazu hat der Anthropologe Claude Levi Straus eine interessante Anmerkung gemacht. Laut ihm ist das Grauen, das solche extremen Methoden der Bestrafung in uns bewirken, nicht größer als die Grausigkeit die solche sogenannten Barbaren empfinden würden, wenn sie mit unserem Gefängnissystem konfrontiert wären. Der Grund dafür ist, dass solche Gesellschaften einen extrem hohen Sozialwert auf Gemeinschaft und Sozialbindungen setzen. Aus dieser Sicht sind Gefängnisse mit ihrer Zerstörung der Sozialbindungen und sich ergebenden psychologischen Folter eine extreme Art des Schreckens. Levi Strauss meinte selbstverständlich nicht, dass wir Freiheitsstrafen gegen die Wiedereinführung von Verstümmelung austauschen sollten. Er schlug aber vor, dass wir versuchen sollten, mit den Augen eines Barbaren das Gefängnissystem zu betrachten, um unsere Abscheu für diese zivilisierte Form der Grausigkeit wiederzuentdecken.

Es gab auch vorkapitalistische Gesellschaften, wo Sanktionen eher eine „menschlichere“ Form angenommen haben. Beispiele dafür sind die gesellschaftlich vorgeschriebene Wiedergutmachung und das befristete Ausstoßen der Täter aus der Gemeinschaft. Ohne solche Gesellschaften idealisieren zu wollen, haben Kritiker des Gefängnissystems und des strafenden Prinzips solche historischen Beispiele verwendet, um zu zeigen, dass es auch andere Möglichkeiten geben kann, mit unsozialem Verhalten umzugehen.

Das Gefängnis als Ort und Methode der Bestrafung etabliert sich um die Zeit der industriellen Revolution, und wurde in Europa erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts weitverbreitet. Man hört oft, dass dieser Prozess das Ergebnis eines höheren Niveaus der Zivilisation und der Menschlichkeit gewesen sei. Im Wirklichkeit ergab sich dieser Prozess aus der Entwicklung der Lohnarbeit, der Erscheinung des Proletariats, und dem Verlangen der neuen bürgerlichen Klasse ihre Herrschaft über die Gesellschaft zu verbreiten und zu verstärken.

Laut Michel Foucault ist die Erscheinung der Figur des modernen Straffälligen eine andere Folge der oben genannten gesellschaftlichen Änderungen gewesen. Der Straffällig ist grundsätzlich ein Proletarier, der sich in den Prozess der produktiven Arbeit nicht integriert hat. Foucault argumentiert weiter, dass das Bestehen und die öffentliche Kennung dieser Straffällige Anforderungen des kapitalistischen Systems sind. Sie verursachen Trennungen innerhalb der Arbeiterklasse (Proletariat gegen Lumpenproletariat, anständiger Arbeiter gegen Rowdy, usw.) und geben eine ideologische Rechtfertigung für den Weiterbestand des Polizeisystems.

Eine kurze Geschichte des modernen Gefängnissystems beginnt 1557 in England, als das erste "House of Correction" oder "Workhouse" gegründet wurde, mit dem Ziel, Diebe, Prostituierte, Vagabunden und verlassene Kinder durch Arbeit und Disziplin zu verbessern. Nach 1601 füllten sich die Workhouses mit noch mehrere Proletariern infolge eines Gesetzes, das die Ablehnung der Arbeit ausdrücklich zu einer Straftat machte.

Gefängnisse nahmen ihre moderne Gestalt am Ende des 18en und Anfang des 19en Jahrhundert an. In dieser Zeit formulierten Reformisten wie Jeremy Bentham den theoretischen Hintergrund des Gefängnissystems. Einschüchterung und die Kontrolle des Verbrechers wurden seine Hauptzwecke, und die Organisation und Gestalt der Gefängnisse änderten sich dementsprechend. In dieser Hinsicht hat Bentham mit seiner Erfindung des Panopticons, (das heißt “das Auge das alles sieht“) moderne Gefängnisse durchaus geprägt. Andere Reformen, die in dieser Zeit eingeführt wurden, sind zB die Trennung der Geschlechter.

Es hat eine neue Welle der Änderungen im Gefängnissystem in den letzten Jahren gegeben. Der wichtigste Trend ist eine Expansion des Systems gewesen, einschließlich einer Beschleunigung im Gefängnisbau und der Einführung von neuen Kontrollstrukturen für bestimmte Sozialgruppen (so wie Immigranten und Drogenkonsumenten). Dieser Trend hat das Einsperren einer ständig steigenden Zahl von Leuten erlaubt.

Diese Tendenz hat es überall in der westlichen Welt gegeben, obwohl es am stärksten in den USA gewesen ist, wo der Anzahl der Gefangenen seit der siebziger Jahre um das fünffache stieg. Eine Gegentendenz gab es kurzfristig in Österreich. Bis 1983 hatte Österreich die höchste proportionale Gefängnisbevölkerung Europas. Zwischen 1983 und 1989 ist der Zahl der Gefangenen gefallen dank Gesetzesreformen, die verschiedene Delikte vom Straf- zum Zivilrecht verschoben haben. Die Anzahl der Gefangenen hat sich seit daher aber ständig wieder erhöht.

Es hat mehrere Versuche gegeben, diesen Trend zu analysieren und zu verstehen. Ich werde hier nur ein Paar der wichtigsten Punkte erläutern.

Erstens ist diese Zunahme ohne eine proportionale Zunahme der Verbrechen aufgetreten. Es gab aber dafür eine massive Erhöhung an Angst, in Zusammenhang mit sogenannten „media panics“, die immer wieder neue soziale Gruppen betroffen haben: Beispiele sind Rauschgiftsüchtige, Immigranten, Hooligans, Kinderschänder, Roma, Linksextremisten, Rechtsextremisten oder viele andere.

Außerdem ist diese Tendenz durch das zunehmende Eindringen des Gesetzes innerhalb aller Aspekte des sozialen- und privaten Lebens verursacht worden. Die vor kurzem stattgefundene Verhaftung einer englischen Mutter, weil ihre zwei Töchter ständig geschwänzt hatten, zeigt wohin das führt.

Dieser Trend hat auch bedeutet, dass marginalisierte soziale Gruppen es immer schwieriger haben, im Netz des Gefängnissystems nicht gefangen zu werden. Gefängnisse werden wieder Orte für die Lagerung unerwünschter oder unproduktiver Leute, und füllen das Loch, das der verschwindende Sozialstaat gelassen hat. Die Gefängnisbevölkerung sowie die Anstalten werden demzufolge verschiedenartiger. Auf einer Seite hat man „sanfte“ immer öfter private Gefängnisse für die meisten Häftlinge. Auf der anderen Seite gibt es immer brutalere Hochsicherheitskomplexe für die, die der Staat als unverbesserliche Feinde sieht, wo Isolationsfolter Standardpraxis ist.

Eine zusammenhängende Entwicklung ist der zunehmende Gebrauch von kleinen Prämien und Privilegien für gutes Benehmen, bis hin zur bedingten Frühentlassung. Diese sind wirkungsvolle Methoden für die Vernichtung der Persönlichkeit, und vermeiden das Auftreten von Aufstands- oder Konfliktsituationen innerhalb der Gefängnisse, wie es sie in vielen Ländern in den sechziger und siebziger Jahren gegeben hat.

Die zunehmende Anzahl der Gefangenen ergibt sich auch aus längeren Strafen. In den meisten Ländern wird dieselbe Tat heute schwerer bestraft als vor 10 Jahren. Gerichte und politische Institutionen behaupten, dass sie im Namen der Opfer agieren, folglich ergeben sich immer strengere Gesetze und Urteile. Wir sollten aber erwähnen, dass diese angebliche Unterstützung des Opfers sehr begrenzt ist. Der Staat übt Rache im Namen des Opfers durch sein Gewaltmonopol aus, tut aber wenig um den Schaden der dem Opfer widerfahren ist zu  beheben.

Die Methoden und Instrumente des Gefängnissystems haben sich auch geändert. Beispiele dafür sind zunehmende Anwendungen antipsychotische Drogen auf InsassInnen und die Erfindung von neuen hochtechnischen Instrumenten der Kontrolle, so wie elektronische Armbänder für bedingt Entlassene. Nachdem neue Methoden der Kontrolle innerhalb der Gefängnisse getestet worden sind, werden sie oft für die weitere Gesellschaft angewandt. Die massive Anwendung von Überwachungskameras auf allen Strassen ist zum Beispiel ein Versuch, Benthams Traums des Panopticons zu verwirklichen, indem die Behörden eine vollständige Kontrolle über abweichendes Verhalten durch „das allsehende Auge“ erzielen wollen.

In den letzten Jahren hat es auch eine starke Zunahme von Gefangenenarbeit gegeben. Zwangsarbeit war üblich in der Zeit der industriellen Revolution, danach etabliert sich aber das Prinzip, wonach Gefangenenarbeit freiwillig sein sollte. In letzter Zeit hat es in manchen Länder einen Rückgriff auf die Zwangsarbeit gegeben. Manchmal wird das mit dem Prinzip, laut dem Gefangene für ihre Unterkunft arbeiten müssen, gerechtfertigt. Eine andere Rechtfertigung lautet, dass Gefangenenarbeit die Wiederintegration des Häftlings in die produktive Gesellschaft erleichtern sollte.

In den USA verdient ein Gefangener durchschnittlich ein Fünftel des Mindestlohns, und hat keine der üblichen Arbeitsrechte. Manche Beobachter behaupten, dass sich unter diesen Bedingungen ein Teufelkreis ergeben könnte. Kapitalistische Umstrukturierung bedeutet, dass Produktionsstellen immer öfter verlagert werden, und bewirkt einen Anstieg der Armut in westlichen Ländern. Es folgt eine Zunahme der Eigentumsdelikten und demzufolge ein Wachstum der Gefängnisbevölkerung. Wenn immer mehr Gefangene zur Arbeit gegen Niedriglöhne gezwungen werden, werden weitere Arbeitsstellen am Arbeitsmarkt abgebaut, und damit beginnt dieser Kreis wieder vom Anfang.

Für alle oben genannten Gründe ist es heute wichtiger den je geworden, eine radikale Kritik des Gefängnissystems und der Ideologie der Strafe und Rache die dahinter steckt auszuarbeiten. Diese Kritik sollte sich auch auf jene Institutionen richten, die Gesetze und Gefängnisse zu ihrem eigenen Schutz einsetzen, und gleichzeitig soziale Vorbedingungen für Kriminalität und Gefangenschaft hervorbringen. Viele AnarchistInnen haben versucht, eine solche Kritik auszuarbeiten.

Ein nützlicher erster Schritt, um auf anarchistische Haltungen zu diesem Themas anzugehen, ist, die Gründe der Feindlichkeit der AnarchIstinnen gegenüber Gesetze und Gefängnisse zu verstehen.

Was AnarchistInnenen antreibt, ist ihre Sehnsucht nach Freiheit und Emanzipation, sowie die Überzeugung, dass die Freiheit der Einzelperson nicht von der Freiheit der Anderen eingegrenzt wird, sondern von diesen erweitert wird. Wenn sie ein Gefängnis von draußen betrachten, fühlen sich AnarchistInnen in ihrer eigenen Freiheit eingeschränkt. Für sie ist das Gefängnis eine der extremsten und brutalsten Formen von Herrschaftsausübung und von Unterdruckung, als auch ein wahrscheinlicher Bestimmungsort für jene, die die Regeln der Herrschaft und des Kapitals radikal ablehnen.

AnarchistInnen meinen auch, dass Gesetze immer von einem Teil der Gesellschaft verwendet werden, um ihre eigenen Werte und Interessen allen Leuten aufzuerlegen. In unserer Gesellschaft dienen Gesetze deshalb hauptsächlich den kapitalistischen Interessen.

Ein anderer Grund warum AnarchistInnen sich mit diesem Thema häufig auseinander setzen müssen ist ein praktischer. Eine der meistgehörten Einwände gegen Anarchismus ist, dass eine herrschaftslose Gesellschaft rasch zu einem Chaoszustand und die Tyrannei der Stärksten führen würde. Diese Ansicht basiert auf dem weitverbreiteten Glauben, dass menschliche Natur in sich selbst zerstörerisch sei. Daher seien Gesetze notwendig, um ein friedliches Sozialleben zu ermöglichen.

Noch ein Grund für die Relevanz dieses Themas ist, dass Debatten und Widersprüche im diesem Bereich grundlegende Unterschiede anarchistischer Denkansätze ans Licht bringen. Diese Unterschiede haben Auswirkungen auf die Frage, wie eine freie Gesellschaft anschauen sollte, sowie wie wir dorthin kommen können.

Einen noch wesentlicheren Unterschied gibt es natürlich zwischen anarchistischen Handlungen zu diesem Thema auf der einen Seite, und die Argumente der autoritären und dogmatischen Linken auf der andere. Die meisten politischen Ideologien, die irgendeine Art Befreiung der Menschen versprochen hatten, haben nach ihrer Verwirklichung zu noch mehr Gesetze, Gefängnisse und Polizei geführt. Anarchismus darf nicht eine weitere Ideologie werden, die (genauso wie jede andere Ideologie) behauptet allgemeingültige Ideale der Freiheit und der Gerechtigkeit erkannt zu haben, und deshalb versucht diese Ideale allen Leuten aufzuerlegen. Um das zu vermeiden, versuchen wir Anarchistinnen unter anderem die Methoden zu thematisieren, die Gesellschaften verwenden, um Übereinstimmung durchzusetzen und Abweichungen von sozialen Werten zu brandmarken und zu bestrafen.

Trotz der Unterschiede zwischen verschiedenen anarchistischen Handlungen zu diesem Thema gibt es auch breite Bereiche der Übereinstimmung.

Grundsätzlich lehnen Anarchistinnen das Prinzip ab, in der sich eine Gesellschaft das Recht nimmt, Einzelpersonen zu urteilen und zu bestrafen. Dieses Recht hat sich immer auf irgendwelche Moral oder Herrschaft berufen, die höher als die Einzelperson ist. Laut AnarchistInnen hingegen gibt es keine höhere moralische Instanz als die Einzelperson.

Anarchistinnen meinen auch, dass Gesetze, Gefängnisse und der Strafvollzug wesentliche Bestandteile des Systems sind, das unsere jetzige Gesellschaftsordnung aufrechterhaltet. Sie alle wegzuräumen ist eine Vorbedingung der Individuelle- und Sozialemanzipation. Aus dieser Sicht können diese Institutionen nicht als Instrumente einer neuen freien Gesellschaft kooptiert werden. So wie der Staat, ist das Gesetz auch kein neutrales Werkzeug, das entweder für gute oder schlechte Zwecke verwendet werden kann. Genauso wie eine freie Gesellschaft kein Platz für staatliche Institutionen haben kann, hat es auch keinen Platz für einen Strafvollzug.

AnarchistInnen meinen, dass verbrecherisches Verhalten selbst ein Produkt unserer autoritären und ungleichen Gesellschaft ist. Es folgt, dass der beste Weg solches Verhalten zu bekämpfen seine Ursachen anzugreifen ist.

Es kann dieser Einblick auf verschiedenen Ebenen verstanden werden. Der fundamentalste ist, dass Verbrechen nur dort existieren können, wo es Gesetze zu übertreten gibt. Zum Beispiel hat eine Gesellschaft, die den Gebrauch bestimmter Rauschmitteln verbietet, oder über die persönliche Sexualität Gesetze gibt, neue Verbrechen aus dem Nichts geschaffen.

Weiterhin können wir beobachten, dass unsere Gesellschaft kriminelles Verhalten verursacht als direkte Konsequenz der ungerechten Verteilung ihres Reichtums. Historisch, und teilweise immer noch, ist für manche Leute das Begehen von Eigentumsdelikten keine Frage der Wahl sondern der Notwendigkeit gewesen, weil das Wirtschaftssystem ihnen kein alternatives Mittel des Überlebens zur Verfügung stellt. In hochindustrialisierten Ländern ist es häufiger der Fall, dass Eigentumsdelikte aus der Spaltung von allgemeinem Verlangen und der Möglichkeit der Verwirklichung stammen. Der Konsum gilt als Hauptideal unserer Gesellschaft. Die ungleiche Verteilung des sozialen Reichtums bedeutet aber, dass die Lebensstile, die in den Werbungen dargestellt werden, den meisten Leuten untersagt wird. Diese Diskrepanz zwischen der Ideologie und der Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt eine Reihe frustrierter Menschen. Diese Menschen werden zum Verbrechen getrieben, nicht mehr aus Hunger sondern vom Traum ein Durchschnittskonsument zu werden. AnarchistInnen weisen darauf hin, dass in einer freien und kooperativen Gesellschaft, in dem das Privateigentum der Produktionsmitteln abgeschafft wäre, diese Beweggrunde für abweichendes Verhalten verschwinden würden.

Die Institutionen unserer Gesellschaft, die behaupten das Verbrechen zu kämpfen, sind selber ein Teil des Problems. Kropotkin hat als erster die weitbekannte Bezeichnung der Gefängnisse als Universitäten des Verbrechens formuliert. Hier werden Ersttäter, die Kavaliersdelikte begangen haben, neben gewaltsamen „Karriereverbrecher“ eingesperrt. Die Entmachtung und alltägliche Demütigungen welche die Häftlinge erfahren, können sie gegenüber der ganzen Gesellschaft verbittern. Nach der Entlassung wird es schwieriger sein, sich in die Gesellschaft wiederzuintegrieren. Zerrissene Sozialverbindungen, Verlust des Eigentums und Arbeitslosigkeit, sowie das Brandmal des Exgefangenen werden das noch schwieriger machen. Es könnte ein gesamter Vortrag dem Thema der Nutzlosigkeit der Strafanstalten gewidmet werden. Es soll heute genug sein, folgendes zu sagen. Unter allen Funktionen, die Gefängnisse laut ihrer Anhänger erfüllen (nämlich Entmündigung, Bestrafung, Abschreckung, Stigmatisierung und Rehabilitation), ist die Rehabilitation die Funktion wo sie am meisten Versagen.

Schließlich argumentieren AnarchistInnen, dass sogar jene unsozialen und verabscheuungswürdigen Taten wie Mord und Vergewaltigung, die einige Leute in unserer Gesellschaft begehen, durch die jetzige Gesellschaftsordnung verursacht oder mindestens massiv angeregt werden. Eine erste Anmerkung ist, dass die meisten gewaltsamen oder mörderischen Taten nicht zufällig passieren. Sie treten innerhalb spezifischer sozialer Verhältnisse auf. Der Grossteil der Gewalt gegen Frauen oder Kinder findet innerhalb der patriarchalischen Kernfamilie statt. Viele Morde werden innerhalb dem kriminellen Milieu begangen. Folglich könnte eine Gesellschaft, in der soziale Beziehungen ganz anders sind, die wesentlichste Vorbedingungen für extrem unsoziale Taten abschaffen.

Bezüglich jenen wenigen Extremfällen, die unter eine eigene Kategorie der Grausamkeit fallen, wie die des Lustmörders oder Zwangsvergewaltigers, ist eine weitere Anmerkung zu machen. Selbst wenn man nicht annimmt, dass unsere Gesellschaftsordnung die Hauptursache solcher Arten des Verhaltens ist, wäre es schwer zu verneinen, dass sie es fördert. Eine Analyse der Taten und der Persönlichkeit berüchtigter Serienmörder, Vergewaltiger und Kindermörder zeigt, dass sie vielmehr als nur von den gesellschaftlichen Normen abzuweichen, eher eine groteske und extreme Wiederspiegelung der schlimmsten Charakterzüge der heutigen Gesellschaft sind. Diese Gesellschaft basiert auf extremer Konkurrenz anstatt gegenseitiger Solidarität, und ist durchaus mit Herrschaft, Militarismus und Sexismus erfüllt. Außerdem fühlt die Gesellschaft noch die Auswirkungen von 2000 Jahren repressivem Moralismus. Ihre Wirtschaftsordnung verursacht einen immer größeren sozialen Ausschluss, der selber Frust und Depression verbreitet. Es ist deshalb kein Zufall, dass solch eine Gesellschaft Leute erzeugt, die ihrem Frust, Sexismus, Herrschsucht und Xenophobie eine mörderische Auswirkung geben.

Aufgrund der oben genannten Gründe sind AnarchistInnen in ihrer Überzeugung einig, dass unsoziales und zerstörerisches Verhalten im Übergang zu einer freien Gesellschaft zwangsläufig und massiv abnehmen wird. Unterschiedliche Meinung gibt es wie dieser Übergang geschehen kann, ob es einen Überrest dieses Verhaltens immer noch geben wird, und wenn ja, wie eine freie Gesellschaft damit umgehen soll.

Zum ersten Punkt gibt es drei grobe Denkansätze:

Einerseits hat es Autoren wie Bakunin und Malatesta gegeben, die den revolutionären Prozess als erfolgreiches Ergebnis einer oder mehrerer Aufstände gesehen haben. Dieser Meinung nach wird der Prozess der Revolution erfordern, dass jede Einzelperson eine Reihe von Erfahrungen wahrnehmen wird, und an der Entwicklung neuer Arten der Geselligkeit teilnehmen wird. Dieser Prozess wird darum die Belehrung unserer Gesellschaft auslöschen, und die Erscheinung postrevolutionärer Werte erlauben. Im Gegensatz zu heutigen Werten werden diese kein unsoziales Verhalten fördern, sondern Kooperation und Gemeinschaft.

Andere AnarchistInnen wie Gustav Landauer haben gemeint, dass die oben genannte Wende der Werte und des Verhaltens durch einen Prozess der sozialen Erziehung und der Propaganda innerhalb der jetzigen Gesellschaft stattfinden soll. Anhänger dieser Ansicht behaupten, dass solch ein langer und allmählicher Prozess notwendig sei, bevor Leute für eine Gesellschaft ohne Herrschaften, Gesetze und Polizei bereit sein könnten, um Chaos und revolutionäre Gewalt zu vermeiden. Dieser Meinung nach werden schließlich der Staat sowie der Strafvollzug verschwinden, sobald sie überflüssig geworden sind.

Der dritte Denkansatz setzt einen anderen Schwerpunkt. Kropotkin hat gemeint, dass Solidarität und Gemeinschaft angeborene menschliche Instinkte sind. Daher lautet die Frage aus dieser Sicht nicht solidarische Werte zu erzeugen, sondern die optimalen Bedingungen zu finden, in dem sich dieser Instinkt endlich entfalten kann. Das wird von sich selbst aus passieren, nachdem wir diese Instinkte von allen Hindernissen befreit haben, die sie bis jetzt zurückgedrängt haben.

In Bezug zur nächsten Frage, nämlich wie eine freie Gesellschaft mit abweichendem Verhalten umgehen soll, haben Proudhon und seine Anhänger eine einzigartige Stellungnahme angenommen. Sie meinen, dass eine Gesellschaft aus freien Einzelpersonen einen wesentlichen Anteil an Konflikt zwangsläufig hervorbringen wird, der teilweise zu unsozialem Verhalten führen könnte. Aber das Ziel sollte nicht sein, diese Konflikte zu ersticken oder sich einzubilden, dass sie einfach verschwinden werden. Vielmehr sei es eine Frage der Entwicklung von Instrumenten, mit denen die Gesellschaft solche Konflikte regulieren kann, gemäss der Prinzipien des Föderalismus und des Kontraktualismus.

Die meisten AnarchistInnenen haben einen anderen Schwerpunkt. Es wird betont, dass eine freie Gesellschaft jene Gesellschaft ist, wo allgemeine Entscheidungen, Sozialnormen und Produktionsweisen nicht von einer Mehrheit auferlegt werden (egal ob durch Parlamentarismus oder direkte Demokratie), sondern von jeder Einzelperson freiwillig angenommen oder abgelehnt wird. Eine kritische Minderheit wird es immer geben, und sie muss die Freiheit haben, die Sozialnormen nicht für sich anzunehmen, und ihren eigenen Weg zum Glück zu versuchen. Der einzige Fall, wo abweichendes Verhalten ein Problem wird, ist wenn es zu unsozialem und gewaltsamem Verhalten führt. Sogar dann wendet die Gesellschaft nicht das Bestrafungsprinzip an, sondern beschäftigt sich mit diesem Verhalten durch Maßnahmen die immer konsequent zwei Ziele verfolgen - den angerichteten Schaden zu reparieren als auch weitere Schäden zu vermeiden.

Jede freie Gemeinschaft wird diese Maßnahmen in der Praxis vom Fall zum Fall bestimmen. Vorschläge für diese Maßnahmen sind aber schon gemacht worden, und ich werde hier ein Paar erwähnen. Die Gemeinschaft könnte Täter zum Wiedergutmachen überzeugen, und könnte selber die Opfer praktisch unterstützen. Sie könnte Vorgänge zur Verfugung stellen, um Konflikte gewaltlos durch Vermittlung aufzulösen, und könnte mithelfen, die materielle Ursache des Konflikts zu beseitigen. Außerdem könnte die Gemeinschaft ihre schwächeren Mitglieder Schutz von Drohungen bieten.

Was übrig bleiben wird, sind jene wenige Rückfällige, die aus welchen Gründen auch immer, ihr Verhalten nicht verbessern wollen oder können, und sich weiter in einer Art und Weise verhalten, die andere Mitglieder der Gemeinschaft bedroht. Viele Anarchistinnen haben nach Kropotkin gemeint, dass solche Fälle pathologisch sind, das heißt, dass die Person, die sich dauernd unsozial und gewaltsam benimmt, so tut als Folge einer Geisteskrankheit, und muss deshalb in erster Linie geholfen und geheilt werden. Die Details einer solchen Heilung sind von den meisten Anarchistinnen unklar gelassen worden, gemäss dem Prinzip, dass eine freie Gesellschaft in der besten Lage ist, jene Methoden zu bestimmen, die sowohl wirksam als auch mit anarchistischen Prinzipien übereinstimmend sind. Erwähnenswert sind aber Kropotkins Worte, nämlich dass der pathologische Charakter dieser Verhaltensweisen noch ein weiterer Grund ist, jene Bestrafungs- oder Segregationsprinzipien abzulehnen.

Solche Zusicherungen waren für andere nicht genug. Sie haben darauf hingewiesen, das die Gleichsetzung von abweichendem und geisteskrankem Verhalten eine Gefahr sein könnte. Ein Blick auf die Sowjetunion, die die Psychiatrie als Mittel der sozialen und politischen Kontrolle massiv verwendete, bestätigt diese Gefahr.

Der Italienische Anarchist Enzo Martucci akzeptiert in einem Streitgespräch mit Malatesta, dass es nötig für eine Gemeinschaft ist, sich gegen konkrete Drohungen zu verteidigen. Für extreme Fälle kann das unter Anderem der Ausschluss der hartnäckigen Täter aus der Gemeinschaft bedeuten. Was aber absolut zu vermeiden sei, ist die Gründung einer Art „Haftklinik“, wo der Täter gegen seinen Willen eingesperrt wird. Diese Kliniken wären schlimmer und unmenschlicher als heutige Gefängnisse. Heute hat der Häftling eine gewisse Strafe zu bußen, und danach wird er entlassen. Hingegen wäre die Einsperrung in solchen Haftkliniken unbegrenzt. Der Patient würde nur dann entlassen werden, wenn er als geheilt betrachtet ist. Die Etablierung von permanenten Strukturen, um unsoziale Menschen zu behandeln, würde laut Martucci auch eine Gefahr für die freie Gesellschaft darstellen. Genau wie in unserer Gesellschaft würde das Vorhandensein solcher Haftkliniken nicht nur die Freiheit der eingesperrten Leute begrenzen, sondern die ganze Gesellschaft mit dieser Unfreiheit erfüllen.

Malatestas Antwort wiederum war, zu behaupten, dass die oben genannte Meinung blindes Vertrauen zeigt, mit der Fähigkeit von Einzelnen sich spontan gegen unsoziale Handlungen zu verteidigen, ohne dass eine Art Lynchjustiz entsteht.

Diese unterschiedliche Meinungen sind wahrscheinlich Folge der Tatsache, dass es keine perfekte und allgemeingültige Lösung für eine Welt ohne Gefängnisse gibt. Es gibt sehr gute Gründe zu behaupten, dass das Problem des unsozialen Verhaltens massiv reduziert sein wird, wenn wir erst einmal alle die Anlässe abgeschafft haben, die solchem Verhalten zu eitern und zu wachsen bringen. Eine herrschaftslose Gesellschaft wird aber kein Himmel auf der Erde sein. Es wird Konflikte weiter geben, so wie ein Maß unsoziales Verhalten.

Gemeinschaften werden Wege finden, um mit solchen Problemen umzugehen, in Weise welche die Wirkung solchen Problemen klein halten werden, und ohne dass der Gemeinschaft noch mehr Schaden verursacht wird. Es gibt eine Menge möglicher Weise, und jede herrschaftslose Gemeinschaft wird eine oder die andere bevorzugen. Es wird keine davon perfekt sein. Was wir aber ohne Zweifel sagen können, ist das der größte Teil davon wesentlich wünschenswerter wird als der Zwangsjacke die uns herum gebaut wird, die unserer Freiheit schonungslos wegfrisst, aber weder unsoziales verhalten bekämpfen kann, noch seine sozialen Auswirkungen mindern kann.

(Dieser Vortrag wurde am 16. Mai 2004 als Teil der Veranstaltungsreihe "Was ist Anarchie?" in Wien gehalten)

Originaltext: www.schwarzwurzeln.org


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