Michael Reich - Cornelius Castoriadis. Eine Einladung

Mit der Rezeption von Denktraditionen ist es eine Sache für sich. Zunächst und zumeist eignet man sich jene Autorinnen und Autoren an, die das eigene Umfeld empfiehlt. Dies schafft vor allem Übersichtlichkeit, Ordnung im eigenen Kopf. In Sachen Abgrenzung gilt dasselbe. So weiß oder glaubt man zu wissen, dass Kant Protofaschist war, auf Verlangen kann man zur Not auch noch die fünf Zitate nachweisen, die dies nahe zu legen scheinen. Man weiß oder glaubt doch zu wissen, dass Platon Denker des absoluten Staates war und gar die Musik, die unschuldige, verbieten wollte. Manche meinen oder glauben auch zu wissen, dass die sog. bürgerliche Wissenschaft reines Produkt bürgerlicher Denkweisen, pure Ideologie also, ist und keiner Auseinandersetzung bedarf. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Jedes (ex-)linke Splittergrüppchen hat ihre Lieblingsfeinde wie ihre Lieblingsfreunde – darin kaum unterschieden von den verschiedenen akademischen Schulen, die sich gegenseitiges Bekloppt-Sein vorwerfen. Neuerdings nun glaubt man zu wissen, dass die Linke nach Marx und der Frankfurter Schule nur noch Ressentiment produziert hat. Die Traditionsmarxisten verteidig(t)en den Staatskommunismus, die Antiimperialisten die diversen völkischen oder religiösen Befreiungsbewegungen, die Postmodernen seien gar, da von Heidegger beeinflusst, Nazis oder zumindest Proto-Nazis. Nun mögen diese Vorwürfe zutreffen oder nicht; dies steht hier nicht zur Debatte. In Frage steht aber jenes Sich-Einrichten im eigenen Haus, jenes inzestuöse Beharren auf der eigenen Tradition. Nicht zufällig gehören die im Erzgebirge zu den hässlichsten Menschen der Welt.

Cornelius Castoriadis, auf dessen Denken an dieser Stelle energisch hingewiesen werden soll, ist, legt man nur die richtigen (jeweils eigenen) Kriterien an, leicht zu verurteilen. Er war Klassenkämpfer, Revolutionär, Linker und lebte in Frankreich. Zeitlebens war er überzeugt vom Primat der Praxis, er lehnte den Marxschen Wertbegriff ab und bestritt die Möglichkeit einer umfassenden Versöhnung. Er hielt am Vernunftbegriff fest und an der Möglichkeit der Aufklärung. Er betonte die Einzigartigkeit der griechisch-jüdischen, abendländischen Tradition wegen ihres Freiheitspotenzials und verurteilte die Kapitalisten nicht nur als Charaktermasken, sondern auch wegen ihrer individuellen Verantwortung als Herrschaftsausübende. Er schätzte Aristoteles mehr als Marx und Freud mehr als Hegel. Er war fundierter Kritiker des neuzeitlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens, aber weit davon entfernt, es zu verurteilen. Er war kein Melancholiker des Werts, des Verblendungszusammenhangs oder der Endzeit, sondern trotziger Optimist. Er lehnte jede Geschichtsmetaphysik ab und zeigte die Grenzen funktionalistischen Denkens. Er war (wohl) der erste wirkliche Kritiker des Marx(istisch)en Arbeitsfetischs. Entschieden bekämpfte er den Totalilitarismus. Er bestand auf den Aporien des Denkens, ohne sie zum Grund zu hypostasieren. Kurz: In seiner Widersprüchlichkeit und in seiner Leidenschaft war er Produkt linker Geschichte, in seiner Kreativität und Anstößigkeit ging er über sie hinaus. In vieler Hinsicht ist sein Denken ein Stachel im Fleisch der eigenen Tradition. Grund genug also, sich mit ihm auseinander zu setzen. Geschehen soll dies an dieser Stelle nur schlaglichthaft anhand seines Hauptwerkes Gesellschaft als imaginäre Institution.(1) Die spezifische Bedeutung die Castoradis darin dem Begriff des Individuums abgewinnt, soll mit den scheinbaren Gewissheiten oder doch Fallstricken heutiger Diskussionen konfrontiert werden.

Die Notwendigkeit der Vermittlung – Das Individuum

Gesellschaftskritik im Sinne der Kritischen Theorie ist heute wie gestern wesentlich Kritik der Verdinglichung, Verkehrung und Vergegenständlichung menschlicher Verhaltenweisen zu einer nicht mehr in den Händen der Handelnden liegenden Struktur.(2) Wir leben nicht, sondern wir werden gelebt von unseren Traditionen und Institutionen. Wir sind daher nicht frei, sondern bestimmt, reproduzieren bloß das Althergebrachte und sind nicht in der Lage, die in einer Hinsicht nur durch uns bestehenden Formen des menschlichen Zusammenlebens zu transzendieren bzw. sie gar so zu verändern, dass sie vernünftig genannt werden können, also nicht tagtäglich Leid, Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und wahnhafte Ideologien hervorbringen. Als wesentliche Institution der kapitalistischen Gesellschaft gilt dabei die Ökonomie, d.h. die sich scheinbar automatisch reproduzierende Verwertung des ökonomischen Werts, die ständige Vermehrung des abstrakten Reichtums um seiner selbst willen. Wir scheinen gefangen in dieser Form, durch die wir unser Leben reproduzieren müssen. Für ein Verständnis und eine Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft – auch dies hat man inzwischen erkannt – reicht jedoch eine alleinige Konzentration auf die Sphäre der Ökonomie nicht aus, gesellschaftliche Herrschaft, Herrschaft der Gesellschaft ist wesentlich auch politische Herrschaft. Zur ökonomischen Form tritt die politische Gewalt hinzu, die Sphäre des auf der Souveränität des Staates gegründeten abstrakten Rechts, das die Vermittlung des Warentauschs zuletzt immer garantieren muss wie es auch die Gleichheit der Staatsbürger konstituiert.

Im Fetischkapitel des Kapitals versucht Marx bekanntlich die Herrschaft dieser verkehrten Formen anhand der Wertform auf den Begriff zu bringen. „Der Mysticismus der Waare entspringt also daraus, daß den Privatproduzenten die gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Privatarbeiten als gesellschaftliche Naturbestimmtheiten der Arbeitsprodukte, daß die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Personen als gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen zu einander und zu den Personen erscheinen. Die Verhältnisse der Privatarbeiter zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit vergegenständlichen sich ihnen gegenüber und existieren daher für sie in den Formen von Gegenständen.“ (MEGA II/5: 47) Die Handlungen von Individuen erscheinen diesen nicht mehr als solche, sondern finden ihren Ausdruck in Gegenständen, paradigmatisch im Geld. Die Kritik an der Herrschaft dieser Formen und den daraus folgenden Konsequenzen ist unbestritten und Castoriadis’ Kritik setzt auch an anderer Stelle an. In der Argumentationsstruktur des Fetischkapitels wie im gesamten Kapital sind nämlich zwei Entitäten vorausgesetzt, aus denen sich die verkehrte und vergegenständlichte Beziehung der Wertform erst konstituiert. Das Ding (der Gebrauchswert) und die Individuen. „Spricht man wie Marx von den Produktionsverhältnissen als ‚dinglich vermittelten Beziehungen zwischen Personen’, so entsteht ... die Gefahr, dass diese Beziehungen als etwas den ‚Personen’ und ‚Dingen’ Äußerliches und Hinzugefügtes erscheinen, gleichsam als ließen sich Personen und Dinge im Idealfall auch unabhängig von ihrer Einbindung in solche ‚Beziehungen’ definieren und als blieben die ‚Personen’ und ‚Dinge’ von einer ‚Modifikation’ jener Beziehungen unberührt.“ (Gesellschaft: 585)

Diese Kritik lässt sich unschwer auf die Rede von der Herrschaft gesellschaftlicher Formen generell übertragen. Meint man, damit alles gesagt zu haben, wird implizit unterstellt, die Individuen seien für sich frei und unverdorben und würden allein durch ein außer ihnen Liegendes vom Guten, Wahren und Schönen abgehalten. Vergessen wird dabei die Produktion des Individuums als Individuum selbst. An dieser Stelle zeigt sich bereits die Notwendigkeit einer Subjektkritik, d.h. die Bedeutung der Psychoanalyse. Dies eingefordert und geleistet zu haben ist Verdienst der Kritischen Theorie, doch geht Castoriadis über deren Vertreter hinaus, wie ich am Beispiel G. Scheits andeuten möchte.(3)

Für diesen kulminiert die Bedeutung der Psychoanalyse in einer Kritik der Herrschaftsform Familie, die vorwiegend auf ihre Bedeutung für die heutige Gesellschaft, nicht aber hinsichtlich der Problematik der Erziehung des Individuums generell befragt wird. Scheits Herangehensweise ist für eine Kritik heutiger Gesellschaft notwendig und berechtigt, doch wohnt ihr in letzter Konsequenz der romantische Gedanke inne, dass es einzig darauf ankäme, die gegenwärtigen Herrschaftsformen – an dieser Stelle die Familie als Durchlauferhitzer des Staates – zu destruieren, wenn man ‚nur’ die Herausbildung aller anderen Fetischformen vermeidet. Das Individuum wird als absolutes, nicht mehr hintergehbares gesetzt, die Frage nach seiner Vermittlung in eine emanzipierte Gesellschaft nicht gestellt.(4) Castoriadis hingegen versucht, ausgehend von Freudschen Überlegungen die Notwendigkeit des Sozialisationsprozesses herauszustellen. Dabei wird die Frage nach einer gelingenden Sozialisation bzw. in Castoriadis’ Termini nach der Schöpfung eines autonomen Subjekts vor allem in Hinsicht auf ihr mögliches Scheitern von den anthropologischen Voraussetzungen des Neugeborenen her untersucht.(5)

Das Individuum entwickelt sich für Castoriadis im Spannungsfeld zweier Instanzen: eigene Vorstellungswelt und Gesellschaft.(6) Schon mit der Bestimmung des ersten Pols als Vorstellungswelt wendet er sich gegen eine zentrale Position bestimmter Vertreter Kritischer Theorie – die Rede von der Triebunterdrückung. Triebe gehören zum biologischen Substrat des Menschen, als Mensch jedoch ist der Mensch immer schon über den Trieb hinaus. Das Individuum hat keine Triebe, die es ausleben muss – dies mag vielleicht für Tiere zutreffen – das Individuum hat Vorstellungen von Trieben oder es hat Bedürfnisse, die sich an natürliche Vorgaben anlehnen. Castoriadis bestimmt den Menschen von Beginn an als ein von seinem biologischen Substrat entfremdetes Wesen, das sein Spezifikum darin hat, dass es Vorstellungen entwickelt. Diese Vorstellungen oder Imaginationen, philosophisch gesprochen die Einbildungskraft, sind bereits von zentraler Bedeutung für die Urszene des Menschen, sein Urphantasma. In diesem, das sprachlich kaum zu fassen ist, da es vor jeder Sprache und jeder Unterscheidung liegt, wähnt sich das Kind – nach Freud wie nach Castoriadis – allmächtig. Es hat noch nicht gelernt zu differenzieren, unterscheidet dementsprechend nicht zwischen sich selbst als dem späteren Subjekt und den Objekten seines Begehrens, am Anfang wesentlich die Brust. Freud fasst diesen Urzustand mit dem Satz „Ich bin die Brust.“, der erst mit der Erfahrung der Nichtverfügbarkeit der Mutter in Frage gestellt werden kann. Dieser Erfahrung kann die Psyche jedoch entgegenwirken, indem sich das Kind die Brust halluziniert oder erträumt; Castoriadis geht so weit zu sagen, dass die Sehnsucht nach dem Urzustand stets – wenn auch vermittelt – wirkt. Die Mutter (oder eine entsprechende andere Person) ist die erste Instanz des Realitätsprinzips, die das Kind aus seinem wahnhaften Autismus befreien kann und muss. Sie ist die Gesellschaft in Person. Castoriadis betont nun – und das unterscheidet ihn wesentlich von Freud –, dass die Verlusterfahrung nicht unmittelbar auf das Kind als biologisches Wesen wirken kann. Sie wirkt als Vorstellung oder sie kann nur wirken, weil das Kind Vorstellungen besitzt. Ohne diese spezifische Eigenschaft des Menschen bliebe er Tier und würde niemals Sprache, Rationalität und Phantasie entwickeln können. Castoriadis bestimmt damit den Menschen in einer wesentlicheren Offenheit als das Definitionen wie „animal rationale“ o.ä. nahe legen. Die abendländische Rationalität mit ihren universellen Bestimmungen ist nicht die Wesensbestimmung des Menschen, der Mensch ist zuerst einmal seine Vorstellungswelt, zu der er in Differenz gesetzt werden muss, um Mitglied einer Gesellschaft werden zu können und mit der er einen Umgang finden muss, der unter Umständen den Titel „vernünftig“ verdient. „Der Mensch ist kein vernünftiges Tier, wie der alte Gemeinplatz behauptet; er ist aber auch kein krankes Tier. Er ist ein verrücktes Tier, eines, das am Anfang verrückt ist und eben darum auch vernünftig werden kann.“ (Gesellschaft: 495/496) Vernünftig kann ein Umgang mit der eigenen Vorstellungswelt nur sein, wenn er weder als Repression noch als Befreiung gedacht wird, sondern als ein Anerkennungsverhältnis. Freuds Merksatz „Wo Es ist, soll Ich werden“, bedarf deshalb der Ergänzung, dass wo ich bin, Es jederzeit auftauchen können muss. (vgl. Gesellschaft: 177)(7)

Zunächst aber muss sich ein solches Ich überhaupt erst einmal entwickeln, d.h. während der Erziehung muss es gelingen, die absolut egoistischen Ansprüche des Kindes mit der gesellschaftlichen Realität zu vermitteln und zugleich die Anderen als Andere, d.h. als in ihren Interessen gleichberechtigte zu instituieren. Vor diesem Problem steht man zwangsläufig, will man den Menschen nicht als von Natur aus gut, konflikt- und bedürfnislos bestimmen.

An dieser Stelle bekommt daher auch der Ödipuskomplex eine ganz andere Bedeutung als bei G. Scheit. Wie Marx im Kapital setzt Scheit in seiner Rezeption der Psychoanalyse damit ein, dass es einzig um die Beziehung zwischen Menschen und Dingen gehe, die sich verselbständigten und dass einzig diese Verselbständigungen es seien, die ein Problem bildeten. Damit bleibt jenes tieferliegende der Vermittlung von Form (Gesellschaft) und Inhalt (Individuum) außen vor. Scheit verkürzt die dem Neugeborenen angetane Kränkung, dass es gelebt wird, anstatt zu leben, auf die Mächte Staat und Kapital, dabei liegt die Kränkung bereits in der notwenigen Nicht-Befriedigung der Bedürfnisse, die das Kind sich imaginiert.

Castoriadis stellt sich die Frage, wie es möglich sei, „dass Dinge, Individuen und Wörter, eine Welt und eine Gesellschaft für eine Psyche sind, die dafür ‚von Natur aus’ nicht im geringsten eingerichtet ist“ (Gesellschaft: 497), zunächst in dem Sinne, wie die ursprüngliche Monade aufgebrochen und von ihrem Allmachtswahn befreit wird. Die Monade wehrt sich gegen die Verlusterfahrung des begehrten (zukünftigen) Objekts und verlegt es nach Außen oder schöpft ein Außen. Dies ist der erste Schritt zur Konstitution der Objekte und zur Konstitution der Träger der Objekte, d.h. der Anderen (meist die Mutter). In einer bestimmten Phase der psychischen Entwicklung wird auf diese die Position der Allmacht übertragen, in der sie sich real ja auch befindet. Hier liegt der Keim des Über-Ich, da der Andere als strafende Instanz angesehen wird. Eine gelingende gesellschaftliche Sozialisation gibt es aber nur dann, wenn nicht mehr die unmittelbare Bezugsperson als allmächtige imaginiert werden muss, sondern wenn sie als gesellschaftlich situierte begriffen werden kann. Der Andere muss also aus seiner Position der Allmacht gestürzt werden, was dieser nur selbst vollbringen kann. Erst mit diesem Prozess konstituiert sich für das Kind die Realität als reale, d.h. als unabhängig von Personen gegebene. Freud hat diesem Prozess den Namen Ödipuskomplex gegeben.

„[I]n der ödipalen Situation muss das Kind eine Situation bewältigen, die sich nicht mehr nach Belieben imaginär manipulieren lässt: Die Mutter (der andere) gibt ihre Allmacht auf, indem sie sich auf einen Dritten bezieht und zugleich dem Kind bedeutet, dass ihr eigenes Begehren ein Objekt außer ihm hat und dass sie schließlich selbst Objekt des Begehrens eines anderen, des Vaters, ist. Weder lässt sich diese Situation vom Kind (trotz seiner unzähligen Versuche in dieser Richtung) manipulieren, noch lässt sie sich als kontingent verstehen (trotz seiner zahllosen Wünsche, sie möge sich – etwa durch den Tod des Vaters – auflösen). Sie ist aber kein bloßes Faktum ohne Sinn, sondern enthält Bedeutung, die sich selbst ausspricht; eine Bedeutung, in der und durch die der Kern einer Welt entsteht, die eine Welt von Subjekten ist, in der das Subjekt seinen Ursprung gefunden hat und aus der es in gewissem Sinne ausgeschlossen ist. Über diese Bedeutung ist niemand Herr; Vater und Mutter sind das, was sie sind, erst durch die Institution des Elternpaares; über die sie nicht verfügen. Die ödipale Auseinandersetzung richtet vor dem Kind die unausweichliche Tatsache der Institution auf [...] und nötigt es, den anderen und die anderen menschlichen Wesen als Subjekte mit autonomen Begehren anzuerkennen, die unabhängig von ihm miteinander Verbindungen eingehen und es sogar aus ihrem Kreis ausschließen können.“ (Gesellschaft: 511ff)

Castoriadis rollt die Problematik des Ödipuskomplexes also von einer ganz anderen Seite auf als Scheit. Während dieser ihn funktional in Bezug auf Familie und Staat begreift, sucht jener nach dem inhaltlichen Problem hinter der jeweiligen Form: die Frage nach der Vermittlung des Individuums in die Gesellschaft. Dieses ist nicht ausgelotet, wenn man sich allein auf die jeweilige Form der Institution beruft. Wer immer für eine absolut repressionsfreie und absolut leidfreie Erziehung – Castoriadis spricht in einigen Passagen von paidea (Zucht) – argumentiert, muss sich zumindest folgendem Argument stellen: „Aber es wird immer notwendig sein, das Neugeborene auch ohne sein Einverständnis, das es gar nicht geben kann, aus seiner Welt zu reißen und es – bei Strafe der Psychose – zum Verzicht auf seine imaginäre Allmacht sowie zur Anerkennung der Tatsache zu zwingen, dass das Begehren des Anderen nicht minder berechtigt ist, als das eigene.“ (Gesellschaft: 514)

Michael Reich

Fußnoten:
(1) C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main 1990, zitiert als „Gesellschaft“.
(2) Dies gilt zumindest ab den 30er Jahren, als die Erfahrung des Nationalsozialismus die bis dato auch von Horkheimer und seinen Kollegen geteilten Klassenkampfideen ad absurdum führten.
(3) Gerhard Scheit: Suicide Attack, Freiburg 2004, S. 95-105
(4) Man kann natürlich hier mit dem Bilderverbot kontern. Allerdings ist dieses sich als Antwort gebärdende Ausweichen nicht befriedigend, denn die Gefahr des Scheitern eines emanzipativen oder revolutionären Projekts ist nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts höher einzuschätzen als das Beharren auf seinem voraussetzungslosem Beginnen. Die Frage nach der Vermittlung – wenn auch in einem anderen Kontext – hat zuletzt Manfred Dahlmann aufgeworfen. Dahlmanns Überlegungen nimmt Scheit auch auf, überträgt sie aber nicht auf die Frage nach dem Individuum (vgl. Scheit: Suicide Attack, S. 37).
(5) Auch eine solche positive Anthropologie hat ihre Grenzen und ist wesentlich Resultat der Abstraktionskraft des Kritikers. Dennoch scheint es mir sinnvoll hinsichtlich der Möglichkeit einer repressionsfreien Erziehung von einem ‚worst case’ Szenario auszugehen. Vgl. Fußnote 4.
(6) Ich verzichte weitgehend auf Textnachweise und referiere sehr grob. Vgl.: Gesellschaft: Seite 455-558.
(7) Nebenbei bemerkt, löst Castoriadis hier das Problem, was Vernunft, also die Vermittlung von Unbewussten, Bewussten und den Anderen ist, nicht. Denn man kann jederzeit nach den Kriterien fragen, was Anerkennung und Vermittlung denn sein sollen. Hier wird man schwerlich eine andere Antwort finden als: Sie sollen vernünftig sein. Castoriadis würde den Anspruch zurückweisen, Vernunft bestimmen zu können.

Originaltext: http://www.conne-island.de/nf/130/20.html


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