Walther L. Bernecker - Strategien der „direkten Aktion“ und der Gewaltanwendung im spanischen Anarchismus
Josef Becker zum 50. Geburtstag
Der Zusammenhang zwischen Arbeiterbewegung und Anarchismus ist in der spanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts weit deutlicher greifbar als in allen anderen europäischen Gesellschaften der Neuzeit. Bis zum Bürgerkrieg von 1936-1939 stellte der Anarchismus in Spanien eine bedeutende revolutionäre Kraft dar, die im Bund mit der syndikalistischen Bewegung eine erstaunliche organisatorische Stabilität aufwies. Von Anfang an - seit der Italiener Giuseppe Fanelli Anfang November 1868 als Gesandter Bakunins die Nachricht von der Gründung einer Internationalen Arbeiter-Assoziation nach Spanien brachte - hatte der iberische Anarchismus sozial und regional zwei Schwerpunkte: den feudal-latifundistischen Süden des Landes, in dem der andalusische Agrar- und Handwerkeranarchismus Wurzeln schlug, und den relativ industrialisierten Nordosten der Halbinsel, wo sich der katalanische Anarchosyndikalismus durchsetzte. Diese soziale (Industriearbeiter-Landarbeiter) und regionale (Andalusien-Katalonien) Differenzierung war nicht nur in der Forschung Anlaß für die verschiedensten Erklärungshypothesen zu den Entstehungsursachen des spanischen Anarchismus, sondern stellte die Bewegung selbst im Verlauf ihrer Geschichte wiederholt vor nahezu unlösbare strukturelle Probleme, bestimmte in wesentlichem Umfang ihre Strategie und Taktik, wirkte sich entscheidend auf die Revolutionskonzeption des Anarchismus aus und dürfte letztendlich maßgeblich für das Scheitern der Bewegung und ihren Untergang als Sozialrevolutionäre Kraft verantwortlich sein. (1)
Alle libertären Autoren, die sich selbstkritisch mit ihrer Bewegung und deren Rolle in den sozialen Auseinandersetzungen im letzten Drittel des 19. und ersten des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben, weisen auf die mangelnde Übereinsstimmung der verschiedenen Flügel des Anarchismus in wesentlichen programmatischen Fragen hin (2). Inner-anarchistische Auseinandersetzungen und fehlender Konsens in Grundfragen lassen sich bis in die Anfänge der Bewegung zurückverfolgen: Bereits auf dem ersten spanischen Arbeiterkongreß 1870 in Barcelona wurde das Programm der spanischen Sektion der Internationale („in der Politik anarchistisch, in der Wirtschaft kollektivistisch, in der Religion atheistisch“) erst nach verschiedenen Kampfabstimmungen und auch dann lediglich in einer äußerst verwässerten Form angenommen; die Auseinandersetzungen auf diesem Kongreß nahmen bereits den zukünftigen Dissens zwischen „Reformisten“ und revolutionären Aktivisten vorweg. Bezeichnenderweise sprach sich der größere Teil der katalanischen Delegierten, ohne sich insgesamt jedoch durchsetzen zu können, bereits damals für die jeweils gemäßigtere Formulierung der einzelnen Anträge aus. (3)
Die unterschiedliche soziale und regionale Zusammensetzung der anarchistischen Bewegung Spaniens führt auch zentral in die Problematik der „direkten Aktion“ und der Gewaltanwendung im iberischen Anarchismus. Denn die Frage nach den sozialen, wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlich-historischen Konstituierungsbedingungen des Anarchismus und seiner Entfaltung als Sozialrevolutionäre Massenbewegung hat zugleich die Frage nach den verschiedenartigen Strategien des „libertären Sozialismus“ zum Inhalt. Dabei soll unter Strategien der zweckrationale und zielgerichtete Gehalt von Gewaltaktionen verstanden werden, ohne darüber zu verkennen, daß gerade im spanischen Anarchismus neben dem rationalen besonders häufig irrationale Violenzmuster verbreitet waren.
Für die spanischen Anarchisten ergab sich aus dem Motto der Ersten Internationale: „Die Emanzipation der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein“ als Folge die konsequente Ablehnung der partei- und verbandsmäßigen Einflußnahme auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Diese „antipolitische“ Haltung, die von einer „apolitischen“ deutlich zu unterscheiden ist (4), hielt sie auch von einer (Zweck-)Koalition mit republikanischen oder sozialistischen Parteien ab und gehört zu den Grundmerkmalen der Bewegung. Anti-politicismo bedeutete für die in der Federacion Regional Espanola (FRE) Organisierten Arbeiter Ablehnung aller politischen Parteien, Gegnerschaft auch gegenüber der republikanischen Staatsform und Weigerung, an Wahlen teilzunehmen. Die bereits 1870 entbrannte Diskussion über die Angemessenheit dieser Taktik, die zwei Jahre später zur Spaltung der spanischen Arbeiterbewegung in einen majoritären „antiautoritären“ (bakuninistischen) und einen minoritären „autoritären“ (marxistischen) Flügel führte, wurde für die anarchistischen Arbeiter nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Commune 1871 durch eine republikanische Regierung endgültig im antipolitischen Sinne entschieden. Nunmehr stand es für die Anarchisten fest, daß alles Politische - unabhängig von der Staatsform - für die Arbeiter verderblich und infolgedessen abzulehnen sei. (5)
An die Stelle der „politischen“ setzten die Anarchisten die „direkte“ oder „antipolitische“ Aktion, unter der sie ursprünglich die unmittelbare Auseinandersetzung der sich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte (Arbeiter und Kapitalisten), das selbständige Handeln des Volkes, ohne Rekurs auf parlamentarische Vertreter, sowie - unter direktem Rückgriff auf Bakunin - die Absicht verstanden, das Endziel der sozialen Revolution „keineswegs durch eine formale Anwendung und Verbreitung von fertigen Theorien, sondern nur durch eine ursprüngliche Tat des praktischen autonomischen Geistes“ (6) zu erreichen. „Direkte Aktion“ ist somit anfangs keineswegs in jedem Fall mit physischer Gewaltanwendung gleichzusetzen, wenn auch Sabotage und Terrorakte von einem extremistischen Flügel stets als legitime Mittel im Kampf gegen das Kapital betrachtet wurden; unter „direkte Aktion“ fallen vielmehr auch Aktionsformen wie das Aushandeln von Kollektivverträgen, propagandistische Agitation und Streiks. Vor allem die Streiks waren während der Existenz der spanischen Regionalföderation der Internationale (1870-1888) die bevorzugte Strategie der organisierten Arbeiterschaft; sie wurden hinsichtlich des angestrebten Endziels als ein revolutionäres, vom Standpunkt des geltenden Rechts aus jedoch als durchaus legales Mittel angesehen. 1872 heißt es in einer anarchistischen Broschüre über die Ziele der Internationale (7): Sie soll allmählich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Arbeiterklasse verändern ..., die Arbeitsbedingungen anheben und verbessern und die Privilegien des Kapitals beschneiden, verringern, abblocken, sie Tag für Tag abhängiger und prekärer werden lassen, bis das Kapital sich ergibt und verschwindet ... Dies erreicht man mit dem Mittel des Widerstandes, mit der legalen und offenen Waffe des Streiks.
Die Ziele, die durch den Streik erreicht werden sollten, wurden allerdings nicht als reformistische Verbesserungen der Lage der Arbeiterklasse betrachtet - Verbesserungen, die das letzte Mittel der sozialen Revolution überflüssig machen würden -, sondern als Maximierung der Ausgangsposition für den schließlich unausweichlichen revolutionären Akt, durch den die bestehende Staats- und Wirtschaftsform beseitigt und die herrschaftsfreie Gesellschaft herbeigeführt werden sollte. Ziele wie der Achtstundentag, Lohn Verbesserungen, Rede- und Versammlungsfreiheit oder die Freilassung politischer Gefangener fanden somit ihre Rechtfertigung nicht in sich selbst, sondern nur als taktische Mittel zur Schwächung der gegnerischen und Stärkung der eigenen Position. (8)
Die Strategien, die der spanische Anarchismus in seinen „heroischen Jahren“ (9) entwickelte, lassen sich nur aus dem umfassenden Entstehungszusammenhang der Bewegung erklären. Im wesentlichen kann man für die Jahrzehnte vor Gründung der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Confederacion Nacional del Trabajo (CNT) - für die Zeit danach gelten veränderte Bedingungen - drei Grundmuster des Handelns anarchistischer Gruppen unterscheiden:
- Zuerst ging es der spanischen Regionalföderation der Internationale darum, in der Arbeiterbewegung Fuß zu fassen. Sie instrumentalisierte zu diesem Zweck bereits vorhandene Arbeiterzirkel, Bauernassoziationen, Kulturzentren usw. und betonte dabei stets die Legalität ihres Handelns. Zur wichtigsten Taktik entwickelte sich in den Jahren 1868-1874 und (nach ihrer Wiederzulassung durch die liberale Regierung Sagasta) 1881-1884 der (friedliche) Streik.
- Als zu Beginn der Restaurationsära (1874) die Internationale verboten und in den Untergrund gedrängt wurde, führte dies - angesichts des Fehlschlags friedfertiger Taktiken - zur Radikalisierung eines Teils der anarchistischen Bewegung und in deren Gefolge zur Spaltung der FRE. In der nun beginnenden Auseinandersetzung zwischen den syndikalistischen Vertretern friedlicher Strategien und den extremistischen Verfechtern terroristischer Maßnahmen setzte sich vor allem im Agrarproletariat Andalusiens eine Form des Aktionismus durch, die als „Propaganda durch die Tat“ den Terrorismus zu einer Erscheinungsform des Anarchismus werden ließ. In den 1880er Jahren drehte sich die (auch auf internationaler Ebene stattfindende) Diskussion zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten in Spanien um die Zweckmäßigkeit von Gewaltanwendung. Die anarchokommunistische Entscheidung der landlosen Agrarproletarier des Südens hatte die Anwendung individueller Gewalt zur Folge. Individuelle Terrorakte rissen auch im letzten Jahrzehnt des 19. und ersten des 20. Jahrhunderts nicht ab.
- Seit Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten im Anarchosyndikalismus einen historisch tragfähigen Kompromiß eingegangen waren, entwickelte sich der Generalstreik immer deutlicher zur Hauptstrategie der libertären Bewegung. Die für den Anarchosyndikalismus wesentlichen Postulate waren der Föderalismus, der nur-gewerkschaftliche Kampf und die ausschließliche Methode der im Generalstreik kulminierenden „direkten Aktion“. (10) Dieser verfolgte - neben den ökonomischen - auch politische Ziele: Durch ihn sollte der Staat beseitigt und die Gesellschaft syndikalistisch organisiert werden. Der Generalstreik als wirksamste Form der „direkten Aktion“ wurde als ein Mittel des Klassenkampfes verstanden, dessen Ergebnis die Neugestaltung der gesellschaftlichen Lebensformen sein würde. Dabei ging es nicht um die Eroberung der politischen Macht, sondern um deren Zerschlagung.
Betrachtet man die verschiedenen zielgerichteten, lang- oder mittelfristig kalkulierten Strategien der spanischen Arbeiterbewegung sowie deren eher irrationale Gewaltformen in historischer Perspektive, so drängt sich die Frage nach den Ursachen für die verschiedenen Methoden bzw. Gewaltanwendungsmuster auf. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei das Problem der Gewalt in seinen verschiedensten Ausprägungen. Im folgenden soll versucht werden, die unterschiedlichen Formen des kollektiven Sozialprotests sowie gewaltsamer Individualaktionen in Korrelation zur gesellschaftlichen Lage der Anarchisten und der daraus resultierenden Handlungsmotive zu setzen. Lassen sich die einzelnen historisch greifbaren Gewalttypen auf verschiedene Ideologien und differierende sozio-ökonomische Situationen ihrer Trägergruppen zurückführen, d.h. kann die Gewaltanwendung an der geistigen Tradition und der Interessenlage der Arbeiterschaft festgemacht werden? Es wird zu fragen sein nach den soziopolitischen Konstellationen, die Anlaß zur Entstehung und Ausbreitung der anarchistischen Bewegung Spaniens und zur Anwendung von Gewalt gegeben haben. Dabei muß auch auf die Funktion der institutionellen Gegengewalt der herrschenden Gruppen und deren Auswirkung auf die anarchistischen Violenzformen eingegangen werden. Dieser Aspekt steht in engem Zusammenhang mit der Legitimation der Gewaltanwendung im anarchistischen Selbstverständnis; die Analyse der Violenzformen bedingt somit die Untersuchung der Begründungs- und Rechtfertigungsmuster für die Gewalt.
Die Entwicklung des Generalstreiks als Strategie leitet eine neue Phase in der Entwicklung des Anarchismus ein und wird daher im vorliegenden Beitrag nur gestreift.
II.
Nachdem der anarchistische Flügel der Internationale in Spanien Fuß gefasst hatte, leitete die FRE zahlreiche Aktivitäten ein, deren Endziel die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse war. Der Gründungskongreß der spanischen Regionalföderation in Barcelona (1870) verabschiedete eine Resolution, derzufolge der Streik als die erfolgversprechendste Strategie der „direkten Aktion“ zur Durchsetzung von Arbeiterinteressen empfohlen wurde. Sehr bald setzte sich in der internationalistischen Presse jener Jahre die Bezeichnung „wissenschaftlicher Streik“ durch, womit zugleich die Problematik dieser Strategie angesprochen wurde: Ein lokaler Streik sollte erst dann ausgerufen werden dürfen, wenn zuvor der gesamte Mechanismus der Arbeiterorganisation „in wissenschaftlicher Weise“ in die Planung und Organisation einbezogen worden war. Der bürokratische Aufwand von der Antragstellung einer Lokalsektion bis zur Genehmigung durch das Comite Federal hätte nahezu zwei Monate gedauert. (11)
Betrachtet man den legalistischen Kurs des damals von Katalanen majorisierten FRE-Führungsgremiums, so liegt die Vermutung nahe, daß die Durchführung eines Streiks nicht - wie offiziell proklamiert - deshalb von der Erfüllung zahlreicher Vorschriften abhängig gemacht wurde, weil ein möglichst durchschlagender Erfolg und die solidarische Unterstützung anderer Arbeitersektionen gewährleistet werden sollten, sondern weil der syndikalistisch orientierte Flügel Streiks ganz verhindern wollte. Bis zu ihrer Illegalisierung 1874 und erneut nach ihrer Wiederzulassung 1881 kämpfte die FRE auch gegen die vielen „wilden“ Streiks an, die besonders häufig im agrarischen Andalusien stattfanden. Trotz des Widerstandes des Comite Federal war jedoch in der ersten Phase der Internationale der Streik die am meisten angewandte Strategie der Arbeiterbewegung. Dabei drängte die Arbeiterbasis zu immer neuen Streikaktionen, führte unkoordinierte und schlecht vorbereitete Protestaktionen durch, die zumeist fehlschlugen, und gab damit den Behörden ausreichend Vorwand zur Verfolgung und Unterdrückung der spanischen Regionalföderation. Infolge ausbleibender Erfolge und zunehmender Spannungen verfiel ein Großteil der Arbeiter, vor allem in den Jahren der Illegalität der Internationale (1874-1881), entweder in die Apathie der Verzweiflung oder - weit häufiger - in die Radikalität gewaltsamer Maßnahmen. (12)
Zwischen 1868 und 1874 verfolgte die organisierte Arbeiterbewegung Spaniens einen durchwegs legalen Kurs: Durch Assoziation, Propaganda und friedlichen Streik wollte sie ihre Ziele erreichen. Vereinzelt wurde sogar die Meinung vertreten, die soziale Revolution könne auf friedlichem Weg im Rahmen der bestehenden Rechts- und Staatsordnung durchgeführt werden. Die internationalistische Presse jener Jahre wiederholte ständig das Motto: „Friede den Menschen, Krieg den Institutionen.“ Auch die Beteiligung der spanischen Regionalföderation am kantonalistischen Aufstand von 1873 hatte keineswegs die Bedeutung, die ihr Friedrich Engels und die Rechts-Presse jener Zeit in polemischer Absicht unterstellt haben. (13) Erst die massive Repression der internationalistischen Bewegung durch die republikanische Regierung Castelar Ende 1873 und die gleichzeitige Einsicht in die Erfolglosigkeit der bisherigen Streik-Strategie veranlaßten die FRE, ihre bisherigen vornehmlich friedlichen Strategien zu revidieren und sich - eher unwillig - für Gewaltmaßnahmen auszusprechen. Das Obermaß an repressiver Gewaltanwendung durch staatliche Stellen hatte in der Arbeiterschaft nicht Gefügigkeit, sondern in einer deutlich wahrnehmbaren Eskalationsdynamik, Widerstand und Gegengewalt erzeugt. Aber selbst jetzt versuchte die Organisation, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren: Angekündigt wurden lediglich „Repressalien“ als Antwort auf besondere Übergriffe des Bürgertums; die Bewegung wollte sich auf re-aktive Gewaltanwendung beschränken und ließ in ihren Proklamationen keinen Zweifel daran, daß sie ihre Aktionen nur als Gegengewalt zu gouvernementaler Verfolgung und dem institutionalisierten Terror des Bürgertums verstand. In dieser Phase war Gewalt weniger Strategie als vielmehr Reaktion und Gegenwehr. Als die Internationale 1881 wieder zugelassen wurde, fand diese erste Gewaltphase der Arbeiterbewegung sofort ihr Ende; sie hatte auch mehr in der Theorie bzw. aus Drohungen als aus aufsehenerregenden „Repressalien“ oder Terrorakten bestanden.
Nach 1881 bestimmte weiterhin die „legalistische“ Gruppe einige Jahre lang den Kurs der Organisation, der jetzt allerdings deutlich reformistische Züge aufwies; nicht nur die anzuwendenden Mittel, sondern auch das angestrebte Ziel waren ihrer revolutionären Dynamik entkleidet und durch eine unterwürfige Anerkennung bestehender Verhältnisse ersetzt worden. Respektvoll wurden „Ihre Exzellenzen, die Herren Minister“ und die „Herren Zivilgouverneure“ gebeten, gegen die Übergriffe der Vertreter der Staatsgewalt vorzugehen. Die Revista Social, das offizielle Sprachrohr der Föderation, wandte sich in aller Entschiedenheit gegen die Anwendung von Gewalt durch die Arbeiter; der Valencia-Kongreß von 1883 sprach sich expressis verbis für die Aufkündigung der Solidarität mit jenen Arbeitern aus, die eine Strategie der Gewalt verfochten.
Es wäre gewiß verfehlt, dieses Selbstverständnis der Anarchisten als Ausdruck ihrer faktischen Ohnmacht in jenen Jahren oder als vorweggenommene Antwort auf befürchtete Illegalisierung zu begreifen. Für die spanischen Anarchisten war es vielmehr eine von ihren Anfängen an niemals in Frage gestellte Grundauffassung, daß die soziale Revolution nicht gegen den Willen der Mehrheit des Volkes erfolgen dürfte. Es war ein lebendiges Bewußtsein davon vorhanden, dass ein untrennbarer Zusammenhang bestand zwischen dem Ziel und den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen. Ziel und Mittel mußten miteinander vereinbar bleiben; sonst würden die Mittel das Ziel zerstören und schließlich an die Stelle des Ziels treten. (14) Die ständigen Appelle zu Organisation und Propaganda und die deutliche Ablehnung von Gewaltmaßnahmen sind daher nicht Ausdruck ohnmächtiger Resignation gewesen, sondern bewußte Wiederholung eines anarchistischen Grundpostulats.
Der Höhepunkt dieser legalistischen Taktik fiel mit der schärfsten Verfolgung zusammen, der sich die Anarchisten in jenen Jahrzehnten ausgesetzt sahen: Die Unterdrückung der organisierten Arbeiterbewegung nach den Prozessen der Mano Negra (1883) führte zur Krise und schließlich (1888) zur Auflösung der Federacion de Trabajadores de la Region Espanola (FTRE). Da die legalistische Taktik ergebnislos geblieben war und in einem vollständigen Fiasko geendet hatte, gewannen in den 1880er Jahren linksextreme Gruppen, die bereits in den Jahren der Illegalität gewaltsame Aktionen durchgeführt hatten und auch jetzt wieder für eine Radikalisierung der Kampfmethoden eintraten, relativ leicht an Boden innerhalb der Föderation. Schließlich setzte sich der „Illegalismus“ auf der ganzen Linie durch und leitete eine neue Phase in der Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung ein.
Versucht man nun, nach diesem knappen ereignisgeschichtlichen Überblick, das ideologische Grundmuster des Handelns anarchistischer Gruppen zu analysieren, so muß die Frage nach den Motiven für die legal-syndikalistische Taktik der FTRE-Führung Kataloniens einerseits, für die zahlreichen Streiks und Aufstände der agrar-anarchistischen Gruppen Andalusiens andererseits zu der allgemeineren Frage nach den Gründen für die außergewöhnliche Durchsetzung des Anarchismus in Spanien erweitert werden. In der einschlägigen Literatur der letzten Jahrzehnte sind auf letztere Frage mehrere Teilantworten gegeben worden, die eine Annäherung an den komplexen Forschungsgegenstand „spanischer Anarchismus“ ermöglichen. Dabei gilt das erst kürzlich beklagte begriffliche und sozialgeschichtliche Defizit der Anarchismusforschung, die sich durch Mangel einerseits an definitorischer Begrifflichkeit, andererseits an einer historisch-systematischen Eingrenzung des Phänomens „Anarchismus“ auszeichnet und durch das Fehlen von Erklärungsmodellen zur Entstehung und Geschichte des Anarchismus dessen Theorielosigkeit (15) reproduziert, für den spanischen Fall nur im umgekehrten Sinne: Die vielfach wiederholten Versuche, den iberischen Anarchismus monokausal zu erklären, haben zu den verschiedenartigsten, sich gegenseitig ergänzenden, mitunter jedoch auch aufhebenden Interpretationsansätzen geführt.
Eine der geläufigsten Erklärungen führt die anarchistische Mobilisierung auf den Millenarismus der Bewegung zurück. Constancio Bernaldo de Quiros (16) hat als einer der ersten spanischen Anarchismus-Forscher diesen als säkularisierte Religion bezeichnet, die auf dem apokalyptischen Glauben an eine Gesellschaft der Gleichheit beruhe. Als 1929 Juan Diaz del Moral seine bis heute grundlegende Studie über die Bauernbewegungen in der Provinz Cordoba veröffentlichte (17), konnte er sich auf die Theorien Bernaldo de Quiros' stützen. Die Periodizität anarchistischer Rebellionen und die heftigen Leidenschaften, die während der Aufstände zutage traten, haben bei Diaz del Moral zu einer soziopsychologischen Erklärung des spanischen Anarchismus geführt. Er unterstellte dem Anarchismus, wie auch anderen religiösen prä-modernen Bewegungen, eine eher magische als rational-wissenschaftliche Vorstellung der Zeit und der historischen Entwicklung. Die in Zehnjahresabständen periodisch sich wiederholenden Aufstände der Anarchisten (1873: kantonalistischer Aufstand; 1883: Erntestreik in der Provinz Cadiz; 1892: Rebellion von Jerez de la Frontera; 1902/03: Vestandalusischer Generalstreik der Faßbinder, Land- und Textilarbeiter) schienen seine These zu bestätigen.
Gerald Brenan hat in seiner meisterhaften Analyse der soziopolitischen Hintergründe des Spanischen Bürgerkrieges an die Ergebnisse von Bernaldo de Quiros und Diaz del Moral angeknüpft.(18) Die Radikalität des andalusisch Anarchismus entspreche dem spanischen Temperament, und spanischer Individualismus und Stolz seien der beste Nährboden für eine Doktrin gewesen, „die noch extremer als der Protestantismus jeden einzelnen für sein Tun verantwortlich macht.“ (19) Der Anarchismus als dynamische Massenbewegung mit sozialrevolutionärem Impetus sei in Spanien auf „eine emotionale Basis in einem traditionellen Lebensgefühl“ gestoßen, das er nur zu stimulieren brauchte. (20) Die beispiellose Vitalität des spanischen Anarchismus müsse auf seine Verwurzelung in der Mentalität des einfachen Volkes zurückgeführt werden; das Zusammentreffen eines leidenschaftlichen Individualismus mit einem nicht minder intensiven Gemeinschaftsbewußtsein sei zu dem sozialrevolutionären Idealismus verschmolzen, der die „Hispanität“ des Anarchismus ausmache.
Der völkerpsychologische Interpretationsansatz mit seiner romantisierenden Betrachtung und Mystifizierung der spanischen Seele hat im Gefolge von Gerald Brenan und später Franz Borkenau (21) Schule gemacht. Brenan führt den Massenerfolg der Anarchisten auf deren stark idealistischen, religiös-moralischen Charakter zurück; er erklärt den spanischen Anarchismus als eine „religiöse Häresie“, die den sozialen Inhalt des Evangeliums ernst genommen und als „Ausdruck von Klassenbewusstsein“ interpretiert habe (22). Die durch den Rückgang des religiösen Einflusses auf die Arbeiter während des 19. Jahrhunderts entstandene Lücke sei durch den Anarchismus ausgefüllt worden; die neue Welt sollte ausschließlich auf moralischen Prinzipien basieren.
Bereits Brenan weist in seiner Untersuchung darauf hin, daß der anarchistische Widerstand gegen die Normen der liberal-kapitalistischen Industriegesellschaft komplementär zu dem Bestreben gesehen werden muß, jene vorkapitalistisch-agrarischen Verhältnisse wiederherzustellen, die ihren historischen Ausdruck bis zur desamortizacion des 19. Jahrhunderts, lokal auch darüber hinaus, im kollektivistischen Kommunalismus gefunden haben. Die Anarchisten wandten sich – von der Grundeinheit des überschaubaren pueblo ausgehend - gegen die Macht für sie unbegreiflicher und unkontrollierbarer ökonomischer Kräfte sowie gegen die einschneidenden Rechtsveränderungen und technisch-industriellen Neuerungen des 19. Jahrhunderts, die für viele landlose Arbeiter und Handwerker Südspaniens eine Gefährdung ihrer Existenz bedeuteten. Auf Brenans Untersuchung aufbauend, hat Eric Hobsbawm (23) darauf hingewiesen, daß der südspanische Agrar- und Handwerkeranarchismus (als lokaler und endemischer spontanrevolutionärer Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung einerseits gegen die Folgen der neueingeführten kapitalistischen Rechts- und Sozialverhältnisse andererseits) in seiner Frühphase eine „archaische Sozialbewegung“ quasi ohne Organisation in Form kollektiven Widerstands gegen den Einbruch neuer, für die landlosen Massen ungünstigerer Lebensbedingungen darstellte. Die anarchistischen Revolten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren demnach der Versuch, den durch die Veräußerung des Kirchen- und Kommunallandes („Desamortisation“) und deren Begleiterscheinungen - Aufhebung der Zünfte und Zunftordnungen, der Bruderschaften, Gilden und Hilfsorganisationen, der Sozial- und Heilfürsorge, der Getreidemagazine und Hospitäler der Feld-, Flur- und Waldgemeinschaften - abhandengekommenen „Agrarkollektivismus“ (24) wiederherzustellen. Außer dem Wegfall des Flurzwanges „sind mit dem Einbruch des Besitzindividualismus auf gemeinschaftlich-genossenschaftliche Einrichtungen und das Zusammenleben in der dörflichen Gemeinde regelnde Mechanismen und Ordnungen zerstört bzw. ausgehöhlt worden“ (25) wodurch im rebellierenden Agrarproletariat Andalusiens der von der spanischen Sektion der Internationale aufgegriffene Gedanke an reparto (Landaufteilung) um sich griff und zu chiliastisch-anarchistischen Bewegungen führte. In diesem Zusammenhang interpretiert Hobsbawm die „messianischen“ Streiks deren einziges Ziel die Schaffung eines sofortigen und grundsätzlichen Wandels war, als Massenbewegung (deren Vorteil in der spontanen Einmütigkeit des Handelns, deren Nachteil aber im Mangel an Organisation, Strategie, Taktik und Geduld bestand) und als bäuerlich-revolutionäre Haltung, die zwar Produkt moderner Bedingungen war, sich diesen aber nicht anpassen konnte.
Da die Liberalisierung des Eigentumsrechts und die Durchsetzung kapitalistischer Rechtsverhältnisse nicht nur zur Verschärfung des Agrarproblems führten, sondern auch viele Handwerker weitgehend ihrer Existenzgrundlage beraubten - Andalusien machte im 19. Jahrhundert einen Prozeß der Entindustrialisierung durch, da es Konkurrenten aus dem Norden des Landes und aus dem Ausland nicht fernhalten konnte -, erscheint es einleuchtend, daß die lokalen Führer anarchistischer Revolten oft gerade Handwerker waren; sie trugen auch als obreres conscientes (bewußte Arbeiter) wesentlich zur Propagierung anarchistischer Ideen unter den analphabetischen Landarbeitern bei.
Die sozialstrukturellen Merkmale der Teilnehmer an dem 1861 unter der Organisation des Tierarztes und Hufschmieds Ramon Perez del Alamo stattfindenden Aufstand in Loja (Provinz Granada) deuten bereits auf die Sozialstruktur der späteren anarchistischen Bewegung voraus. Die Rebellion (26) wurde zwar hauptsächlich von analphabetischen Lohnarbeitern, in geringerem Umfang auch landwirtschaftlichen Facharbeitern (peritos agricolas) getragen; die Führer des Aufstandes aber waren Vertreter der unteren Mittelschicht, die einen weit höheren politischen Bewußtseinsgrad als die Masse der um ihren physischen Lebensunterhalt kämpfenden Landarbeiter aufwiesen. Sowohl die Klassenzugehörigkeit und der politische Bewußtseinsstand der Führer als auch die verschiedenen Ziele (27) der am Aufstand Beteiligten lassen die Ambivalenz dessen erkennen, was bereits ein Jahrzehnt später als Handwerker- und Agraranarchismus ein Charakteristikum Andalusiens darstellte.
Im Gegensatz zu den millenaristischen Deutungen der bisherigen Forschung (Constancio Bernaldo de Quiros, Diaz del Moral, Gerald Brenan, Eric Hobsbawm u. a.) setzte sich neuerdings ein Interpretationsansatz durch, der in den zahlreichen anarchistischen Streiks keine irrational-millenaristische Handlungsweise, sondern eine durchaus rationale Strategie der libertären Bewegung sieht. Dieser neue interpretatorische Ansatz wird vor allem von Temma Kaplan vertreten (28), die zwar auch von den Untersuchungen Hobsbawms, Brenans und des Sozialanthropologen Pitt-Rivers ausgeht, deren Forschungsinteresse sich jedoch auf die Frage konzentriert, unter welchen Bedingungen die anarchistische Ideologie und Strategie sich entwickelten und schließlich zu einer Volksbewegung wurden. Kaplan beschränkt ihre Studie auf die Weinbauprovinz Cadiz; sie weist nach, daß infolge exogener (vor allem wirtschaftlicher, handels- und steuerpolitischer) Hindernisse das auf Jerez („Sherry“-)Handel spezialisierte Kleinbürgertum und die von sozialem Abstieg bedrohten Handwerker und Facharbeiter der Provinz in den 1860er Jahren eine populistische Allianz mit dem Agrarproletariat eingingen und in den latifundistischen Getreideproduzenten, der bourbonischen Monarchie und dem zentralistischen Staatsapparat ihre gemeinsamen Gegner sahen. Der Anarchismus war keineswegs eine Bewegung von ausschließlich „armen“ Landarbeitern. Der drohende Verlust an Autonomie, die Mechanisierung der Fässerherstellung, der drastische Exportrückgang an guten Jerez-Weinen sowie der ungehinderte Zustrom aller Arten von Gütern trugen zum Niedergang der bis dahin unabhängigen und relativ wohlhabenden Handwerker bei. Die Situation der Weinbauern und kleinen Händler verschlechterte sich infolge der Steuerpolitik der Regierung, die einseitig die latifundistische Agrarbourgeoisie begünstigte und den Wein mit Luxussteuern und städtischen Sonderabgaben, den sog. consumos, belastete. Die breite Masse der Landarbeiter schließlich wurde durch diese Politik ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, da einerseits infolge des Handelsrückgangs die Zahl an Arbeitsplätzen verringert werden mußte - wodurch das endemische Problem der Arbeitslosigkeit noch vergrößert wurde -, andererseits die Spezial-Weinsteuern eine allgemeine Erhöhung der Lebenshaltungskosten nach sich zogen.
Gerade zum Zeitpunkt der „Kapitalisierung“ der Agrarverhältnisse an der Umbruchstelle von feudaler zu bürgerlicher Gesellschaft drangen die anarchistischen Lehren in Spanien ein (29) und stellten eine komplexe Verbindung zwischen dem Bestreben nach mündiger (Berufs)Autonomie und Selbstbestimmung in „freien Kommunen“ mit den institutionellen Herausforderungen von Urbanisierung und Industrialisierung her. Die Anarchisten artikulierten ein tiefes Unbehagen der breiten Masse der Bevölkerung am sozialen Status quo und brauchten sich nicht - wie in vielen anderen Ländern - „gegen alle nationalen Traditionen“ zu stellen. „In Spanien war der Anarchismus gerade ein Ausdruck föderalistischers und freiheitlicher Traditionen, die dem ganzen Volk gemein waren“. (30) Zweifellos kamen die anarchistischen Theorien gesellschaftlicher Organisation, „based on the primacy of the local unit, which is also, in the Anarchist view, the natural unit“ (31), spanischem Lebensgefühl und „Patria chica“ - Tradition entgegen. Die Idee des föderalistischen Staates wurde mit der der sozialen Revolution verknüpft.
Die weitgehende Zerstörung genossenschaftlicher Tradition durch den Einbruch kapitalistischer Wirtschaftsformen und zentralistischer modernstaatlicher Tendenzen in die historisch gewachsenen Lebensformen wenig entwickelter Landstriche in der Mitte des 19. Jahrhunderts führte zur Forderung nach Dezentralisierung und Selbstverwaltung. Zu dieser gleichsam bodenständigen Form des kommunalistischen Denkens in historischen Kategorien des autonomen pueblo kam der Anarchismus als „ideologischer Verstärker“ hinzu, so daß auch im spanischen Anarchismus das Phänomen der „Schichtenverdickung“ auftrat (32).
Die anarchistische Bewegung stellte die Antwort auf das Eindringen bürokratisierter und zentralisierter Verwaltungsformen in das pueblo dar, dessen sozialer Hintergrund die Bewegung beträchtlich beeinflußte. Der Widerstand gegen zentralisierte Fremdbestimmung und Aufhebung der kommunalen und beruflichen Autonomie im pueblo-Bereich hat die verschiedenen sozialen Schichten zu jener populistischen Allianz zwischen Arbeitern, Handwerkern und Kleinhändlern geführt, die die Eigenart des andalusischen Anarchismus ausmacht.
Nicht nur die populistische Allianz entsprang rationalen Überlegungen der pueblo-Bewohner, sondern auch deren kollektive Maßnahmen. In Zeiten größter Not konnte die mächtige Waffe des Erntestreiks nicht angewandt werden; in solchen Hungerjahren wurden besonders häufig individuelle Gewalt- und Terrorakte (Diebstahl, Mord, Brandschatzung etc.) verübt. In guten Jahren jedoch, in denen der Bedarf an Erntearbeitern zunahm, hatten diese bedeutend bessere Chancen, ihre Interessen durch einen „Generalstreik“ durchzusetzen. Die Wahrnehmung dieser Chancen in Form organisierter Streiks stellte eine durchaus rationale Strategie der „direkten Aktion“ dar, durch die die Landarbeiter ihr Ziel einer Veränderung der sozialen Beziehungen deutlich manifestierten. Die periodischen Aufstände andalusischer Anarchisten scheinen vor allem zu Zeiten relativen Wohlergehens bzw. guter Ernten erfolgt zu sein, als die organisierten Arbeiter ihr Potential ausspielen konnten. Sicherlich lag vielen dieser Gewaltausbrüche eine gezielte Proteststrategie zugrunde, wenn auch andererseits dem intentionalen Moment kein Ausschließlichkeitsanspruch zukommt. (33)
Der „rationale“ Erklärungsansatz für die andalusischen Landarbeiterstreiks als bewußte Strategien kollektiven Sozialprotests verallgemeinert weit weniger als die „millenaristische“ Interpretationsrichtung. Er kann die soziale Basis der jeweiligen Protestaktionen in die Analyse mit einbeziehen und deutet die Streiks als überlegte Reaktionen genau bestimmbarer sozialer Gruppen auf konkrete sozio-ökonomische Situationen. Allerdings dürfte auch dieser Ansatz nicht generalisierbar sein; seine Tragfähigkeit werden zukünftige Lokal- und Regionalstudien erweisen müssen. Daß in kollektiven wie individuellen Protestaktionen andalusischer Anarchisten millenaristische Elemente enthalten blieben, hängt mit einer Struktur- und Strategieproblematik der libertären Bewegung zusammen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Spaltung des Anarchismus in zwei sich ideologisch bekämpfende Lager führte: Gemeint ist die Auseinandersetzung zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten.
III.
Seit dem Aufkommen der anarchistischen Bewegung in Spanien bestand parallel zur Legalismus-Strategie der FRE eine vor allem im andalusischen Proletariat verwurzelte Bereitschaft zur Gewaltanwendung. In den 1870er Jahren war es während des Verbots der Internationale in deren Reihen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der katalanischen Führungsgruppe, die legalistisch und syndikalistisch orientiert war, und den andalusischen Vertretern gekommen, die sich für „revolutionäre Aktionen“ (34) aussprachen; diese Auseinandersetzungen gipfelten nach der Wiederzulassung der Internationale in einer Krise der Organisation, die sich Institutionen im Übergang von der Federacion Regional Espanlia zur Federacion de Trabajadores de la Region Espanola (FTRE) niederschlug. Den Sieg trugen ganz klar die Vertreter des Legalismus davon; revolutionäre Aufstände wurden aus dem „offiziellen“ Strategie-Repertoire der Anarchisten gestrichen, wenn auch in einigen Sektionen der organisierten Arbeiterschaft - vor allem in Westandalusien - die nie völlig erloschene Neigung zur Gewalt anhielt.
Der legal-reformistische Kurs der FTRE-Führung nach 1881 wurde jedoch von den Behörden nicht in der erhofften Weise honoriert, was zweifellos damit zusammenhing, daß er sich in der eigenen Organisation, vor allem im Süden, nicht durchsetzen konnte. Bereits seit Mitte der 1870er Jahre agitierten nämlich - wie oben angedeutet - sog. anarchistische „Aktionsgruppen“ als „Kriegseinheiten“ (unidades de guerra) gegen die Herrschaft des Bürgertums. 1873/74 hatten die einflußreichen andalusischen Anarchisten Farga Pellicer und Garcia Vinas anläßlich des Kongresses von Genf Michail Bakunin in der Schweiz aufgesucht und von diesem wahrscheinlich die Aufforderung zur Gewaltanwendung
erhalten. Auch die Nachrichten über Gewaltmaßnahmen im Ausland sowie die Ergebnisse der Diskussionen auf dem Londoner Kongreß der „Schwarzen Internationale“ 1881 blieben in Spanien nicht wirkungslos. Schließlich hatten „Links“-Abweichler, die mit dem offiziellen Appeasement-Kurs der FTRE- Führung nicht einverstanden waren, zu Beginn der 1880er Jahre eine eigene Oppositions-Organisation - Los Desheredados („Die Enterbten“) - gegründet, die terroristische Methoden als legitime Mittel im Kampf gegen Staat und Kapital betrachtete (35).
Die anhaltenden Gewaltakte oder -drohungen dieser Gruppierungen dienten nun der Regierung als willkommener Vorwand, um die gesamte Arbeiterbewegung - auch nach ihrer organisatorisch-institutionellen Wiederzulassung - auf das schärfste zu verfolgen. Zwischen terroristischen Untergrundgruppen und den legalen Organisationen der Arbeiterschaft - wie etwa der andalusischen Union de Trabajadores del Campo (UTC) - wurde kein Unterschied gemacht. Einige Morde an der Jahreswende 1882/83 waren der Anlaß, um massiv gegen die Arbeiter vorzugehen. Bereits die Lektüre einer (legal vertriebenen) anarchistischen Zeitung reichte aus, um als „Mitglied“ einer terroristischen Bande verurteilt werden zu können. Jeder ungeklärte Todesfall, jeder Schaden irgendwelcher Art wurde automatisch der FTRE oder einer ihrer Teilorganisationen angelastet. Allein die reformistische Forderung der Arbeiterorganisation nach kollektiven Verträgen wurde von den Arbeitgebern und den staatlichen Behörden zumeist als revolutionärer Akt betrachtet und entsprechend geahndet.
Der Hunger und die Arbeitslosigkeit des landlosen Proletariats, die blinde Wut über den institutionellen Terror lokaler Behörden, über die Ermordung angeblicher Rädelsführer und die Enttäuschung über die soziopolitische Entwicklung erzeugten innerhalb der spanischen Arbeiterschaft ein spannungsgeladenes Klima der Gewalt. Der anarchistische Terror wird nur in diesem gewalttätigen gesellschaftlichen Kontext verständlich, aus dem heraus er erwuchs. Er gehört auch zu den Grundmerkmalen eines der anarchistischen Rechtfertigungsmuster für Gewaltanwendung, das darauf hinweist, daß die bürgerliche Gesellschaft selbst auf Gewalt gründet. Alle in dieser Gesellschaft vorkommenden Gewaltformen hängen vom Grundprinzip der Autorität - die selbst eine Form von Gewalt ist - ab; die gesellschaftliche Organisation des bürgerlichen Staates erzeugt Klassen- und Rassenhaß, Armut, Ungerechtigkeit, Despotie und folglich auch Violenz. Aus diesen Gründen wird die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft als „Kriegszustand“ interpretiert, und dieser gewalttätige Zustand rechtfertigt die Anwendung von Gewalt, die - da unter Kriegsverhältnissen angewandt – lediglich Verteidigungszwecken diene. Die herrschenden Gewaltverhältnisse erzwingen somit die Anwendung von Gegengewalt. Die anhaltenden Repressionsmaßnahmen gegenüber der FTRE sowie der Fehlschlag der Streikstrategie führten ab 1883 zur Radikalisierung der Internationale, zur Einflußzunahme der extremistischen Gruppierungen sowie zu den ersten Erscheinungen dessen, was später als die Phase terroristischer Attentate bezeichnet wurde. Die internationalistischen Presseorgane - Revista Social, El Eco de Ravachol, El Grito del Pueblo, Acracia, La Cuestion Social u. v. a. - forderten immer häufiger zu Gewaltmaßnahmen auf und richteten z. T. - wie etwa La Revolucion Social - eigene Sparten für die „Propaganda durch die Tat“ ein. Unter dieser verstanden die Anarchisten damals „mit Schrift, Wort und Tat gegen das Eigentum, die Regierung und die Religion einzutreten; den Geist der Rebellion in den proletarischen Massen zu erwecken; ... alle Gelegenheiten, alle wirtschaftlichen und politischen Ereignisse auszunutzen, um das Volk dazu zu bringen, gegen das Eigentum vorzugehen und sich dessen zu bemächtigen, die Behörden zu beleidigen und zu verachten und das Gesetz zu brechen ...; alle dazu aufzustacheln, sich von den Bürgerlichen das zu nehmen, was sie nötig haben, und all das in die Tat umzusetzen, was ihnen das Gefühl für die eigenen Rechte, für Gerechtigkeit und Solidarität den anderen gegenüber eingibt.“ (36)
Neben physischer Gewaltanwendung wurden unter „Propaganda durch die Tat“ auch alle Formen des zivilen Ungehorsams, militärische Desertion, Mietzahlungsverweigerung, Überfälle und Diebstähle etc. verstanden. Die Diskussion über die angemessene Strategie der Arbeiterbewegung wurde zu Beginn der 1880er Jahre von zwei weiteren Problemkomplexen überlagert und verschärft: zumeinen die Auseinandersetzung zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten, zum anderen das Verhältnis der Arbeiterföderation zur Geheimgesellschaft Mano Negra.
Die bereits auf dem Jurakongreß von La Chaux-de-Fonds (1880) entbrannte Diskussion zwischen Bakuninschen Anarchokollektivisten und Kropotkinschen Anarchokommunisten fand ihre spanische Fortsetzung auf dem zweiten Nationalkongreß der FTRE in Sevilla (1882) und ließ eine deutliche Spaltung der libertären Bewegung in einen eher reformistisch-syndikalistischen und einen eher kommunalistisch-terroristischen Flügel erkennen. Die FTRE-Führung, die ihren Sitz in Barcelona hatte und sich mehrheitlich aus nordspanischen Delegierten zusammensetzte, bestand für die gesamtstaatliche Arbeiterorganisation auf einem kollektivistischen Kurs, dessen Ziel das gemeinsame Eigentum an den
Produktions-, Kommunikations- und Transportmitteln sowie die syndikalistische Kontrolle über den selbsterwirtschafteten Arbeitsertrag war. Diese Vorstellung, daß das Verfügungsrecht über den erwirtschafteten Reichtum nicht der Gesamtgesellschaft, sondern nur den jeweils zu Syndikaten zusammengeschlossenen Produzenten zustand, konnte die vor allem im industrialisierten Katalonien beheimateten Fabrikarbeiter, die zu Syndikaten und Berufsvereinen zusammengeschlossenen Facharbeiter sowie die mittelständischen Bauern der Nordregionen ansprechen; sie stieß jedoch auf den erbitterten Widerstand der zahlreichen andalusischen Saisonarbeiter, der vielen Arbeitslosen und der nur zu Erntezeiten eingesetzten Frauen, die sich unter Rückgriff auf kommunalistische Traditionen am pueblo als der natürlichen Einheit ihrer gesamten Existenz orientierten.
Während die Kollektivisten den Syndikalismus, die Massenbewegung, den Generalstreik und einen gewissen Grad an Zentralisierung vertraten, um einen gesellschaftlichen Zustand zu erreichen, in dem nur die Produktionsmittel kollektiviert und jeder Arbeiter entsprechend seinen Leistungen entlohnt werden sollte, lehnten die Kommunisten jegliche Organisation ab, priesen die Form der autonomen Gruppe, der individuellen revolutionären Tat und des Terrorismus und strebten eine Gesellschaftsform an, in der es keinen Privatbesitz an Konsumgütern mehr gäbe, jeder nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten hätte und entsprechend seinen Bedürfnissen entlohnt werden sollte. Die Auseinandersetzung zwischen Kollektivisten und Kommunisten war im Grunde ein Streit zwischen katalanischen und andalusischen Anarchisten. Allerdings ist hier eine Präzisierung erforderlich, da die ideologischen Fronten auch mitten durch die Reihen der andalusischen Anarchisten liefen. Für die Provinz Cadiz hat Temma Kaplan nachgewiesen, daß die wirtschaftliche Depression der 1860er Jahre Handwerker, Weinbauern, Kleinbesitzer und (Fach-)Arbeiter zwang, sich organisatorisch zusammenzuschließen. Die von sozialer Deklassierung Bedrohten griffen auf alte Assoziationsmodelle zurück und gründeten Kooperativen, Schutzgemeinschaften und Syndikate. Um das Jahr 1870 gab es allein in Jerez ca. 50 verschiedene Gesellschaften dieser Art, deren Protest- und Streikaktionen koordiniert und solidarisch verliefen. Diese uniones oder secciones de oficio bildeten die Grundstruktur des andalusischen Anarchismus. Dabei versuchten die Anarchisten, in diesen Organen Kleinproduzenten mit Lohnabhängigen, Bauern mit Agrarproletariern, Facharbeiter mit Hilfsarbeitern in einer populistischen Allianz zusammenzufassen. In der 1872 gegründeten Union de Trabajadores del Campo etwa waren - entgegen ihrer Bezeichnung - neben landlosen Tagelöhnern und selbständigen Kleinbauern auch Bäcker, Faßbinder und Fuhrleute zusammengeschlossen. Hier gelang es den Anarchisten, ihre Bewegung mit dem militanten Syndikalismus - auch wenn dieser Ausdruck von den Zeitgenossen noch nicht verwendet wurde - und der traditionellen Arbeiterkultur zu verbinden; auf diese Weise konnte die Bewegung nicht nur die langen Perioden der Illegalität überstehen, sondern außerdem einen starken numerischen Zustrom erfahren. Diese uniones erstrebten nicht so sehr wirtschaftliche Reformen zur Besserstellung der Arbeiterklasse als vielmehr die Zerstörung des Kapitalismus und die Vernichtung der Bourgeoisie; ihre Strategie bestand nicht in reformistischen Streiks, sondern in der organisatorischen und agitatorisch-propagandistischen Vorbereitung des endgültigen Umsturzes, der sozialen Revolution.
In den Reihen andalusischer Anarchisten kam es nun auch zwischen diesen in uniones syndikalistisch organisierten Arbeitern und den sich zu Geheimzellen zusammenschließenden Agrarproletariern zu erheblichen Spannungen. Erstere favorisierten deutlich die anarchokollektivistische Linie, während letztere, die am Rande des Existenzminimums dahinvegetierten, sich aus verständlichen Gründen nicht an einem bestimmten Berufszweig, sondern an der Gesamtkommune orientierten. Als die Anarchokommunisten auf dem Sevilla-Kongreß ihre Linie nicht durchsetzen konnten, spaltete sich eine Gruppe ab, die sich für die Autonomie der Kommune und die Sozialisierung von Produktion und Konsum einsetzte.
Die ideologischen Differenzen zwischen Kollektivisten und Kommunisten schlugen sich unmittelbar auf die Strategie der Bewegung nieder. Während die Kollektivisten jegliche Form von physischer Violenz ablehnten, da sie repressive Maßnahmen der Regierung und ein erneutes Verbot der Arbeitervereinigungen befürchteten, sprachen sich die kommunistischen Verteidiger des Terrorismus für Gewaltmaßnahmen gegen die großen Landeigentümer und andere Vertreter des Ausbeutungssystems aus. Auf dem Kongreß wurde in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß es in Andalusien 30 000 Arbeitslose gab, die nichts außer ihrer Armut zu verlieren hätten; 14 000 davon seien Anarchisten. Die radikale Gruppe, die sich von der FTRE-Dachorganisation abspaltete, hielt mehrere „Kongresse der Enterbten“ ab und schloß sich möglicherweise mit bereits bestehenden terroristischen Geheimgesellschaften zusammen.
Während somit die von den syndikalistisch organisierten Arbeitern Kataloniens bewirkte Abwendung von der terroristischen, auf Gewaltaktionen beruhenden Methode zur „offiziellen“ FTRE-Strategie wurde, widersetzten sich die andalusischen Befürworter des Anarchokommunismus dem Legalismus-Kurs der Organisation und schürten durch Aktionen terroristischer Landgruppen die Glut des agrarischen Anarchismus. In den folgenden Jahren trennte sich der Anarchismus des Südens weitgehend von der Arbeiterbewegung, verkümmerte zu Sektierertum und verlor sich im Aktivismus von Minderheiten.
Gegenüber „instrumentellen“ Rechtfertigungsmustern der Gewalt, die bis zu einem gewissen Grade aus der gesellschaftlichen Lage der Anarchisten erklärt werden können, erscheint die nun einsetzende Form des individuellen Terrors weitgehend losgelöst von der soziopolitischen Situation der Akteure. Ein irrationaler Kult der Gewalt läßt diese nicht als Mittel zur Erreichung eines moralisch vertretbaren Ziels erscheinen, sondern als Aktionsform, deren Wert in ihr selbst liegt. Violenz hört auf, eine rationale Strategie zu sein, und degeneriert zu Aktionismus.
Neben Andalusien war es vor allem Barcelona, wo in den beiden Jahrzehnten, die auf die kollektivistisch-kommunistische Auseinandersetzung folgten, der individuelle Terror um sich griff. Hier wurde der anarchistische Terrorismus jener Jahre zur Praxis einzelner Revoltes in einer nichtrevolutionären Situation und kettete im Bewußtsein der Bevölkerung - bis heute - die Begriffe Terrorismus und Anarchismus aneinander (37). Den Auftakt zu dieser gewalttätigen Phase anarchistischer Attentate und polizeilicher Repressionen bildeten der Landarbeiteraufstand von Jerez (1892) und die darauf folgenden außergewöhnlich harten Repressionsmaßnahmen der Regierung; als Rache für die Hinrichtungen von Jerez erfolgte 1893 das Attentat von Paulino Pallas auf General Martinez Campos; um Pallas' Hinrichtung zu rächen, warf Santiago Salvador zwei Bomben in das vollbesetzte „Liceo“-Theater von Barcelona. Als Reaktion auf diese Attentate wurden 1894 und 1896 zwei „Gesetze zur Unterdrückung des Terrorismus“ verabschiedet und ein neues Polizeikorps, die berüchtigte brigada politico-social, geschaffen. 1896 warf ein Unbekannter in Barcelona eine Bombe auf die Fronleichnamsprozession. Die rund 400 festgenommenen Anarchisten wurden im Festungsgefängnis von Montjuich grausam gefoltert, was in Spanien selbst und vor allem im Ausland heftige Proteste auslöste. Die vorerst letzte im Zusammenhang mit dem Montjuich-Prozeß stehende Handlung war 1897 die Ermordung des Regierungschefs Antonio Cinovas del Castillo durch den aufgebrachten italienischen Anarchisten Michele Angiolillo.
Dieser ersten Phase massierter terroristischer Gewaltaktionen (1893-1897) folgte wenige Jahre später eine zweite Phase (1904-1906) nicht minder spektakulärer individueller Violenz: Das Attentat von Joaqum Miguel Artal auf Regierungschef Antonio Maura (1904), die von anonymen Terroristen 1905 in Barcelona auf den Ramblas de las Flores gezündeten Bomben und der Attentatsversuch von Mateo Morral auf König Alphons XIII. am Tage von dessen Hochzeit.
Die Intentionalität dieser Erscheinungsformen vornehmlich kommunikativer Gewalt läßt sich nur schwer festlegen. Sie mögen als Warnsignal oder Appell, in einem eher instrumentellen Sinne auch als exemplarische Bestrafung repräsentativer Vertreter (König, Regierungschef etc.) oder Erscheinungsformen (Theater, Kirche etc.) des Systems angelegt gewesen sein. In der Regel sollte wohl mittels Anwendung physischen Zwangs durch Vertreter sozial unterprivilegierter Schichten auf deren gesellschaftliche Benachteiligung hingewiesen werden. Aus der Sicht dieser Anarchisten war die zeitgenössische Gesellschaft völlig ungerecht strukturiert; durch seine Protestaktionen wollte der Anarchist auf den herrschenden Unrechtszustand hinweisen. Die damaligen anarchistischen Texte zur Gewaltproblematik beginnen daher auch häufig mit einer akkusatorischen Deskription des sozialen Status quo, den es zu verändern gelte. Dabei waren sich die Anarchisten völlig darüber im klaren, daß sie durch Eliminierung einiger Vertreter des von ihnen bekämpften Systems dieses selbst in keiner Weise ändern würden. Das Ziel ihrer terroristischen Anschläge bestand vielmehr darin, die Gesellschaft wachzurütteln, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die soziale Ungerechtigkeit zu lenken, der „Gesellschaft des Banditentums“ einen schweren Schlag zu versetzen.
Sicherlich stand jedoch die Arbeiterbewegung Barcelonas nicht in toto hinter diesen Attentaten. In den Jahren um die Jahrhundertwende „the anarchists concerned themselves primarily with the working-class struggle and the creation of unions, rather than with the throwing of bombs” (38). Joaquin Romero Maura hat die sozialpsychologische Situation der Bombenwerfer charakterisiert (39): „The Situation in which the Barcelona anarchists found themselves at this time was almost bound to generate the kind of lunatic fringe terrorism we have seen. Vithout the support of the workers, the movement was reduced to a nucleus of militant veterans (like Herreros, Basons, Castellote, Lorenzo, Prat, Ferrer) and a pleiad of young unknowns, many of them without professions, pedantic, jacobinical, enamoured of intolerance, men who preferred Nietzsche to Tolstoy ...”
Der Kampf zwischen kollektivistischem Anarchismus und aufständischem Anarchokommunismus endete erst Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Kompromiß, der den Bakuninismus als Grundlage des Klassenkampfes und der Arbeiterorganisation und den „freiheitlichen Kommunismus“ als Endziel im revolutionären Syndikalismus vereinigte, dessen Prinzipien eine willkommene Lösung der Diskrepanz zwischen der Praxis des revolutionär-anarchistischen Flügels der spanischen Arbeiterbewegung und der Notwendigkeit, sich ein Organ für kollektive Aktionen zu schaffen, darstellten.
In gewisser Weise könnte man - unter Anwendung der Typologie von Charles Tilly - bei den Anarchokommunisten von einer eher „primitiv“-kommunalen, bei den Anarchokollektivisten von einer „modern“-verbandsmäßigen Form kollektiver Gewalt sprechen und im Wechsel der Organisationsform der Gewalt das Kriterium ihres geschichtlichen Wandels erblicken. (40) Oder anders ausgedrückt: An der Diskussion zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten läßt sich deutlich die Interdependenz von veränderter Produktionsweise, Qualifizierungsprozessen der Arbeiterschaft und ihrem differenzierten Organisations- und Strategieverhalten aufzeigen: Während die (anarchokollektivistischen) Industriearbeiter und qualifizierten Agrararbeiter sich bereits syndikalistisch organisiert hatten, daher kollektive Pressionen in Form von Streiks ausüben konnten und eine insgesamt rationale Kampfstrategie verfolgten, verfügten die (anarchokommunistischen) Landarbeiter über keine solide Organisationsstruktur und waren in ihrer subjektiven Überzeugung voneinander isolierte Einzelkämpfer, deren einzige Waffe - da Kollektivmaßnahmen nicht in Frage kamen - individuelle Terrorakte waren.
Die zur Analyse der lokalen Agraraufstände Andalusiens in der Literatur häufig verwendete Bezeichnung „irrationale Gewalt“ erscheint problematisch, insofern unter „irrationaler“ Gewalt die Entladung von Aggressionen ohne erkennbaren Zweck - im Gegensatz zur „rationalen“ Gewaltanwendung als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele - verstanden wird. Hier ließe sich eher mit dem Begriff der „kommunikativen“ Gewalt operieren, die vor allem einen reformbedürftigen Sachverhalt ins öffentliche Bewußtsein rücken will und zugleich eine Appell- und Drohstrategie darstellt. Denn trotz der Spontaneität und Emotionalität aufrührerischer Gewalthandlungen andalusischer Anarchisten war deren Strategie bis zu einem gewissen Grade auch rational und vor allem selektiv. Andeutungsweise rational insofern, als sie zumindest eine ungefähre Vorstellung des von ihnen angestrebten herrschaftsfreien Endzustandes hatten; selektiv insofern, als sie vor allem - allerdings nicht ausschließlich - Personen und Objekte angriffen, die für sie in besonderem Maße das bestehende System der Ausbeutung und Repression symbolisierten. (41)
Als die internen FTRE-Auseinandersetzungen zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten noch in vollem Gange waren und die spanische Internationale sich vollends in zwei sich bekämpfende Blöcke zu spalten schien, wurden die Einheit und das Selbstverständnis der Organisation durch die „Mano-Negra-Prozesse“ erneut schwer belastet. Die Mano Negra war eine anarchistische Geheimorganisation, deren Wirkungsbereich vor allem die Provinzen Cadiz und Sevilla waren. Wahrscheinlich ist sie in den Jahren der Illegalität nach 1874 entstanden; sie stand wohl auch zumindest hinter einem Teil der täglichen Gewaltmaßnahmen im Süden, die sich gegen Ende der 1870er Jahre in atemberaubender Weise häuften. Brandstiftungen, Erntezerstörungen, Landbesetzungen, Streiks, Überfälle und Morde waren an der Tagesordnung; ein Ende des Gewaltklimas war nicht abzusehen. Die Situation der Landarbeiter wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Mißernten erhöhten die Arbeitslosigkeit und zwangen viele Tagelöhner zur Auswanderung, Brotpreiserhöhungen verhinderten die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und führten zu zahlreichen Fällen von Hungertod; spontane Ländbesetzungen hatten massive Repressionsmaßnahmen der Polizei zur Folge und steigerten den fatalen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt; Gefängnishaft und Hinrichtungen willkürlich gefangengenommener Arbeiter verschärften erneut die Spannung im Agrarproletariat und provozierten Vergeltungsmaßnahmen. Selbst die Comision Federal der FRE rief die Arbeiter zur offenen Gewaltanwendung auf; es sei Pflicht eines jeden Revolutionärs, sich gegen das Unrecht zu erheben und für die soziale Revolution zu kämpfen. Die illegal zusammentretenden Conferencias Comarcales sprachen sich 1880 einstimmig für bewaffnete Kämpfe und Repressalien als Mittel der Auseinandersetzung mit Staat und Kapital aus. (42)
1883 - zu diesem Zeitpunkt erreichte die Versorgungskrise ihren Höhepunkt - wurde die Öffentlichkeit durch eine Reihe von Verbrechen aufgeschreckt, die der ländlichen Geheimorganisation Mano Negra angelastet wurden. Die Behörden warfen dieser „geheimen Vereinigung von Entführern, Mördern und Brandstiftern“ vor, sie wolle die Regierung stürzen, den Staat zerstören und die landbesitzende Aristokratie Andalusiens eliminieren. Die Verfolgung einzelner Mörder diente der Regierung erneut - wie schon so oft - als Vorwand, um einen Vernichtungsfeldzug gegen die Internationale in Andalusien zu starten. Der Mano Negra wurde unterstellt, sie habe knapp 50 000 Mitglieder; zwischen Februar und März 1883 füllten sich die Gefängnisse mit Tausenden verhafteter Arbeiter. Für die Behörden stand es fest, daß die Mano Negra der Internationale (FTRE) angehörte. Diese jedoch beeilte sich, sofort jegliche Verbindung zwischen Mano Negra und FTRE zu leugnen; sie behauptete sogar, die Mano Negra sei eine Erfindung der Regierung, um die Arbeiterbewegung insgesamt unterdrücken zu können (43). Die starr abweisende Haltung der FTRE erklärt sich zum einen aus dem Bestreben, die (legal operierende) Internationale vor Repressalien und möglicherweise einem erneuten Verbot zu schützen, spiegelt andererseits eine tiefe Divergenz zwischen den Agrarinteressen des Südens und den Interessen der Industriearbeiter in den städtischen Zonen wider. Indem die Internationale sich mit Nachdruck von den „Dieben, Entführern und Mördern“ der Mono Negra distanzierte, trug sie zu deren Niederlage und Untergang bei. (44)
Die Terromaßnahmen der Mano Negra verstanden sich - dies belegen zahlreiche libertäre Quellen - in erheblichem Umfang als Repliken auf „strukturelle“ Gewalt bzw. als Reaktionen auf Repressionsmaßnahmen des Staates. Dabei fallen unter den Begriff der strukturellen Gewalt alle menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse (45). Die Reaktion auf repressive Maßnahmen der Behörden läßt erkennen, daß dem Staat das Monopol auf Gewaltanwendung abgesprochen wurde. Es steht fest, daß die staatlichen Sicherheitsorgane und die wirtschaftlich dominierende Schicht durch ihr Verhalten in großem Umfang zum Ausbruch und zur Eskalation der gewaltsamen Ausschreitungen beigetragen haben. Die Anwendung von Gewalt ist daher als interaktiver Vorgang zwischen Machtträgern und Machtunterworfenen zu deuten. Bezeichnenderweise richteten sich die meisten - allerdings nicht alle - Terrormaßnahmen gegen die Vertreter des politischen Systems, nicht sosehr gegen die kapitalistischen Inhaber wirtschaftlicher Machtpositionen (was bei dem proklamierten Endziel der sozialen Revolution und der wirtschaftlichen Emanzipation der Arbeiterklasse hätte vermutet werden können); die Objekte anarchistischen Terrors verstärken somit die Interpretation, daß es sich beim anarchistischen Terror um revolutionäre Gewaltanwendung handelte, die bewußt der institutionellen Violenz entgegengesetzt wurde. Andererseits ging die gesellschaftlich und politisch führende Schicht in ihrer Auseinandersetzung mit dem Terrorismus nicht nur nicht auf dessen Motive und die gesellschaftliche Lage der Gewalttäter ein, aus der diese Motive resultierten, sondern sie setzte vielmehr von Anfang an Anarchismus und Terrorismus gleich, um auf diese Weise eine kraftvolle soziale Bewegung, die ihre Klassenherrschaft bedrohte, zu diskreditieren und ins kriminelle Abseits zu rücken. Anarchisten wurden nicht als Vertreter einer soziopolitischen Bewegung mit dem Ziel gesellschaftlicher Total Veränderung dargestellt, sondern als geistig Gestörte oder Kriminelle.
Die in den 1870er Jahren entstandenen geheimen Untergrundgruppen des Südens gehörten zwar formal der spanischen Sektion der Internationale an, wandten aber von Anfang an andere Methoden an als die Comision Federal in Barcelona. Die radikale Haltung der südlichen Sektionen, die im (individuellen oder kollektiven) Terrorismus die einzig mögliche Waffe im Kampf gegen die wirtschaftliche Macht des Kapitals und die politische Macht des Staates sahen - die für sie in der Person des lokalen cacique verkörpert wurde -, mußte unweigerlich mit den legalistischen Organisationsprinzipien der syndikalistisch orientierten uniones und Industriearbeiter zusammenstoßen. Der Anarchismus wurde mit seiner Betonung der Individualität und Autonomie des Arbeiters sehr schnell die geistige Heimat verschiedener sozialer Gruppen; es gelang ihm jedoch nicht, die als Folge ungleichmäßiger Entwicklung zwischen Industriezentren und Agrarregionen auftretenden verschiedenartigen Interessen des Industrie- und Landproletariats in einer gemeinsamen Strategie überzeugend zu bündeln. Der im Laufe der Herausbildung eines modernen Industriesektors immer deutlicher hervortretende Dualismus zwischen Stadt und Land hatte auf Strategie und Organisation der Arbeiterbewegung verheerende Auswirkungen. Die faktische Spaltung der anarchistischen Arbeiterschaft auf organisatorischem (geheime Zellen - öffentliche Arbeitervereine) und strategischem (Terrorismus - Legalismus) Gebiet, das Scheitern der reformistischen FTRE-Taktik und die massive Repression durch die Behörden führten in den 1880er Jahren zum Niedergang und schließlich (1888) zur formellen Auflösung der Internationale.
Die ideologische Krise der Internationale spiegelte die durch ungleichmäßige Entwicklung differenzierten Interessen ihrer Mitglieder wider. Die Auflösung der FTRE 1888 machte deutlich, daß der legal-syndikalistische Kurs der Anarchokollektivisten nicht das gesamte Interessenspektrum der Bewegung umfaßte. Die terroristischen Geheimorganisationen des agrarischen Südens reihten sich in die lange Tradition von Revolten, revolutionären Verschwörungen, bewaffneten Aufständen oder sporadischen Umstürzen ein, wie sie für das Spanien des gesamten 19. Jahrhunderts charakteristisch sind. Die in diesen spontanen Ausbrüchen zum Ausdruck kommende Hoffnung auf radikalen Wandel konnten die vornehmlich politisch-reformistisch orientierten und insgesamt erfolglosen Republikaner nicht auffangen; so wandten sich die bäuerlichen Massen dem Internationalismus zu. Die 1880er Jahre markieren Höhepunkt, Krise und Peripetie dieses Zustroms. Jetzt mußte der Anarchismus durch Verlagerung seines Aktionsschwerpunktes zeigen, daß er die Interessen der Landarbeiter mit denen der städtischen Industriearbeiter koordinieren und in einer gemeinsamen Strategie, deren übereinstimmendes Ziel die soziale Revolution war, integrieren konnte.
IV.
Um der Desorganisation der anarchistisch beeinflußten Arbeiterschaft ein Ende zu setzen, beschloß eine Gruppe militanter Anarchisten in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, eine Föderation von Organisationen der Arbeiterklasse zu gründen, deren Ziel sowohl die Verbesserung ihrer objektiven Klassenlage als auch zugleich die Heranbildung des notwendigen Klassenbewußtseins zur Durchführung systemsprengender revolutionärer Aktionen war. Nachdem dieser Vorschlag in Katalonien mit unerwarteter Begeisterung aufgenommen worden war, wurden 1907 die Regionalföderation Solidaridad Obrera („Arbeitersolidarität“) und 1910 die Confederacion Nacional del Trabajo („Nationalbund der Arbeit“) gegründet. Der Syndikalismus war - in der Formulierung des Gildensozialisten G. D. H. Cole (46) – „gleichzeitig eine Politik der direkten Aktion in der Gegenwart und eine Vision der Gesellschaft in der Zukunft.“
Die revolutionären Syndikalisten folgten der anarchistischen Tradition insofern, als sie der „spontanen“ Bewegung der Masse vertrauten und in jeder „autoritären“ Organisation ein Hindernis für die Entwicklung eines revolutionären Bewußtseins sahen. Die anarchosyndikalistische CNT blieb bei der den Anarchismus charakterisierenden konsequenten Ablehnung der partei- und verbandsförmigen Einflußnahme auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Ihre antipolitische Haltung war Ausdruck konkreter Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit den politischen Parteien und dem parlamentarischen System. Auch in ihrer Einstellung zur Gewaltproblematik trat die CNT die Nachfolge des Legalismus der Ersten Internationale an, und ebenso wie dieser gelang es auch der anarchosyndikalistischen Dachgewerkschaftsorganisation nicht, terroristische Aktionen aus ihren Reihen vollständig fernzuhalten. Die in ihrer Mitgliederstruktur angelegte Spannung zwischen industriell-fortschrittlichem und agrarisch-archaischem Sektor blieb bestehen und schlug sich in unterschiedlicher Einstellung zur Frage der Anwendung physischer Violenz nieder.
Grundsätzlich jedoch gilt: Anarchisten interpretierten ihre eigenen Gewaltmaßnahmen zumeist als „abgeleitet“ aus der Gewalt- und Herrschaftsstruktur des bestehenden Staates. Es ging ihnen darum, die von Gewaltbeziehungen geprägte Gesellschaft zu zerstören, um auf ihren Ruinen die gewalt- und herrschaftsfreie Anarchie errichten zu können. Um dieses moralisch gerechtfertigte Ziel zu erreichen, erschien es legitim, in der durch das Mittel der Gewalt zusammengefügten bürgerlichen Gesellschaft Violenz anzuwenden. Anarchistische Gewalt fand somit ihre Hauptrechtfertigung in dem angestrebten Ziel gesellschaftlicher Veränderung. Dabei war den meisten der angewandten Gewaltformen eine gewisse strategische, d. h. zweckrational-zielgerichtete Komponente nicht abzusprechen, auch wenn sie den Akteuren nicht immer voll bewußt war. Fragt man jedoch nach dem Nutzeffekt der violenten Aktionen, so wird man allenfalls von kurzfristigen Erfolgen sprechen können; langfristig war ihr Funktionswert äußerst gering. Andererseits stellte wohl in den meisten Fällen - aufgrund mangelnder anderer Durchsetzungsmöglichkeiten - die Gewaltanwendung das einzige Mittel dar, mit dem die Desheredados und Descamisados des ländlichen Südens ihre Unzufriedenheit und ihre Forderungen in zwar letztlich erfolgloser, jedoch ihnen einzig adäquater Form artikulieren konnten.
Die Geschichte der CNT gehört nicht mehr zur ersten Phase des spanischen Anarchismus. Die Entwicklung einer mächtigen Rivalin, der sozialistischen Union General de Trabajadores, die wirtschaftlichen Veränderungen infolge des Ersten Weltkriegs sowie vor allem der Einfluß der Russischen Revolution schufen völlig veränderte Verhältnisse, die auch zur Entwicklung neuer Kampfstrategien der Arbeiterorganisationen führten. Die Organisierung der Arbeiterschaft in der revolutionär-syndikalistischen CNT markiert den Beginn einer neuen Etappe in der Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung - einer Etappe, die im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr angesprochen werden kann -, die erst im faschistischen Kugelhagel während des Bürgerkrieges 1936-1939 ihr (vorläufiges) Ende finden sollte. (47)
Fußnoten:
(1) Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der anarchistischen Bewegung vgl. (exemplarisch) A. Elorza, La utopia anarquista bajo la segunda rcpablica espanola, Madrid 1973; St. J. Brademas, Anarco-sindicalismo y revolucion en Espana (1930-1937), Barcelona 1974; C. M. Lorenzo, Los anarquistas espanoles y el poder, Paris 1972.
(2) Zu dieser Problematik ausführlich W. L. Bernecker, Die Soziale Revolution im Spanischen Bürgerkrieg. Historisch-politische Positionen und Kontroversen. Mit einer Bio-Bibliographie, München 1977.
(3) Vgl. hierzu die Memoiren des Kongreßteilnehmers und „Vaters“ der anarchistischen Bewegung in Spanien A. Lorenzo, El proletariado militante, 2 Bde., Toulouse 1946; s. außerdem /. Termes, Anarquismo y sindicalismo en Espana. La Primera Internacional 1864-1881, Barcelona 1972.
(4) Vor allem Gegner der Anarchisten verwenden die Begriffe „antipolitisch“ und „apolitisch“ undifferenziert, um die anarchistische Haltung lächerlich zu machen. Anarchisten selbst haben sich jedoch nie als „apolitisch“ verstanden; ihr antipoliticismo bezog sich ausschließlich auf die Weigerung, die bürgerlich-parlamentarischen Spielregeln einzuhalten. Hierzu ausführlich (mit Belegen) /. Alvarez Junco, La ideologia politica del anarquismo espanol (1868-1910), Madrid 1976, S. 411 ff., bes. S. 416 f.
(5) Allerdings unterschieden die Anarchisten qualitativ zwischen Republik und Monarchie und gaben ersterer - da fortschrittlicher - den Vorzug. Jedoch läßt sich in dieser Frage keine einheitliche Meinung feststellen. Die Republik von 1873 wurde jedenfalls bei ihrer Ausrufung vorsichtig-positiv eingeschätzt.
(6) M. Bakunin, Die Reaktion in Deutschland, in: R. Beer (Hrsg.), Michail Bakunin: Philosophie der Tat, Köln 1968, S. 77.
(7) Zit. nach Alvarez Junco, S. 455.
(8) So wurde etwa auf dem Kongreß in Barcelona (1870) der „Widerstand“ als Strategie der Arbeiterbewegung mit dem Argument gerechtfertigt, daß durch ihn die Arbeiterklasse sich „intellektuell und materiell“ eine günstigere Kampfbasis gegen das Kapital ertrotze. Vgl. die Resolutionen des Kongresses bei A. Loremo, Bd. l, S. 85-120.
(9) In Anlehnung an M. Bookchin, The Spanish Anarchists. The Heroic Years 1868-1936, New York 1977.
(10) Vgl. die „klassische“ Darstellung der Methoden der direkten Aktion bei E. Pouget, Le Sabotage, Paris 1910.
(11) Hierzu A. Loremo, S. 106-108; Kommentar bei /. Termes, S. 67-76.
(12) Zahlenmaterial zu den Streikbewegungen jener Jahre bei M. Nettlau, La Premiere Internationale en Espagne (1868-88), 2 Bde., Amsterdam 1968.
(13) F. Engels, Die Bakunisten an der Arbeit. Denkschrift über den Aufstand in Spanien im Sommer 1873, in: MEV 18, S. 476-493; zum Gesamtzusammenhang vgl. die ausgewogene Darstellung von C. A. M. Hennessy, The Federal Republic in Spain. Pi y Margall and the Federal Republican Movement (1868-1874), Oxford 1962.
(14) Zur Ziel-Mittel-Identität in der anarchistischen Revolutionskonzeption und zur marxistischen Kritik daran vgl. W. L. Bernecker, Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936-1939, Hamburg 1978, S. 27-44.
(15) P. Lösche, Anarchismus - Versuch einer Definition und historischen Typologie, in PVS l (1974), S. 53-73.
(16) C Bernaldo de Quiros, El espartaquismo agrario andaluz, in: Revista general de legislacion y jurisprudencia, Madrid, April 1919 (zus. mit anderen Schriften neu hrsg. v. J. L. Garcia Delgado u. d. T.: C. Bernaldo de Quiros, „El espartaquismo agrario y otros ensayos sobre estructura economica y social de Andaluda, Madrid 1973).
(17) Diaz del Moral, Historia de las agitaciones campesinas andaluzas. Antecedentes para una reforma agraria, Madrid 1929.
(18) G Brenan, Die Geschichte Spaniens. Über die sozialen und politischen Hintergrunde des Spanischen Bürgerkrieges. „The Spanish Labyrinth“, Berlin 1978; zu Brenans Anarchismusinterpretation vgl. M. L. Berneri, The Historical Background: Brenans Spanish Labyrinth, in: Anarchy 5 (1961), S. 137-143.
(19) So, in Fortführung des Ansatzes von G. Brenan J. Joll, Die Anarchisten, Frankfurt 1969 S 174; vgl. auch H. Matthews, Anarchism: Spain's Enigma, in: N. Greene (Hrsg.), European Socialisme Since World War I, Chicago 1971, S. 110-116; auch nationalsozialistische Interpreten wie D. J. Wölfel, So ist Spanien, Leipzig 1937, erklären die Neigung der Spanier zum Anarchismus mit deren „Nationalcharakter“. Im Rahmen der völkerpsychologischen Ansätze vgl. auch die Interpretation von P. Heintz, Die Struktur der spanischen Persönlichkeit, in: KZSS l (1955). S. 101-118, der - im Anschluß an Americo Castros „La realidad histörica de Espana“ - den Spanier aus kulturanthropologischer Sicht als nicht-entfremdete Persönlichkeit interpretiert, in dessen Grundstruktur (als einer Konfiguration von „dauerhaften Verhaltensdispositionen“) die Voraussetzungen für den spanischen Personalismus mit seinen „häufig ausgesprochen anarchistischen Zügen“ enthalten sind.
(20) A. von Borries, Einleitung zu G. Brenan, Spanische Revolution, Berlin 1973, S. XI; vgl. auch ders.. Der spanische Anarchismus, in: Neues Hochland 4 (1973), S. 339-350.
(21) Für F. Borkenau, El renidero espanol, Paris 1971, S. 229, sind die Anarchisten „im Arbeiterlager die genuinen Vertreter des spanischen Widerstandes gegen die Europäisierung“; damit reiht er die Anarchisten in die Tradition des Antikommerzialismus und Antikapitalismus ein, die in Spanien bis weit in das 20. Jh. hinein fortgewirkt hat. Der Widerstand gegen die kapitalistische Entwicklung richtete sich gegen den materiellen Fortschritt, den europäische Industrieländer erreicht hatten; er stellte sich damit auch gegen das marxistische Schema des historischen Determinismus. Für die spanischen Anarchisten stellte die Bourgeoisie keine zeitweilige revolutionäre Kraft dar; in der kapitalistischen Entfaltung der Produktivkräfte sahen sie keine notwendige Phase wirtschaftlicher Entwicklung; Zentralisation und Akkumulation waren für sie keine unvermeidlichen Imperative der Industrialisierung, sondern Mittel zur Verstärkung und Perpetuierung des bekämpften Staatswesens. Die spanischen Anarchisten haben die Zweckrationalität der kapitalistischen Entwicklung so wenig internalisiert. wie deren Warenfetischismus.
(22) G. Brenan, The Spanish Labyrinth. An Accouni of the Social and Political Background of the Civil War, Cambridge 1969, S. 188-197.
(23) E. Hobsbawm, Sozialrebellen - Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied-Berlin 1971
(24) Zur agrarkollektivistischen Tradition in Spanien vgl. bes. J. Costa, Colectivismo agrario en Espanol, Buenos Aires 1944
(25) J. Hellwege, Genossenschaftliche Tradition und die Anfänge des Anarchismus in Spanien; in: VSWG 59 (1972), S. 305 – 349, hier S. 329
(26) Vel. zu folgendem R. Perez del Alamo, Apuntes sobre dos revoluciones andaluzas, Sevilla 1872, Neuaufl. Madrid 1971.
(27) Während es den Führern hauptsächlich um die Abschaffung der Monarchie und eine politische Demokratisierung ging, gab die Masse der durch die Desamortisation der unmittelbaren Gefahr der Proletarisierung ausgesetzten Handwerker und Landarbeiter dem Aufstand einen primär sozialen Inhalt; für sie war es selbstverständlich, daß die Rebellion eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, den lange erwarteten „reparto“ oder die Gütergemeinschaft zur Folge haben würde. Es war dabei hauptsächlich wohl an das von der Desamortisation betroffene Allmende-Land gedacht worden, da kein Protest gegen die Proklamation Perez del Alamos bekannt geworden ist, in der er sich für die Respektierung des Privateigentums aussprach..
(28) T. Kaplan, Ongenes sociales del anarquismo en Andalucfa. Capitalismo agrario y lucha de clases en la provincia de Cadiz 1868-1903, Barcelona 1977; auch C. E. Lida, Anarquismo y revolucion en la Espana del XIX, Madrid 1972, wendet sich gegen die These, daß die spanischen Anarchisten religiöse Millenaristen und daß Geheimbündler in der spanischen Gesellschaft isoliert gewesen seien.
(29) Vgl. Hobsbawm, Sozialrebellen, und P. Lösche, Probleme der Anarchismusforschung. in: IVK 19/20 (1973), S. 125-144. Zu Lösches Schlußfolgerung: „Der andalusische Anarchismus war eine Bewegung der armen Leute, er zeigte die Interessen des Pueblo mit unheimlicher Genauigkeit an“, ist einschränkend und modifizierend auf Kaplan (s. Anm. 28) und auf die Ergebnisse der sozialanthropologischen Forschung zu verweisen, die die Diskrepanzen zwischen anarchistischen und Pueblo-Interessen herausgearbeitet hat. Vgl. /. A. Pitt-Rivers, The People of the Sierra, London 1954, S. 220
(30) H. Ruediger, El anarcosindicalismo en la revolucion espanola, Barcelona 1938, S. 44.
(31) G. Woodcock, Anarchism in Spain, in: History Today 12 (1962), S. 22-32, hier S. 23.
(32) Zu derselben Erscheinung im russischen Kommunismus vgl. W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 1964, S. 395 ff.
(33) 1883 z.B. wurde, nach mehreren Dürrejahren, in Jerez eine gute Getreideernte erwartet. Prompt traten die Landarbeiter Anfang Juni (also vor der Ernte) in den Streik und provozierten das massive Eingreifen der Regionalbehörden. Hierzu Kaplan, S. 257.
(34) Zahlreiche Beispiele hierzu bei Nettlau, S. 313 ff.
(35) Charakteristisch für die verschiedenen Richtungen des Anarchismus ist diese Form der Gewaltrechtfertigung allerdings nicht; insgesamt bleibt die anarchistische Lehre aktiver physischer Gewaltanwendung gegenüber skeptisch, was auf ihren anthropologischen Optimismus, ihren Glauben an die natürliche Harmonie, ihre Kritik an der Violenz der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen sein mag. Aus den anarchistischen Reihen selbst wird den Verteidigern der Gewalt die Bedeutung von Propaganda, friedlichen Mitteln und vor allem von Bildung und Erziehung entgegengehalten. Vgl. hierzu C. E. Lida, Literatura anarquista y anarquismo literario, in: Nueva Revista de Filologia Hispanica, Bd. XIX, Nr. 2 (1970), S. 360-381.
(36) La Revoluciön Social Nr. 6, zit. nach Alvarez Junco, S. 494.
(37) Zu dieser Problematik allg. vgl. P. Lösche, Terrorismus und Anarchismus - Internationale und historische Aspekte, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 2 (1978), S. 106 bis 116.
(38) J. Romero Maura, Terrorism in Barcelona and its impact on Spanish politics 1904-1909, in: Past and Present 41 (1968), S. 130-183, hier S. 147. Allerdings nahmen ab der Jahrhundertwende, nach dem Fehlschlag des katalanischen Generalstreiks von 1902 und infolge der Wirtschaftskrise die Aufrufe zur Gewalt und zur „Propaganda durch die Tat“ in den anarchistischen Organen wieder zu.
(39) J. Romero Maura, S. 152.
(40) C. Tilly, Collective Violence in European Perspective, in: I. K. Feierabend, R. L. Feierabend, T. R. Gurr (Hrsg.), Anger, Violence and Politics, Englewood Cliffs/ N.J. 1972; vgl. hierzu auch P.Waldmann, Strategien politischer Gewalt, Stuttgart 1977, S.14-18.
(41) Vgl. P. Waldmann. S. 43.
(42) Bereits 1872 hatte die Regionalföderation für den Fall ihrer Illegalisierung mit „Bürgerkrieg, Klassenkrieg, Krieg zwischen Armen und Reichen“ gedroht. Vgl. C. E. Lida (s. Anm. 28), S. 255, sowie dies., La Mano Negra (Anarquismo agrario en Andalucia), Madrid 1972, S. 46.
(43) Diese Behauptung wurde auch jahrzehntelang in der Forschung aufgestellt, so zuletzt noch von G. A. Waggoner, The Black Hand Mystery: Rural Unrest and Social Violence in Southern Spain, 1881-1883, in: R. f. Bezucha u. D. C. Heath (Hrsg.), Modern European Social History, Lexington, Mass. 1972, S. 161-191. Nach dem Fund der Mano-Negra-Statuten besteht heute kein Zweifel mehr daran, daß es die Geheimorganisation tatsächlich gegeben hat, wenn auch ihre Bedeutung von den Behörden sicherlich bewußt übertrieben worden ist.
(44) Welcher Art die Beziehungen zwischen Mano Negra und FTRE waren, ist nicht genau festzulegen. Lida, die beste Kennerin der Materie, weist darauf hin, daß zwischen dem Programm und den Statuten der Mano Negra einerseits und dem Vokabular und der revolutionären Zielsetzung der Internationale andererseits eine deutliche Affinität bestand. Die Statuten der Mano Negra verweisen selbst auf diesen Zusammenhang: „Nachdem die Internationale Arbeiter-Assoziation von den bürgerlichen Regierungen außerhalb der Legalität gestellt und damit daran gehindert worden ist, die soziale Frage - die gelöst werden muß - auf friedlichem Wege anzugehen, mußte sie zu einer revolutionären Geheimorganisation werden, um die gewaltsame soziale Revolution durchzufuhren.“ C. E. Lida, S. 255.
(45) Der Begriff der „strukturellen Gewalt“ geht zurück auf J. Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: D. Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt 1972.
(46) G. D. H. Cole, Selbstverwaltung in der Industrie, Berlin 1921, S. 261.
(47) Zur anarchistischen und anarchosyndikalistischen Entwicklung in Katalonien zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. J. C. Ullman, The Tragic Week, Cambridge 1968; J. Romero Maura, La Rosa de Fuego, Barcelona 1975; X. Cuadrat, Socialismo y anarquismo en Cataluna (1899-1911). Los origenes de la CNT, Madrid 1976; für die Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg G. H. Meaker, La izquierda revolucionaria en Espana (1914-1923), Barcelona 1978.
Die hier wiedergegeben spanischen Namen und Titel entsprechen teilweise nicht der korrekten Schreibweise, es fehlen die "accents" usw.!
Originaltext: W.L. Bernecker: Strategien der Direkten Aktion und der Gewaltanwendung im spanischen Anarchismus. Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus und Syndikalismus Band 5. Gescannt von anarchismus.at