Gaston Leval - Das neue revolutionäre Leben von Carcagente (Provinz Valencia, 1936)

Carcagente, ein größeres Dorf in der Provinz Valencia, zählte bei meinem ersten Besuch im November 1936 18.000 Einwohner. (...) unsere Bewegung (die Anarchisten, d. Hrsg.) (hatte) seit langem dort Fuß gefaßt und eine große Bedeutung erlangt. So zählte z.B. damals - November 1936 - unsere Bauerngewerkschaft 2750 Mitglieder, unter denen einige Hundert Kleineigentümer waren; die Gewerkschaft der Orangenpacker (oder besser gesagt: Packerinnen, denn diese Arbeit wurde zum größten Teil von Frauen verrichtet) hatte 3325 Mitglieder. Hinzu kamen 320 Bauarbeiter, 150 Eisenbahner, 120 Metallarbeiter und 450 Arbeiter verschiedener Berufe - und alle waren gewerkschaftlich organisiert. Insgesamt also 40 % der gesamten Bevölkerung (...)

In der Zone von Carcagente (...) gab es viele Großgrundbesitzer, die fast alle auf die Produktion von Zitrusfrüchten eingestellt waren. Zahlreiche Kleineigentümer, die von dem Ertrag ihres Stücks Boden nicht leben konnten, besserten ihr mageres Einkommen auf, indem sie bei den Reichen arbeiteten oder Zuflucht zu verschiedenen anderen Notbehelfen nahmen. Diese Situation fand man in Spanien sehr häufig vor, und sie sollte dazu beitragen, daß die Erschütterung, die durch den Aufruhr und die faschistische Drohung hervorgerufen worden war, in eine soziale Revolution umschlug. Eine logische Folge davon war der vorherrschende Einfluß unserer Gewerkschaftsorganisation, die unverzüglich begann, die Großgrundbesitzer zu sozialisieren. Das ging um so leichter vor sich, als die großen "terratenientes" sich aus dem Staub gemacht hatten. Unsere Genossen führten die Verwirklichung des libertär-kommunistischen Ideals (...) weiter, indem sie sich gleichzeitig mit dem traditionellen Kleineigentum befaßten, um die individuell angebauten, zerstreuten und zerstückelten Parzellen in möglichst große Flächen umzuwandeln, die dank dem gemeinsamen Sozialeigentum und den dadurch ermöglichten Techniken rationell nutzbar gemacht werden konnten.

(...) Um diese grundlegenden Veränderungen durchzuführen, haben sie auch gegenüber den Kleineigentümern keine Gewalt angewendet. Diejenigen, die der Kollektivität beigetreten sind, haben es aus freien Stücken gemacht, indem sie dem Beispiel der Militanten folgten, die als erste ihre Felder, Tiere und Werkzeuge zusammengeführt haben. Es gab wohl und gibt immer noch einige Widerspenstige, aber unsere Genossen haben volles Vertrauen in die Überlegenheit der kollektiven Arbeit und die praktischen und ideellen Werte der gegenseitigen Hilfe. Sie wissen ja, daß das Beispiel die immer noch Zögernden am Ende wohl mitreißen wird. (…)

Ich habe Beitrittsgesuche lesen können, die am Tag meines Besuches eingereicht worden waren. Darin waren die Fläche, die Lage im Gemeindegebiet und die Qualität der jeweiligen Ländereien, die Zahl der Familienmitglieder, Tiere und Arbeitsgeräte aufgezählt. Bei all dem keine Spur von Gewaltanwendung.

Angesichts der durch den Bürgerkrieg verursachten Schwierigkeiten konnte die individuelle Freiheit oder die Selbständigkeit der außerhalb der Kollektivität gebliebenen Produzenten nicht bedeuten, daß sie dadurch die Produktion bremsten bzw. unterbrechen könnten. Unseren Genossen war von Anfang an klar, daß jeder durch verstärkte Anstrengungen seinen Beitrag zum Sieg leisten muß. Ohne darauf zu warten, daß die Gemeindebehörden und die politischen Parteien die Verantwortung dafür übernehmen, hat die Bauerngewerkschaft eine Kommission zur Arbeitsüberwachung ernannt, die durch das Land reiste und dafür sorgte, daß sowohl die Individualisten als auch die Kollektivisten in ihrem Arbeitseifer nicht nachließen.

Selbstverständlich geht die Kollektivität, die von der Bauerngewerkschaft organisiert wurde und unter deren Aufsicht steht, selbst mit gutem Beispiel voran. Ich bin durch breit angelegte Orangenplantagen, von denen eine sich über das Amtsgebiet von 5 Dörfern erstreckte, gegangen und war von der Sauberkeit und Reinlichkeit der Kulturen stark beeindruckt. Jeder Quadratmeter war mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Sorgfältigkeit bestellt, damit die Bäume all die natürlichen Nährstoffe bekommen (…)

An einigen Stellen hatte ich zwischen den Orangenbäumen herauswachsende Pflanzen bemerkt und ich fragte, um welche es sich handelte. Die Genossen erklärten, daß die Städte wohl nicht mehr versorgt werden könnten, wenn der Krieg länger dauerte; deswegen haben sie Frühkartoffeln angebaut, obwohl der im allgmeinen sandige Boden für diese Art Kultur nicht sehr günstig ist. Und noch mehr: sie machten sich die 4 Monate zwischen der Reisernte und der darauffolgenden Saatzeit zunutze, indem sie auf den sorgfältig bearbeiteten valencianischen Reisfeldern Frühgetreide säten.

Da dieser Besuch meine erste Kontaktaufnahme mit einer landwirtschaftlichen Kollektivität war, habe ich mich nach der allgemeinen Arbeitsorganisation erkundigt. Dabei konnte ich dann entdecken, daß sie viel einfacher und zugleich vollständiger war, als ich sie mir vorgestellt hatte. An der Basis die öffentliche Versammlung der Landarbeiter, an der sowohl die gewerkschaftlich Organisierten als auch die Nichtorganisierten teilnahmen, wobei die Letzteren in der Minderzahl waren, wie das aus den oben zitierten Zahlen zu ersehen ist. Auf Vorschlag der Anwesenden - der Individualisten und der Kollektivisten - wurde einstimmig bzw. durch Mehrheitsbeschluß ein Komitee mit 2 Sektionen ernannt. Es ist einerseits die 6köpfige technische Sektion, die für die Leitung der Produktion und die Lösung der Absatzprobleme auf dem spanischen bzw. ausländischen Markt sorgt und die 5köpfige, mit der Buchführung beauftrage Verwaltungssektion. In der ersteren sitzen ehemalige Exporthändler, deren Sachkenntnis bekannt und anerkannt ist. Sie verrichten ihre Arbeit gut und scheinen sich in die neue soziale Struktur wirklich eingegliedert zu haben.

In Carcagente begann die Sozialisierung der Industrie erst nach der Sozialisierung der Landwirtschaft, aber die Art und Weise, wie sie angefangen hat, läßt optimistisch stimmen. Die Bauarbeiten sind in der Hand der Bauindustrie-Gewerkschaft und die Metallarbeitergewerkschaft leitet die Schwerindustrie; die Holzarbeitergewerkschaft (...) hat alle Kleinunternehmer und Handwerker in einer geräumigen Werkstatt zusammengebracht, in der jeder einen gemeinsamen festgesetzten Lohn bekommt und nicht mehr ungeduldig auf die Kunden zu warten braucht und sich fragen muß, wie er am Monatsende wohl seine Wechsel bezahlen soll. Die anderen, weniger wichtigen Berufe sind in einer Einheitsgewerkschaft zusammengruppiert. Die Frisiersalons, in denen Lichtverhältnisse, Organisation und Sauberkeit früher oft zu wünschen übrig ließen, sind durch mehrere saubere, komfortable Kollektiveinrichtungen ersetzt worden. Die Konkurrenten von gestern sind heute Arbeitskollegen.

Die Orangenverpackung für den Export beschäftigt, wie wir sahen, die meisten Arbeitskräfte. Dazu sind mehrere Gebäude bestimmt, die über die in Carcagente notwendigen Materialien verfügen. Jedes wird durch ein von den Arbeitern ernanntes Komitee geleitet, das aus einem Handelsexperten und einem Delegierten für jede spezifische Aktivität - Kistenfabrikation, Sortieren, Verpackung, Normung usw. - besteht. Bei den einzelnen Arbeitsgängen arbeiten die Arbeiter und Arbeiterinnen fleißig im Rhythmus der Sortiermaschinen; die Orangenkisten werden reihenweise aufgestapelt (...) Sie sollen nach England, Schweden, Frankreich, Holland usw. verschickt werden: "Die im Ausland sollen sehen, daß wir mit der sozialisierten Produktion besser als vorher arbeiten!" sagen die Arbeiter zu mir.

Ein durch die Arbeiterversammlung eigens dazu ernanntes Komitee leitet die Bauindustrie. Es werden zwar keine Häuser gebaut - und wahrscheinlich wird man auch während des ganzen Krieges keine bauen, nicht nur, weil in Zeiten ernster Krise der Bau immer als erster stillsteht, sondern auch weil ein gut Teil der Wohnungen, die vorher den Reichen und den Faschisten des Ortes gehört hatten, denen übergeben wurden, die in den schlechtesten Verhältnissen wohnten - aber Inneneinrichtungen und Reparaturen werden wohl vorgenommen. Einige ehemalige Arbeitgeber haben auch dem gemeinsamen Werk zugestimmt, und sie arbeiten genauso gut wie früher; einer der beiden Architekten in Carcagente ist der Gewerkschaft beigetreten.

Die Ziegeleien und die Tragsteinefabrik sind nach denselben Grundsätzen und Bezahlungsnormen organisiert - und so ist es auch mit allen anderen Berufen.

Aus: Gaston Leval. Das libertäre Spanien. Das konstruktive Werk der Spanischen Revolution (1936-1939), Verlag Association, Hamburg 1976, S. 151-155

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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