Erich Mühsam - Das große Morden (1914)

Immer wieder überraschen einen die Mitmenschen - selbst solche, die die Bezirke geistiger Lebendigkeit bewohnen - mit ernsthaft gemeinten Gegengründen gegen die Forderungen der selbstverständlichsten Menschlichkeit. Immer wieder sagt man den Spruch auf, daß es doch wohl natürlich wäre, wenn die Menschen einander hülfen und versuchten, im Frieden nach innen und außen Gerechtigkeit zwischen Arbeit und Verbrauch zu schaffen, und immer wieder begegnet einem das überlegene mitleidsvolle Lächeln der Weltklugheit, die Krieg und Spionage, Ausbeutung und Unterdrückung als gottgewollte schöne und gute Notwendigkeit zu verteidigen weiß. Man schämt sich allmählich vor sich selbst, immer und immer wieder den moralischen Gemeinplatz aussprechen zu müssen, daß Krieg schlecht und häßlich, Friede gut, natürlich und notwendig ist. Aber wir wollen noch tausendmal die Gründe der anderen widerlegen, um vor der Nachwelt nicht in der lächerlichen Haltung solcher dazustehen, die vor der Dummheit und Herzenskälte resignieren und kapitulieren.

In diesem Zeitalter raffiniertester technischer Zivilisation gibt es für den Erfindungsgeist immer noch keine höheren Aufgaben als die Vervollkommnung der kriegerischen Mordinstrumente. Wessen Gewehre und Kanonen am weitesten schießen, am schnellsten laden, am sichersten treffen, der hat den Kranz. Das Scheußliche und das Groteske gehen Hand in Hand durchs zwanzigste Jahrhundert und rufen die Völker auf zur Bewunderung der Welt Vollkommenheit.

So sieht unsere Kultur haute aus: Hunderttausende junger arbeits- und zeugungsfähiger Männer werden aus ihrer Beschäftigung gerissen, in komisch-bunte Gleichtracht gekleidet, mit blanken Knöpfen, goldblechbeschlagenen metallenen Kopfbedeckungen und nummerierten Achselbeschlägen. An der Seite hängt ihnen ein langes Messer, scharf geschliffen, zum Stechen so geeignet wie zum Hauen. Über die Schulter tragen sie ein Schießgewehr, aus dessen Lauf sie oftmals hintereinander Geschosse jagen können, geeignet, auf große Entfernung Menschen zu durchbohren, mit einer Durchschlagskraft, daß gleich zwei hintereinander davon getötet werden können. Der Griff der Waffen aber ist schwer und wuchtig. Er dient zum Zertrümmern von Menschenschädeln. Vor den Nabel ist diesen Leuten ein Täschchen gebunden, das noch viele Geschosse enthält, für den Fall, daß die im Gewehrlauf ihre Pflicht nicht erfüllt haben. Ihre Tätigkeit besteht im jahrelangen Einüben in die Benützung der bezeichneten Gegenstände für den Bedarfsfall. In den Höfen der Häuser, in denen sie zu Hunderten zusammen wohnen müssen, stehen aus Holz gefertigte, menschenähnliche. Soldatenpuppen. Die Phantasie der Kriegseleven wird dazu geschult, in diesen Puppen lebendige Ebenbilder Gottes zu erblicken, und dann müssen sie darauf schießen. Außerdem aber werden sie erzogen, anderen Leuten, zu denen sie im gewöhnlichen Leben gar keine Beziehungen haben, blinden Gehorsam zu leisten. Um sie daran zu gewöhnen, werden ihnen Aufgaben gestellt, denen ein erkennbarer praktischer Sinn überhaupt nicht innewohnt. Zum Beispiel müssen sie oft, wenn sie in Gruppen angeordnet zum Gehen aufgefordert werden, alle gleichzeitig das Knie bis vor den Bauch hochheben, alsdann die Zehenspitze weit vorwärts schleudern und den Fuß mit lautem Klappen auf den Boden schlagen und so immer abwechselnd mit dem linken und dem rechten Bein verfahren. Den Vorgesetzten müssen sie besondere Ehren erweisen, wozu ihnen je nach der Situation das Gewehr, die Kopfbekleidung oder die Hosennaht behilflich ist. Aber ihr Gruß gilt nicht der Person des Vorgesetzten, sondern dessen Kleidern, die mit noch mehr Goldblech verziert sind als ihre eigenen.

Die Bezahlung dieser Dinge muß das Volk mit einem riesigen Prozentsatz seines Arbeitsertrages leisten, und so groß sind bereits die Anforderungen an die Steuerkraft der Menschen, daß seit Jahren kein Aufhören der Wirtschaftskrisen mehr ist, und die Folgen dieser Krisen sind Arbeitslosigkeit und Geburtenrückgang, aus denen wiederum verminderte Leistungsfähigkeit des Volkes und mithin - da die Forderungen des Militarismus sich nicht reduzieren, sondern ständig steigen - Erzeugung und Permanenz weiterer, immer ärgerer Krisen resultiert.

Der Wert dieser Opfer an Eigenwillen und Volkskraft wird sich jedoch erweisen, wenn eines Tages die Kriegsfahne entrollt wird. Dann wird der Begeisterung in allem Volk kein Ende sein. Dann wird sich dieses Bild entfalten: Zu denen, die gerade in den Kasernen zum Kriege gedrillt werden, treten noch die leistungsfähigen früheren Soldaten hinzu und die jungen Leute, die eigentlich noch auf ihre Schulung warten sollten. Junge Gatten und Väter werden aus dem Haus ihrer Hoffnungen geholt. Die Söhne müssen hinaus ins Feld der Ehre. Studenten, Lernende aller Berufe müssen ihre Entwicklung abbrechen, um am Kriege teilzunehmen, dessen Gründe sie nicht kennen und auch nicht erfahren, die auch mit ihren Interessen nichts zu tun haben. Nicht freiwillig gehen sie hinaus in Gefahr und Tod, sondern gezwungen und ohne Wahl. Weigerung wäre Tod.

Und nun kommt Bewegung in das Heer, dessen Gesamtstärke etliche Millionen Menschen beträgt. Die einzelnen Abteilungen suchen die Grenze des Landes zu erreichen, mit dessen Armee die Kämpfe zu führen sind. Im eigenen Lande schon herrscht Trauer und Verzweiflung. Die Mütter, die Frauen und Mädchen jammern den Männern und Söhnen nach. Die Saaten werden von Pferden und Menschen zerstampft, aller Handel, alle Produktion stockt, die Nahrungsmittel werden schlecht und unerschwinglich teuer, Krankheiten breiten sich aus, das Elend meldet sich überall.

Soll ich schildern, was weiter geschieht? Brauchte ich nicht Stunden und Stunden, um all das Gräßliche aufzuzählen, das das Wesen des Krieges ausmacht? Denkt an die Schilderungen derer, die solche Heldenzüge mitgemacht haben. Denkt daran, daß Städte umzingelt und ausgehungert werden, wobei Hunderte und Hunderte Hungers sterben, denkt an den Sturm auf die Städte, wie sie in Brand geschossen werden und Kinder, Frauen, Greise, Kranke und Krüppel ihr Leben lassen müssen - fürs Vaterland! Denkt an die Eroberungen der Städte, wie die Soldaten, wochenlang keiner Schürze nah, sich mit geilen Nerven auf die fremden Frauen stürzen. Denkt an die innere Verwilderung des einzelnen, der in ununterbrochener Angst um das eigene Leben täglich Sterbende und Leichen sieht, dem schon dadurch die Raubtierinstinkte wach werden und dem noch dazu stündlich gelehrt wird, daß das Umbringen von Menschen Tapferkeit sei. Und denkt an die Schlachten in den modernen Kriegen selbst! Wo ist da noch etwas von persönlichem Heldenmut? Wie maschinell und untapfer wird heutzutage gekämpft! Aus verdeckten Gräben schießt man aus Kanonenläufen Maschinengewehren auf die Stelle, wo man Feind vermutet, läßt Sprengstoff explodieren und wird selbst von Granatsplittern zerrissen, ohne zu sehen, woher der Mord geschieht. Der Kampf von Unsichtbaren gegen Unsichtbare - ist das nicht der furchtbarste Hohn auf alle Menschenwürde?

Aber unter den Lesern selbst dieser Zeilen sind genug, denen ich mit meinem leidenschaftlichen Haß gegen den Krieg kindlich und dumm vorkomme, solche, die gegen Einrichtungen und Gebräuche keinen Haß kennen, weil sie abgeklärt sind und das Leben zu beurteilen wissen. Sie sagen einfach, daß der Militärdrill eine gesunde Körperausbildung ist, und für die Einsicht, daß Körperübungen, die erzwungen und unter Abtötung der eigenen Willensbestimmung vorgenommen werden, niemals gesund sein können, haben sie kein Gefühl. Sie sagen, daß die Natur Seuchen über die Menschheit schicke, die mehr Opfer fordern als die blutigsten Kriege und daß Kriege ebenso weise Maßnahmen der Natur seien wie Krankheiten, bestimmt, die von Blut und Kraft übermäßig strotzenden Völker wohltätig zur Ader zu lassen. Wie kommen denn diese Logiker dazu, jeden Fortschritt der Wissenschaft zu bejubeln, der die Bezwingung einer Epidemie bewirkt? Wer den Krieg mit solchen Argumenten verteidigt, hat kein Recht, die Zurückdrängung von Pest- und Choleraseuchen, die Erfindung von Serum, Salvarsan, Mesothorium als Siege der Menschheit zu feiern. Was den Menschen recht ist, sollte doch wohl dem lieben Gott billig sein. Entweder wollen wir die schicksalsgewollten Auskehrungen unter den Menschen willig tragen, dann ist der Kampf gegen die Bakterien eine Heuchelei, oder wir wollen uns gegen verheerendes Unglück schützen, dann müssen wir den Krieg verhüten wie jede andere Pest.

Aber die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Völker bedingen Kriege. Wenn ein Land seine Leute nicht mehr füttern kann, muß es dem Nachbarn Äcker wegnehmen. Schwindel. Seit der Kapitalismus die Welt beherrscht, ist noch fast jeder Krieg vom Reichen gegen den Armen geführt worden. Der Große saugt dem Kleinen das Blut aus. Es ist mit den Staaten genauso wie mit den Einzelnen. Die Machtanhäufung wird von keinem Bedürfnis bestimmt, sondern ist Selbstzweck, wie die Ansammlung von Kapitalien, deren Ertrag niemandem zunutze kommt, für die modernen Geldmagnaten Selbstzweck ist. Die Machtanhäufung der Staaten aber, um derentwillen Kriege geführt werden, ist in Wahrheit Kapitalsanhäufung bei einzelnen Kapitalisten. Die anderen haben Leben, Habe, Arbeit, Hoffnung und Glück zum Opfer zu bringen wie die Kleinstaaten Selbständigkeit, Nationalbesitz und Volksart. Das Kreuz Christi aber, der Name Gottes, die Postulate der Gerechtigkeit und Sittlichkeit liefern allemal das Glockengeläute, unter dem die Kanonen zum Kriege geladen werden.

Ein Musterbeispiel für die Art, wie gewissenlose Habgier Kriege inszeniert, liefern gegenwärtig die Vereinigten Staaten von Nordamerika, repräsentiert in dem würdigen, pazifistisch geschminkten Präsidenten Wilson, Professor und sozial aufgeklärten Schriftsteller.

Das Land Mexiko steckt seit Jahren in hellem innerem Aufruhr. Die infamen Landgesetze des Porfirio Diaz trieben die Leidenschaften hoch, und in höchst wechselvollen Kämpfen, die die Rebellen mehrmals dem Siege nahebrachten, mußten sie es immer wieder erleben, daß sie ihre Waffen gegen den Verrat der eigenen Führer wenden mußten, die die Revolution zum Vorwand ihrer persönlichen ehrgeizigen Ziele machten. Was für eine Sorte Führer die Rebellengeneräle Villa und Carranza sind, läßt sich von Europa aus schwer erkennen. Die Tatsache aber, daß sie sich das wohlwollende Augenzwinkern der Vereinigten Staaten in ihrem Kampf gegen den demokratischen Despoten Huerta gefallen ließen, läßt sie wenig vertrauenswürdig erscheinen. Jetzt zeigt sich ja, was die biederen Volksbeglücker Wilson und Bryan mit ihrer Rebellenfreundlichkeit bezweckt haben: die völlige Verwirrung im Lande, um leichter zum Gewaltstreich ausholen zu können.

Der Vorwand zum mexikanischen Kriege ist ebenso schimpflich wie lächerlich. Tagelang war die brennendste Frage in aller Welt, ob Huertas Schiffe die Yankeeflotte mit einundzwanzig Schüssen begrüßen werden, ob Wilsons Kanonen ihnen antworten würden und ob Huertas Forderung, die Salutschießerei solle abwechselnd erfolgen, angenommen oder stattdessen ein Krieg ausbrechen werde. Natürlich geschah, was mit der ganzen demütigenden Albernheit bezweckt war: Die Amerikaner besetzten Veracruz, brachen also - ohne Kriegserklärung, um sich die Pose als Zuchtmeister geben zu können - den Krieg vom Zaun. Selten ward solche Aktion mit so ekelhafter Heuchelei begonnen wie diese "Strafexpedition". Die nordamerikanischen Friedensapostel vergossen Tränen der Verzweiflung, daß in ihrem Namen Blut fließen mußte, und Herr Wilson erließ eine Kundgebung an das mexikanische Volk, wonach er es nur auf den Präsidenten, beileibe nicht auf die Mexikaner abgesehen habe. Währenddem machte er sich auch schon zum Herrn ihrer Städte. Daß ihm der Raubzug nun doch etwas schwerer gemacht wird, als er es sich vorgestellt hatte, und daß er deshalb geneigt scheint, die Intervention der südamerikanischen Republiken anzunehmen, ändert nichts an der Tatsache, daß dieser Mann, der europäische liberale Blätter mit menschheitsbeglückenden Manifesten füllt, als Werkzeug ausbeuterischer Milliardäre in fremdes Land eingedrungen ist, um im Trüben zu fischen. Nach seiner Auslegung: um Ordnung zu schaffen - Ordnung zu schaffen in dem Moment, wo im eigenen Lande im Staat Colorado die ihm unterstellte Soldateska blutige Schlachten gegen streikende Arbeiter führte und Frauen und Kinder unter scheußlichen Martern umkommen ließ.

Na also, höre ich meine militärentzückten Freunde triumphierend ausrufen. Hier zeigt sich wieder, wie gottgewollt und unanfechtbar die Pflege einer starken, stets kampfbereiten Armee ist. Selbst in Zeiten des Friedens muß sie bereit sein - gegen den inneren Feind!

Aus: KAIN. Zeitschrift für Menschlichkeit, 4. Jahrg., München Mai 1914

Gescannt aus:
Erich Mühsam: Staatsverneinung, Freiheit als gesellschaftliches Prinzip u.a. Beiträge. Reihe Konstruktiv Nr. 10, AHDE – Verlag 1981. Gescannt von anarchismus.at


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email