Militarismus und Patriarchat in der Türkei

Als die NATO im Jahre 1949 gegründet wurde, nahm der türkische Staat noch keine Funktion in ihr ein. Erst am 18. Februar 1952 wurde sie offizieller Mitgliedstaat. Die Betonung liegt auf offiziell, denn bereits 1951 wurde eine der wichtigsten US-Basen in der türkischen Stadt „Incirlik“ errichtet. Aufgrund dieser „besonderen“ Beziehung zwischen der Türkei und den USA kam es im Koreakrieg dazu, dass die Türkei umgehend nach den USA Soldaten nach Korea entsandte. Auch hier war die Türkei noch nicht NATO-Mitglied, denn der Koreakrieg begann ja bereits 1950.

Die Schulden, welche die Türkei während des Zweiten Weltkriegs bei den Vereinigten Staaten gemacht hatte, wurden gleich nach dem Krieg gestrichen. Es wurden Gesetze für diverse Hilfeleistungen erlassen. Der Marshall-Plan (das wirtschaftliche Wiederaufbauprogramm der USA) gelangte auch in der Türkei zur Anwendung. Eine Zeit von Gutschriften und Krediten mit niedrigen Zinssätzen begann in der Türkei.

Die Jahre 1960-1980 in der Türkei waren geprägt von einer neuen, kritischen Haltung gegenüber dem US-Imperialismus, der NATO-Mitgliedschaft und der NATO überhaupt, ihren Militärstützpunkten und -einrichtungen, Stationierung von Soldaten im Land und gegenüber Militarismus. Ursache war die breite, revolutionäre (also marxistische) Bewegung in der Türkei in diesen Jahren.

Sogenannte amerikanische „Friedens-Freiwillige“ waren seit 1962 in der Türkei im Einsatz gewesen und mussten sich schliesslich 1969 zurückziehen, weil sich herausstellte, dass es sich bei ihnen um CIA-Agenten handelte. Der US-Botschafter in Ankara stellte sich ebenfalls als CIA-Agent heraus. Bei einem Universitätsbesuch wurde sein Auto von revolutionären Studenten angezündet, so dass er nach nur einem Jahr in der Türkei wieder zurückkehren musste.

Während des Zypernkriegs, als die Türkei mit Streitkräften ausrückte und die Hälfte der Insel vereinnahmte, brach die Türkisch-Amerikanische Freundschaft endgültig ein. Die USA verhängten ein Embargo, worauf die Türkei das „Abkommen über gemeinsame Verteidigungskooperation“, das seit den 60er Jahren in Kraft war, einseitig beendete. Alle US-Basen sowie –einrichtungen wurden geschlossen.

Nach einem Regierungswechsel näherten sich die beiden Staaten einander wieder an, wenn auch nicht so offen wie früher. Durch die Dichte des Widerstandes wandelte sich der offene Imperialismus in einen versteckten. Anstelle von US-Soldaten wurden innerhalb des türkischen Militärs geheime NATO-Spezialeinheiten ausgebildet, die im Verborgenen Konter-Guerilla-Aktionen durchführten oder in andere Länder geschickt wurden, z.B. nach Irak, Syrien oder in kurdische Gebiete.

Nachdem im März 1980 die US-freundliche türkische Regierung ein Abkommen über „Zusammenarbeit in Verteidigung und Wirtschaft“ unterzeichnete, kam es am 12. September 1980 zum Militärputsch, dessen katastrophale Folgen sich bis in die heutige Zeit erstrecken. Der Putsch richtete sich gegen die gesamte revolutionäre Bewegung, die in der damaligen Türkei aktiv war.

Um den Hintergrund dieses Putsches zu veranschaulichen, kurz ein Rückblick auf die Geschichte des türkischen Militärs:

Nachdem das Osmanische Reich während des 1. Weltkriegs zusammenbrach, wurde 1923 die heutige Türkische Republik durch Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Dies brachte grundlegende Veränderungen mit sich; so ist die Türkei beispielsweise der einzige islamische Staat, in welchem der Laizismus (also die Trennung von Staat und Religion) gesetzlich verankert ist.

Seit der Gründung der Republik stellt das Militär in der Türkei nicht nur einen „Staat im Staat“, sondern einen „Staat über dem Staat“ dar. Es ist das höchste Organ des türkischen Staates und absolut unantastbar. Das Militär zu kritisieren, schlecht über es zu reden oder es gar zu verweigern, ist eine schwere Straftat. Das von Atatürk geprägte Militär hat eine Aufseherfunktion. Seine Pflicht ist es, die kemalistische Republik zu schützen und gegen Angriffe jeder Art zu verteidigen.  In Krisenzeiten des Staates hat sich die Armee immer wieder gegen die Bevölkerung gestellt und es mit Gewalt zum Stillschweigen gebracht.

Die Türkische Wehrmacht verfügt innerhalb der NATO über die höchste Anzahl an Soldaten, direkt nach den USA. Gemessen an der Bevölkerungszahl und am nationalen Einkommen ist die Türkei dasjenige Land, das am meisten Gelder in die Aufrüstung und ins Militär investiert.

1980 putschte sich nun also das Militär nach einem gemeinsamen Einverständnis mit den USA an die Macht, weil die revolutionäre Bewegung ausser Kontrolle geraten war. 650‘000 Personen wurden festgenommen, 1.7 Millionen fichiert. Für 7000 Personen wurde die Todesstrafe beantragt, 50 Personen wurden erhängt. 570 Personen wurden zum Tod verurteilt.  299 Personen starben in den Gefängnissen durch Folter, 585 durch andere Art und Weise, 144 starben durch ungeklärte Weise,  30‘000 Personen beantragten im Ausland Asyl als politische Flüchtlinge. 23‘700 Büros von Revolutionären Organisationen wurden geschlossen, für 400 Journalisten wurde insgesamt eine Gefängnisstrafe von 4000 Jahren beantragt, für eine Zeit von 300 Tagen nach dem Putsch wurden sämtliche Zeitungen stillgelegt und publizierten nicht mehr.

Die 60-jährige Geschichte der NATO hat uns gezeigt, was NATO bedeutet: nämlich Krieg, Imperialismus und Förderung von Waffen- und Energiekonzernen, Militärputsche, ethnische Provokationen, die Ausbeutung von vorhandenen Rohstoffen, nukleare Bedrohung, Mord an der zivilen Bevölkerung, also eine Organisation, die sowohl das gemeinschaftliche Leben, als auch die Umwelt bedroht.

Wir kommen nun zur heutigen Situation und zur konkreten Militärverweigerung:

Der autoritäre Charakter des türkischen Wehrdienstes, die repressiven Umstände, die Massenmorde, Gefangenschaften und Folter, die er mit sich bringt, führen dazu, dass immer mehr junge Menschen sich dem Dienst verweigern. Auch wenn die Regierung behauptet, die militärische Situation habe sich geändert und der Dienst laufe sehr ruhig und friedlich ab, ist offen zu erkennen, dass die Philosophie der Repression, des Mords und des Getötet-Werdens nach wie vor in ihm sowie in allen weiteren Armeen der Erde weiterlebt. Viele Männer sind nach dem Dienst psychisch so am Ende, dass sie eine Rehabilitation benötigen würden, was aber von der Regierung natürlich niemals akzeptiert werden würde.

Hierzu eine Anekdote aus der Türkei, wo wir einen 21-jährigen Arbeiter kennenlernten, der seinen Dienst in Kurdistan absolviert hatte.  Er erzählte uns davon, wie die Soldaten kurdische Freiheitskämpferinnen und –kämpfer gefoltert hätten. Selbst diejenigen Soldaten, die nicht wollten, wurden dazu gezwungen, wenn sie nicht auch als Landesverräter gelten wollten. Besonders schlimm treffe es kurdische Mädchen und Frauen, die politisch aktiv waren: sie wurden von allen Soldaten gemeinsam unter den übelsten Beschimpfungen zu Tode vergewaltigt. Er erzählte uns, ihn und seine Freunde habe es zunächst Überwindung gekostet, zu foltern und zu vergewaltigen, aber nach einer Weile wurde es zur Selbverständlichkeit und sein Nationalstolz gewann Überhand über sein ethisches Empfinden. Er hatte sich so sehr an das in Kurdistan Erlebte gewöhnt, dass er sich danach sehnte, wieder zurückzukehren. Es hatte ihn so sehr geprägt, dass er sich kein anderes Leben mehr vorstellen konnte und Nacht für Nacht von seinem Dienst träumte. Er sagte, er habe eine Aufnahme in der Berufsarmee beantragt und wünschte sich, wieder ins kurdische Gebiet geschickt zu werden.

Dies ist nur ein einziges erschreckendes Beispiel. Es handelt sich um keinen Einzelfall, es gibt Tausende, wenn nicht gar Millionen von Männern, die so denken und fühlen. Wir wollen sie nicht als Opfer darstellen, aber man darf nicht die Gehirnwäsche ausser acht lassen, welcher junge Menschen im Militär unterzogen werden. Der Dienst beträgt zurzeit 15 Monate am Stück, d.h. ohne die Möglichkeit, übers Wochenende nach Hause oder in den Ausgang zu gehen. In den ersten drei Monaten ist jeglicher Besuch strikt verboten und man kassiert tagtäglich Prügel. Man könnte sich den Dienst in den ersten Monaten vorstellen wie eine Gefängnishaft. Junge, noch formbare Menschen werden geprägt, indem ihnen Tag für Tag, Stunde für Stunde, Sekunde für Sekunde vorgelebt wird zu herrschen und zu dienen, Befehle zu erteilen und zu gehorchen, Gewalt auszuüben und selber zu erleiden, zu foltern, zu vergewaltigen und zu töten und mittels der Misshandlung von kurdischen Frauen sowohl ihre Rolle als Soldat, als auch ihre Rolle als Mann zu befriedigen.

Ein Zitat aus dem militärischen Strafgesetzbuch der Türkei: „Mitglieder des Militärs, welche mit politischer Absicht Reden halten, zur Veröffentlichung politisch motivierter Schriften beitragen, sie verfassen oder durch andere Personen verfasste unterzeichnen oder sie der Presse und Öffentlichkeit zuspielen, werden mit Gefängnishaft zwischen einem Monat und 5 Jahren bestraft.“

Die Türkei bereitet sich darauf vor, ein EU-Staat zu werden. Während aber in Europa das Recht auf eine Dienstverweigerung besteht, gibt es in der Türkei weder die Möglichkeit, Zivildienst zu leisten, noch eine Ersatzzahlung zu leisten. Über Art und Weise des Militärdienstes entscheidet nicht die türkische Verfassung, sondern die Türkische Wehrmacht. Die Militärpflicht ist theoretisch nicht einmal eine gesetzlich verankerte Pflicht. In der Landesverfassung steht folgendes: „Jeder Türke hat das Recht, Militärdienst zu leisten“. Praktisch handelt es sich aber um ein bedingungsloses und unantastbares „Muss“, das den Männern vom Militär selber auferlegt wird. Das interne Diensgesetz der Türkischen Armee schreibt folgendes vor: „Es ist die Aufgabe der Streitkräfte des türkischen Vaterlandes, die türkische Republik zu bewachen und zu schützen“.

Seit einiger Zeit wird das Tagesgeschehen in der Türkei von einer Diskussion bestimmt, die der Vorsitzende der parlamentarischen Verfassungskommission ausgelöst hat. Er meinte: „Wir haben eine sehr zahlreiche junge Bevölkerung. Wenn so viele den Dienst nicht aktiv leisten möchten, sollten wir die Möglichkeit einer Ersatzzahlung einführen. Denkt nur daran, welch einen hohen Geldbetrag dies dem Staat einbringen würde“. Innerhalb der Bevölkerung, den Medien und Politikern nimmt allmählich der Wunsch nach einer solchen Möglichkeit zu. Als Alternative wird auch diskutiert, die Dienstzeit zu verkürzen. Der ursprünglich genau zwei Jahre am Stück dauernde Dienst wurde in den vergangenen Jahren auf 15 Monate verkürzt.

Wenn wir von Militärverweigerung sprechen, muss man unterscheiden zwischen Dienstverweigerern und Totalverweigerern. Es gibt unzählige Menschen in der Türkei, die den aktiven Dienst verweigern, aber bereit wären, Zivildienst oder eine Ersatzzahlung zu leisten. Weil dies nicht möglich ist, schieben sie den Dienst auf, schreiben sich jahrzehntelang an Unis ein oder flüchten ins Ausland. Diese Strategien sind enorm weit verbreitet und wie viele Menschen den Dienst tatsächlich so umgehen, lässt sich nur abschätzen. Wahrscheinlich handelt es sich um Millionen (Bevölkerungszahl Türkei: 70 Millionen). Die meisten von ihnen rücken früher oder später doch ein.

Davon zu unterscheiden ist die Totalverweigerung. Totalverweigerer lehnen jegliche Art von militärischem Dienst ab, sei sie aktiv, zivil oder in Form eines Entgelts. Sie verzichten auch darauf, Bürger des türkischen Staates zu sein und verbrennen beispielsweise öffentlich ihren Ausweis oder Pass und lehnen alle Rechte und Pflichten als Bürger ab. Diese Form der Verweigerung wird auch von Frauen praktiziert. Aktuell sind es 13 Frauen in der Türkei, die dies getan haben, die Tendenz ist jedoch steigend.

Militärverweigerung kann am einfachsten erklärt werden als die moralische Wahl eines Individuums, das Einrücken zu verweigern aufgrund politischer oder religiöser Überzeugung. In der Türkei, aber auch in anderen Ländern der Welt nimmt die Zahl der Verweigerer zu. Erst letzte Woche griffen die Schweizer Medien diese Thematik auf und auch die israelischen Verweigerer (und auch Verweigerinnen!) machen aktuell viel von sich reden. Die erste bekannte Verweigerung in der Türkei fand 1989 in Istanbul statt. Bis heute haben 74 Männer und 13 Frauen ihre Totalverweigerung bekanntgegeben. 21 türkische Staatsangehörige, die in Europa leben, haben verweigert. 400‘000 Männer sind wehrflüchtig, tauchen also im eigenen Land unter, um der Dienstpflicht zu entgehen.

Kurz zusammengefasst: die häufigsten Gründe für eine Totalverweigerung:

1) Ablehnung von Tötung jeder Art aufgrund Respekt gegenüber jedem menschlichen Leben. Der Verweigerer möchte aus moralischen Gründen unter keinen Umständen Gewalt anwenden oder Menschen töten.
2) Man ist prinzipiell dagegen, Befehle entgegenzunehmen oder zu erteilen, zu gehorchen oder zu herrschen.
3) Man ist gegen Kriege und möchte nicht dem Kriegsmotor überhaupt, der Armee, dienen.
4) Man ist aus religiösen Gründen gegen jede Art von Gewalt.
5) Man möchte aufgrund politischer Überzeugung in einer armee-, klassen- und staatslosen sowie freien Welt leben.

Die Verweigerung ist Ausdruck der eigenen Überzeugung, des eigenen Bewusstseins und Ichs. Das Gewissen ist unsere individuelle Moral und gleichzeitig Verantwortung.  Die Militärverweigerung als direkte Aktion ist persönlicher, freier und autonomer Widerstand. Selbst wenn sie nicht unverzüglich zum Erfolg führt, rettet sie uns doch davor, Komplize dieses mörderischen Systems zu sein.

Von klein auf werden Kinder mit einem unglaublichen Nationalstolz auferzogen. Selbst in Schulbüchern steht: „Jeder Türke wird als Soldat geboren“. Tag für Tag stehen vor dem Schulunterricht die Türkische Nationalhymne sowie der „Türkische Eid“ an. Im Originalton heisst es da:

„Ich bin Türke, ich bin ehrlich, ich bin fleissig. Mein Gesetz ist es, meine Jüngeren zu beschützen, meine Älteren zu achten, meine Heimat und meine Nation mehr zu lieben als mich selbst. Mein Ideal ist es aufzusteigen, voranzugehen. O grosser Atatürk! Ich schwöre, dass ich unaufhaltsam auf dem von dir eröffneten Weg zu dem von dir gezeigten Ziel streben werde. Mein Dasein soll der türkischen Existenz ein Geschenk sein. Glücklich der, der sich Türke nennen kann!“

Ein Mann, der keinen Wehrdienst absolviert hat, gilt nicht als Mann und wird von Staat und Gesellschaft geächtet. Er kriegt keine Arbeitsstelle – und keine Familie wird ihre Tochter mit einem Mann verheiraten, der nicht gedient hat. Es gilt das Grundprinzip: erst das Militär macht einen Mann zum Mann, macht ihn erwachsen, verantwortungsvoll und selbständig. Ansonsten gilt er als Landesverräter.

Homosexuelle werden eigentlich als „untauglich“ erklärt und dürfen keinen Militärdienst leisten. Viele verheimlichen aber ihre Homosexualität, weil sie nicht ihr Leben lang von der Gesellschaft als „untauglicher Krüppel und Nichtsnutz“ unterdrückt werden möchten und weil sie Nachteile im Alltag befürchten, z.B. bei Bewerbungen oder bei bürokratischen Arbeiten bei staatlichen Institutionen.

Die Gleichsetzung des Mannes mit einem Soldaten ist gleichwertig mit der patriarchalischen Gesellschaft. Die Armee beschützt das Land, ebenso wie der Mann die Frau beschützt. Der Militärdienst ist eng verknüpft mit der gesellschaftlichen Rolle des Mannes. Er muss stark sein, kämpferisch, mutig und die Schwachen beschützen. Da alle Männer dienen müssen, handelt es sich bei den sogenannten „Schwachen“ um Frauen. Dies ist sogar im militärinternen Dienstgesetz verankert: „Pflicht der Armee ist es, die National- sowie die weibliche Ehre zu beschützen“. Die Armee ist eine wirkungsvolle Institution, um Nationalismus und Patriarchat zu stärken und zu schützen, nicht nur in der Türkei, sondern überall auf der Welt. Auch wenn sich der Wortlaut der Militärgesetze von Staat zu Staat unterscheidet, handelt es sich beim Militär um ein- und dasselbe Prinzip.

Junge Männer werden in ihren besten Jahren rekrutiert und werden gewaltsam geformt nach dem Prinzip von Befehlen, Gehorsam, Sterben, Töten, Verschuldung gegenüber der Nation, Schutz der Nationalehre.

Junge Frauen wiederum werden innerhalb der Familie nach demselben Prinzip geformt: sie lernen, sich der Autorität von männlichen Familienmitgliedern (also Vätern, Brüder, Onkel, Grossväter) unterzuordnen, sie lernen dasselbe Prinzip von Befehlen, Unterdrückung, Verboten und Ehre. Die Nationalehre ist gleichwertig mit der „Ehre“ der Frau in der Gesellschaft. Beide stehen über allem.

Selbst wenn sich die Rolle der Frau in religiösen, feudalen und kapitalistischen Systemen unterscheidet, hat sie doch eine gemeinsame Wurzel. Überall wird die Frau benutzt, um das herrschende System aufrechtzuerhalten und zu stärken.

In feudalen Gesellschaften beginnt die Funktion der Frau zuhause und endet auch dort. Sobald ein Mädchen ungefähr sieben Jahre alt ist, beginnt sich das Patriarchat wie ein Albtraum über sie auszubreiten. Während sie vorher noch als Kleinkind gilt, lernt sie nun ihre Pflicht innerhalb der Gesellschaft. Während ihre männlichen Altersgenossen weiterhin draussen spielen dürfen, muss sie zuhause bleiben und der Mutter im Haushalt helfen.

Sobald sie die obligatorische Schulzeit von acht Jahren beendet hat, verbietet ihr der Herr des Hauses jede zusätzliche Bildung und lehrt sie, was es heisst, sich dem Patriarchat unterzuordnen. Junge Frauen haben kein Recht, ihre Meinung zu vertreten oder selber zu beurteilen und ebensowenig, sich aus eigener Initiative zu verlieben oder geliebt zu werden. Die Familie beobachtet sie mit Argusaugen und hält ihre jungfräuliche „Ehre“ unter strenger Kontrolle.

Bereits im Kindesalter werden Mädchen versprochen und müssen dann als junge Frau denjenigen Mann heiraten, den die Eltern vor Jahren für sie ausgesucht haben. Meistens handelt es sich um einen von engen Familienfreunden oder aus der Verwandtschaft, also Cousins. Nun hat die junge Frau die Pflicht, eine Familie zu gründen und dem Mann Kinder zu gebären, am besten natürlich Söhne.

In kapitalistischen Gesellschaften ist die Situation ähnlich, wenngleich sie sich auch unterschiedlich manifestiert. Auch hier wird Mädchen von klein auf ihre Funktion innerhalb der Gesellschaft beigebracht: nämlich, eine Familie zu gründen und Kinder zu gebären. Sie werden nicht offen dazu gezwungen, aber im Unterbewusstsein so geformt. Sei es durch ein Vorleben der Geschlechterrollen zuhause oder auch durch externe Faktoren während der Entwicklung, beispielsweise durch Märchen, wo Frauen für gewöhnlich passiv, hilflos und beschützungsbedürftig, dafür aber schön sind. Sie werden von starken, männlichen Helden jeweils aus ihrer Lage befreit und dürfen ihn dann –o, Glück!- heiraten und ihm Kinder gebären. Schon früh träumen Mädchen von ihrer Heirat und von einem wunderschönen weissen Kleid, dass sie dann tragen möchten, weil sie von ihren Müttern, Vätern, der Gesellschaft sowie den Medien gelernt haben, auf dieses eine Ziel hinzuarbeiten, welches das höchste aller Gefühle im erfüllten Leben einer Frau ist.

Ist die Frau dann erwachsen, führt sie die indoktrinierte Rolle aus, sorgt zuhause für den Haushalt und die Kinder. Hinzu kommt aber eine weitere Pflicht, die dem kapitalistischen System zu eigen ist: die Frau muss neben all diesen Pflichten auch noch ihre ökonomische Pflicht erfüllen und arbeiten, weil ein einziger Lohn nicht reicht, um eine Familie zu unterhalten, heutzutage weniger denn je.

Die Frau wird zwischen den Männern aufgeteilt, sei es in ihrer Rolle im Staat, in der Gesellschaft oder am Arbeitsplatz. Sie wird dazu benutzt, um kapitalistische Produkte zu verkaufen. Jüngstes Beispiel ist der Autosalon in Genf, und auch sonst sieht man überall auf der Strasse Plakate, die den weiblichen Körper dazu benutzen, ihre Produkte zu verkaufen.

Nebst der Benutzung der Frau macht sich hier ein weiterer Charakterzug bemerkbar: wenn wir sagen, dass für diese Zwecke die Frau benutzt wird, stimmt dies eigentlich nicht ganz, denn benutzt wird nur der Körper der Frau, nicht ihre psychischen Eigenschaften. Somit wird auch klar ausgedrückt, welcher Wert Frauen beigemessen wird, nämlich ein rein physischer. Es hat keinen Wert, wie eine Frau denkt, wie sie lebt und was sie hervorbringt, wenn sie nur schön ist. Gleichzeitig benutzt der Kapitalismus sie nicht nur als Marketingstrategie, sondern auch als Hauptkundschaft. Die Pflicht der Menschen im Kapitalismus ist es, zu konsumieren, und für Frauen gilt dies gar noch mehr als für Männer. Meist hilft ihnen der Konsum dabei, die ihnen auferlegte Rolle zu wahren. Schönheitsprodukte und Kosmetika, Mode und Markenklamotten – all diese Dinge kann der Kapitalismus nur „an die Frau“ bringen, weil er ihr vorher eingeprägt hat, welche Werte die Frau innerhalb der Gesellschaft erfüllen muss.

Es ist daher nicht erstaunlich, dass sich beispielsweise hier in der Schweiz immer mehr junge Mädchen bereits im nicht-volljährigen Alter prostituieren, um dem künstlich erzeugten Bedürfnis nach Schönheit, Luxus und Mode nachkommen zu können.

In Drittweltländern verkaufen sich Frauen, um sich Brot leisten zu können, in kapitalistischen Ländern, um Markenklamotten kaufen zu können. Das Prinzip ist in beiden Fällen dasselbe, denn sowohl Lebensmittel, als auch Mode stellen für die jeweils betroffenen Frauen aus ihrer subjektiven Sicht ein Grundbedürfnis dar.

Obwohl türkische Frauen nicht wehrpflichtig sind, erklären auch Frauen ihre Totalverweigerung, d.h. die vollständige Verweigerung aller Rechte und Pflichten als Bürgerinnen und als Frauen. Der grösste Beweggrund hierfür ist ihr Bewusstsein über die Funktion des Militärs: sie hat nämlich offiziell die Aufgabe, die Nationalehre und insbesondere die Frauen und die „weibliche Ehre“ zu beschützen. Des weiteren finden sich innerhalb des Militärs dieselben hierarchischen Strukturen wie in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft oder Familie.

Mit der Totalverweigerung haben Anarchisten (wobei man sagen muss, dass es sich zwar meist, aber nicht ausschliesslich um Anarchisten handelt) ein wichtiges Signal gesetzt, das früher unmöglich schien. Sie lehnen ab, was Ihnen lebenslang vorgesetzt wird, sie kennen ihre Feinde und leisten Widerstand, ohne allen Zwängen zur Anpassung Folge zu leisten. Sie schreien, ohne die Schreie anderer zu unterdrücken. Wenn man die Umstände in der Türkei betrachtet, ist es sehr aussergewöhnlich, dass Menschen im Alleingang Widerstand leisten und nicht in einer Organisation.

Die linken Organisationen waren bis zum 80-er Putsch sehr stark und liess entsprechend keine Strömungen innerhalb der Bewegung zu. Die Organisation war alles, das Individuum nichts. Kam es doch zu anderen Sichtweisen, so führte dies in der Regel zur Spaltung.

Es hat einen grossen Signalcharakter, in einer Gesellschaft, die sich immer unterordnen musste, sei es dem Staat oder dann der revolutionären Bewegung, selber etwas auf die Beine zu stellen, im Alleingang Widerstand zu leisten und seine individuelle Position zu vertreten. Es ist auch von Bedeutung, dass dies erstmals geschieht, ohne die Freiheit Andersdenkender durch seine eigene Freiheit zu beschränken. Totalverweigerer drängen niemandem gewaltsam ihre Sicht der Dinge auf oder greifen Andersdenkende an, aber durch ihr Selbstvertrauen, greift die staats-, kriegs- und klassenlose Idee automatisch um sich und beeinflusst andere Menschen. Es bietet sich eine ganz neue Art der politischen Bewegung: die Bewegung greift von selber um sich. Die Art und Weise, wie Einzelpersonen vorleben, offen sich selber zu sein und für ihre Überzeugung einzustehen, macht den Menschen Mut, in ihre eigene Kraft zu vertrauen und daran, durchaus auch alleine stark genug zu sein, um Widerstand zu leisten – nicht nur dem Militär gegenüber, sondern gegen alle starren, versteinerten Strukturen.

Dies ist wichtig, denn wenn in einer Bewegung jedes einzelne Glied der Kette stark und autonom ist, ist sie wirksamer, als wenn sie aus einer starken Führung mit Millionen von Mit- und Nachläufern besteht.

Es zeigen sich hier auch Parallelen zum gefestigten Patriarchat in der türkischen Gesellschaft. Auch hier gilt es, nicht in sich selbst zu vertrauen, sondern in eine höher stehende hierarchische Stufe: so wie die Menschen dem Staat, der Nation, dem Vaterland und dem Militär untergeordnet sind, sind sie auch der Familie untergeordnet und innerhalb der Familie ist die Frau zusätzlich dem Mann untergeordnet. Es ist unmöglich, innerhalb der Familie eine eigene individuelle Stellung zu beziehen.

Doch wie so oft, können wir den Begriff „unmöglich“ nicht zunichte machen durch Gespräche, durch Diskussionen oder durch Infobroschüren, sondern einzig und alleine durch die vorgelebte Praxis.

Totalverweigerung wäre niemals akzeptiert worden, hätte man sie als theoretische Idee aufgebracht. Da sie aber praktiziert wird, ist sie vorhanden, sie existiert, unabhängig davon, ob Staat und Militär sie akzeptieren oder nicht. Dies beeinflusst Stück für Stück die Gesellschaft, die sich nie hätte von Flyern oder Diskussionen überzeugen lassen. Die Verweigerung hat die Grenzen des Unmöglichen überschritten und ist nun nicht nur möglich, sondern real.

Ebenso verhält es sich mit der Stellung der Frau. Das Patriarchat lässt nicht an sich rütteln durch Diskussionen, es muss aber wohl oder übel gelebte Praxis akzeptieren, denn etwas, das existiert, muss früher oder später von der Gesellschaft angenommen werden. Die einzige Möglichkeit, das Patriarchat zu stürzen, besteht darin, dass Frauen ihr Leben in die eigene Hand nehmen und in ihre Kraft sowohl als Individuum, als auch als Frau vertrauen.

Um aber beim Thema „Militär“ zu bleiben, lässt sich abschliessend sagen: jeder Schlag, der gegen die Institution des Militärs ausgeübt wird, ist gleichzeitig ein Schlag gegen die traditionelle Familie und erschüttert das Patriarchat. Er sorgt dafür, dass Alternativen hervorgebracht und beschleunigt werden.

Der feministische und antimilitaristische Kampf sind eng miteinander verknüpft. Wie zwei Flüsse vereinigen sie sich in einem Ozean und auf diese Weise vereinigen sich auch die beiden Widerstandsformen.

Auf dass immer mehr Menschen in sich und in einen autonomen Widerstand vertrauen und sich unsere Kämpfe in einen grossen vereinigen!

Von: Feministische Aktion & Karakök Autonome Türkei / Schweiz


Originaltext: http://karakok.wordpress.com/unsere-texte/nato-patriarchat-in-der-turkei/


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