Paul Mattick - Die Bienen. Skizze aus dem Streik in Colorado (USA)

Sam streikte. Mehr als eine Grube lag still. Elftausend Mann streikten schon einige Wochen. Sam war nun auch am Tage zu Hause und spielte mit seinen Kindern. Er hatte sieben, und seine Frau ging mit dem achten schwanger.

Sam saß die letzten schönen Herbsttage mit dem Hintern im Gras vor dem Haus. Nachbarn kamen, man spielte Karten, und die Kinder umschwärmten sie. Sam sprach nicht viel, und wenn er, wirklich einmal was zu sagen hatte, so strich er sich zuvor mit beiden Händen seinen schwarzen Seehundsbart, lächelte, und dann erst, bedächtig und ernst, kamen einzelne Worte, die seine Gedanken jedoch nur andeuteten. Was er wirklich sagen wollte, sagte er nie.

Sam war ein Bergarbeiter, und so sah er auch aus. Der Kohlestaub hatte sich in seinen Poren festgesetzt, der Schacht hatte in zwanzig Jahren sein Kreuz zurechtgebogen. Seine kleinen, grauen Augen, die tief im Schatten der Augenhöhlen lagen, blickten, obwohl sie nichts suchten, nur selten auf. Sie sahen wie verschlafen in seine kleine Welt.

Sam kaute an seiner Zigarre und wartete auf das Aß. Mit einem Auge beobachtete er die Krabben, und manchmal mußte er lachen. Harvey hatte in die neuen Hosen gemacht; Sams krause Stirn wurde noch krauser, so daß sein Hut eine Bewegung nach vorn machte. „Du kleines Schwein, die Mutter wird dich gerben.“ Er zog den plärrenden Balg zu sich heran und befühlte das feuchte Tuch in der Hoffnung, daß es nicht zu naß sei, um am Leibe trocknen zu können. Da gab's schon wieder neues Geschrei. Die kleine Mae hatte sich in der Fahrradkette verfangen, und Sam hatte Mühe, sie still zu kriegen. Wenn die Mutter mit viereckigem Gesicht und schmutziger Schürze, an der sie sich die dauernd nassen Hände trocknete, in der Tür des windschiefen Bretterhauses erschien und mit ihrer vom vielen Schreien nach den Kindern überlauten Stimme zum Essen rief, dann hatte Sam Sorge, alle seine Bälger zusammenzutreiben, was ihm auch nur unter den fürchterlichsten Drohungen gelang. Bei Tisch war es noch schwerer, Raison zu halten, wie Sam sich ausdrückte. Ehe alle sieben sich an dem einzigen Wasserrohr gewaschen hätten, wäre es Nacht geworden. So konnte niemand verhindern, daß sie mit schmutzigen Händen mal nach den Kartoffeln, mal nach dem Brot griffen. Sam ärgerte sich nur noch darüber, wenn ein Fremder in der Wohnung war. Dann schlug er auch hin und wieder, scheinheilig, als ob er Fliegen treffen wollte, den Kindern auf die Finger. Der Nachmittag, das beste nach dem Essen, gehörte Sam allein. Das war „seiner“, und dann nahm er „einen“. Er konnte viel vertragen und wankte erst spät. Dann leckte er seinen Bart öfter, zwirbelte ihn und sprach etwas flüssiger. Sonntags hatte seine Frau Gäste. Sie gehörte einer apostolischen Gemeinde an, die es noch nicht zum Kirchenbau gebracht hatte und sich deshalb in den Wohnungen ihrer Mitglieder versammelte. Der Pastor fand immer ein Thema. Er stellte Fragen wie „Leben die Apostel weiter?“ oder „Was ist eine Seele?“ und dann riet man verlegen, rot bis über die Ohren, und stammelte leise und halbverzweifelt die göttlichen Eingebungen. „Blut“, meinte ein altes, klebriges Weib und zeigte den fragenden Stielaugen ein paar einsame, schwarze Zähne. „Herz“, sagte, die Augen senkend, ein dösiger Junge, dem bereits die Haare ausgingen, und klemmte die Knie noch fester zusammen. „Nein, das alles ist es nicht“, himmelte der Prediger, aber er erklärte den Begriff trotzdem nicht.

Sam hatte mit all dem nichts zu tun. Ach, Weibergequatsch! Was kann er dafür, wenn Harvey die neue Hose bepinkelt, und was kann er dafür, wenn sein Weib apostolisch ist. Sie wusch und hielt das Haus rein, damit war alles für ihn erledigt. Er glaubte nicht an solchen Spuk, er sah aber auch nicht ein, warum er sich darüber aufregen sollte. Ohne Verbitterung und ohne Lachen, schon halb hinüber, horchte er manchmal zu, und nach der himmlischen Weiterexistenz befragt, antwortete er ruhig und sicher: „Ein Mensch, der tot ist, lebt nicht mehr. Wer einmal weg ist, kommt nicht wieder.“ Dann trank er zur Bekräftigung noch „einen“ und streckte sich aus Vorsicht lang auf den Boden, denn er war schon einmal unglücklich gefallen. Die Kinder warteten nur auf diesen Moment; Sam wurde nun zu ihrem Riesenspielzeug. Die Kleinen warfen sich auf ihn, beschnitten seinen Bart, bürsteten seine Haare mit dem Handfeger, bestiegen ihn wie einen Hügel, wälzten ihn gemeinsam auf die Seite, balancierten auf seinen Beinen und schliefen oft, wenn er sich nicht mehr rührte, in seinen Armen ein.

Manchen Abend, wenn's dunkelte, und die Langeweile Angst vor dem Morgen brachte, griff Sam seine Kinder, um Frank zu besuchen. Frank, ein Eisengießer, wohnte nur zwei Straßen weiter. Er machte ein gutes Bier und war sehr freundlich, wenn man nicht mehr verlangte als das.

Sam klopfte; die hatten immer abgeriegelt. Er wartete, horchte, hoffte. Die Kinder waren still, wie ihnen gesagt worden war, hielten den Atem an und zogen den Rotz hoch. Sie hatten keine Taschentücher und noch immer nicht gelernt, wie man seine Finger gebrauchen muß, um in der Stirn freier zu fühlen. Wie oft hatten sie Sam bewundernd zugeschaut, aber es war zu schwer, unnachahmbar; sein Schwung dabei blieb ihnen ein Geheimnis. Sooft sie es auch versuchten, sie trafen immer wieder die Stiefelspitzen, da war es schon besser, es blieb, wo es war. „Ihr werdet es nie lernen“, brummte Sam und machte sie auf ihre Rockärmel aufmerksam.

Frank war nicht daheim. Seine dicke Frau kam zur Tür und sagte etwas. Sie hatte und mochte keine Kinder. Das Leben wird nur härter durch sie. Sie bringen Dreck ins Haus, haben immer Appetit, reißen die Glasperlen von der Stehlampe und können nicht stillsitzen.

„Sind das alle“, fragte sie Sam lächelnd, aber ihre Augen blieben kühl. „Ja, das wächst so langsam heran. Elfriede muß nun schon bald zur Schule. Wie alt ist denn jetzt das Jüngste? Ach? — unterwegs.“ Und diesmal lachte sie laut, und ihre Augen wurden enger. Sam öffnete zwar nach jeder Frage den Mund, aber er ließ sich jedesmal Zeit. Er strich seinen Schnurrbart; seine kleinen, lustigen Augen glitten liebevoll, leuchtend und umfassend wie ein Scheinwerfer um seinen Kinderschwarm, flogen hin und her, widmeten sich jedem einige Sekunden und wurden selbst zu Kinderaugen, die vor dem Schlafengehn ihre Geburtstagsgeschenke noch einmal rasch und glückselig betrachten, um sie im Traum zu verdoppeln. Dann lachte Sam, und es sah aus, als. wenn er das Lachen schluckte, denn es war lautlos, und seine Gurgel tanzte dabei. Sein Gesicht bereitete sich vor, etwas ganz Herrliches zu sehen, etwas, das man erst in sich aufsaugen muß, ehe man davon erzählen kann. Dann sprach er und sprach doch nur zu sich selbst; er sprach in sich ein Gedicht voll freudiger Tränen und brachte es unausgesprochen in sein Gesicht, er legte Melodie in ein einziges Wort, das rauh aus seinem Munde klang, bei dem einem aber warm und kalt ums Herz wurde, wenn man ein Ohr dafür hatte. „Wie die Bienen“, und noch einmal heiterer: „Wie die Bienen!“ Die Frau lachte, doch ihre Augen veränderten sich nicht.

Der Winter überfiel die Streikenden, und Sam war weniger bei seinen Bienen. Er sammelte Holz, um ihnen die Bude warm zu machen, und ging öfter zur IWW[1]-Halle, um Unterstützung zu holen. Es gab jetzt schon hunderttausend Sams. Der Streik hatte sich ausgedehnt, eine einzige Grube arbeitete noch. Die Arbeiter anderer Berufe, Bezirke und Staaten sandten Geld und Kleider. Die Solidarität äußerte sich so, wie sie konnte, doch sie war noch nicht stark genug, um durch die Tat Entscheidung und Sieg zu bringen.

Hunderttausend waren viel, und auch die Bourgeoisie verstand diese Zahl zu schätzen. Die Knechte Rockefellers waren an ihrer schmutzigen Arbeit. Sie taten alles, um die weitere Ausbreitung des Streiks zu verhindern. Sie schützten die Streikbrecher, holten neue heran und demonstrierten ihre Macht unter den Sternen und Streifen auf den bewachten Gruben. Maschinengewehre standen vor den Eingängen der Schächte und an den Kreuzwegen, die zu ihnen führten. Bombenflugzeuge langweilten sich in der Luft und erschreckten die Streikpostenkette. Kisten mit Tränengas lagen in den Büros der Verwaltungsgebäude aufgestapelt, und die Scharfschützen warteten auf Arbeit und Ehre.

Schon einige Male war die IWW-Halle gestürmt und geplündert worden. Ein Streiker und ein fünfzehnjähriger Knabe, die in den Räumen weilten, waren wie Ratten erschlagen worden. Man hatte den Toten Knüppel in die verkrampften Hände gegeben, um den Mord zu rechtfertigen. Auf den Straßen hatten die USA-Kosaken schon oft genug die Elastizität ihrer Gummiknüppel an Proletarierschädeln ausprobiert. Streikführer wurden verhaftet, wo man ihrer habhaft werden konnte, aber immer neue Genossen kamen aus anderen Städten, um an ihre Stelle zu treten.

Der größte Teil der Streiker war immer beisammen. Sie aßen gemeinsam, sie schliefen in den Massenquartieren der Hallen. Es gab nur einen Gedanken: der Streik. Keine Debatte, die sich nicht damit beschäftigte. Die Masse war im Kampf; und das Zusammenhalten der Masse war die Taktik der Kämpfer. Die Bergarbeiter waren nur in einer verschwindenden Anzahlklassenbewußt, die Mehrzahl unter ihnen bestand aus Sams, Menschen, die keine besondere Lust mehr haben, ihr Kreuz noch einmal gerade zu strecken. Sie hatten genug mit sich selber zu tun. Die Arbeit, sogar die härteste, schien ihnen unantastbar wie ein Naturgesetz; die Müdigkeit hatte Spießer aus ihnen gemacht, und „Home, sweet Home“ stand an ihren Haustüren, wenn sie auch schief in den Angeln hingen und mit Pappe ausgeflickt waren.

Die „Bienen“ hatten sie bodenständig gemacht; ob sie wollten oder nicht, sie mußten für sie leben, und so wollten sie es auch. Ein jeder hatte seinen bestimmten Korb, und wenn die Sams ausflogen, so blieben sie nicht allein. Die Traube legte sich um sie, wo sie sich auch niederließen, und immer wurden sie eingefangen.

Die Streiker waren Spanier, Italiener, Griechen, Polen, Deutsche, Engländer und Neger. Aus vielen Ländern gekommen, Tausende von Meilen gewandert, waren sie an den Gruben hängengeblieben. Hatten geheiratet, weil sie nicht länger sehen wollten, wie Frauen die Fenster verhängen und das Licht löschen; oder wie sich ihre Mädchen an Konservenbüchsen die Finger zerschnitten, alles satt kriegten und ihnen davonliefen. Sie wollten auch einmal heimkommen und sich im eigenen Stuhl die Schuhriemen lösen. Dann kamen die Bienen, die Frauen waren so unheimlich fruchtbar, und mit der Zeit gebaren sie auch billiger. Man sah die Bienen jeden Abend und den ganzen Sonntag; sie wurden krank und wieder gesund, starben oder wurden zu Krüppeln gefahren. Aber sie waren um einen, sie zwangen die Sams, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie aßen, zerrissen Kleider oder wuchsen aus ihnen heraus; und was einem so viel Geld und Sorgen kostet, dafür lebt man auch und steckt seine Hoffnungen hinein.

Der Buckel wird krumm, und die Beine schmerzen bei Regenwetter. Man ist müde und schläft über der Zeitung ein, bis man sie ganz abbestellt. Wenn man die Lider schließt, die Beine streckt und den Kopf sinken läßt, zählt man die Jahre, bis die Frau kommt und einen ins Bett jagt. Bald ist Fred groß, die Anny kommt Ostern aus der Schule; noch ein Jahr, und Bill kann mitverdienen — ach bald — es wird leichter werden!

Solange es schwer war, hatte man gestöhnt und geglaubt, diese elende Schinderei nicht ertragen zu können. Man hatte in der Wut manchmal zugeschlagen, sich geschämt und geweint danach. Aber der Tag ging, und die Freizeit verflog, und der Schlaf stahl das Bewußtsein. Auf einmal war man zurechtgerückt. Da stand man morgens von alleine auf wie ein Automat, kam nie zu spät. Da hatte man seinen bestimmten Platz am Tisch, und alle wußten, da sitzt Vater. Da teilte man das Fleisch aus, nahm sich das größte Stück und ließ die Kinder am Abend Stiefel putzen.

Die Jahre gingen. Ein Jahr? Es hat nur fünfzig Tage für einen Arbeiter. Kärgliche Sonntage am Kaninchenstall hinter dem Haus und der eigenen Aufzucht in der guten Stube mit dem verwanzten Sofa. Das bißchen Liebe und das bißchen Gequatsch, die knochige oder fette Frau mit den nassen Händen und dem ungeordneten Haar, der schnellen und so dummen Schnauze. Mensch war man nur beim Friseur. Der war der einzige, der den alten Kopf noch mit Sorgfalt in die Hände nahm, der ihn für würdig genug hielt, ein bißchen Pomade für den Sonntag zu empfangen. Der hatte noch für ein paar Cent einladende Bewegungen für die Sams übrig und zeigte Interesse für ihre Meinungen.

„Wird's kalt werden, Frank?“ — „Was meinst, wer Präsident wird?“

„Was machen die Kinder, Sam?“ Er war der einzige, der ihnen recht gab, der alle und sich selbst belog, schon weil es zu seinem Beruf gehörte.

Lange schon war der Friseurladen leer. Wer konnte noch ans Rasieren denken? Sie hatten keine Zeit mehr. Sie vergaßen sogar ihre Bienen, weil sie etwas für sie taten. Nicht viel, Holz stehlen, hungern, auf Meetings laufen und zuhören. Das Zuhören war noch das Schwierigste. Als Kinder hatte man sie zum Lernen gezwungen, so daß sie alle Lust daran verloren; dann quälte man sie erneut und nannte es Arbeit. Sie hätten mit Wollust den ermordet, der sie erfunden hat. Dann quatschte die halbe Welt in ihre Ohren hinein, bis sie sie eng verschlossen, bis sie nichts mehr interessierte, weil nichts ihre Lage änderte. Überzeugt waren sie nur davon, daß jeder Boss ein Schwein und jedes Weib eine Hure sei, die Welt zu dreckig, um Besseres als Schufte von ihr zu erwarten. Sich selber retten, sich selbst zu helfen, sich abzuschließen gegen diese Welt der Gemeinheit war der Sinn ihres Handelns, bis sie vollständig mürbe wurden von der Zwecklosigkeit ihrer Existenz. Erst wenn der Kopf auf die Brust sank und jemand gestorben war, wodurch einem bewußt wurde, daß man ihn liebte, dann griff eine Qual ins Herz, die müde machte, so müde, daß die flimmernden, feuchten Augen, der Schnupfen in der Nase unendlich heilig wurden. Dann sprang man über sich selbst hinweg und konnte, ohne zu weinen, vergessen, daß man schlafen muß, um morgen wieder Eisen zu gießen.

Jetzt konnten die Sams wieder hören; auch andere Dinge als die, die sie sonst bewegten. Sie wußten gar nicht, wie tief sie sich interessieren ließen, und waren innerlich erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Rufe der IWW folgten, und über die Geduld, mit der sie zuhörten. Sie sprachen vom Recht der Arbeiter, ohne sich zu schämen wie sonst, wo jeder vom andern wissen wollte, daß er nur ein leerer Schwätzer war. Kein Mord, kein Zusammenstoß erregte sie mehr. Nur was vom Streikkomitee kam, war von Wichtigkeit.

Mit dem Fernbleiben aus der Fabrik und aus den Gruben hatten schon die neuen Verhältnisse begonnen, deren Produkt sie jetzt wurden. Keine Weckuhr zwang sie mehr, kochendheißen Kaffee herunterzuschlucken, es stand ihnen frei, in Ruhe zu frühstücken. Es stand ihnen sogar frei, zum Meeting zu kommen oder nicht. Es stand ihnen endlich etwas frei, sie konnten wieder selbst bestimmen. Da war kein feiges Vorbeidrücken mehr vor dem Boß oder dem Bessergekleideten in der Straßenbahn. Es war das Bewußtsein in ihnen erwacht, daß sie mehr waren als eine Gießkelle, eine Schraube, ein Hebel, ein Lohnsklave.

Ihr Selbstbewußtsein wuchs mit ihrem Geschrei. Der erste Hunger brachte, so paradox es auch klingen mag, eine ungekannte Heiterkeit; er vermochte es nicht, die Streikstimmung herabzudrücken. Sie lachten gemeinsam, sie dröhnten, sie fühlten sich stark. Sie spürten wieder deutlich die verlorene Wärme ihrer Jugend in sich. Es waren doch nicht alles Schufte!

Als Masse fanden sie sich sonst nur in der Kirche. Da schlichen sie hinein mit Kopfnicken und stolperten ohne Gruß wieder hinaus. Da war ihnen dämlich zumute, sie waren sich alle fern und fremd. Wer hätte es gewagt, in der Kirche um eine Zigarette zu bitten wie auf dem Meeting, wo man sie sich gegenseitig anbot.

Als Masse standen sie nach Feierabend an der Straßenbahnhaltestelle, und jeder wünschte sich ein kleines Erdbeben, das nur ihn und die Straßenbahn verschonen sollte. Da drängten die quetschenden Hunde, die mit dem Hintern um sich schlagenden Strolche, die zu fett geratenen Weiber, die einem ins Gesicht spuckenden Schwätzer; sie alle sollten verrecken, damit nur er seine müden Beine bequem ausstrecken könnte.

Auf den Meetings waren die Menschen anders. Es wurde Kaffee und Brot ausgeteilt, und trotzdem drängte sich niemand danach. Arbeiter aus dem Westen hatten Geld geschickt, Klassengenossen aus dem Osten Kleider und Schuhe. Aber alles war unzureichend, wer etwas haben wollte, mußte sich eilen. Doch niemand gebrauchte seine Ellenbogen, die Sams hörten wieder von den Franks: „Nimm, Genosse, du hast es nötiger. Nimm was mit für die Kinder, ich hab' noch ein paar Pfennige, ich kann noch warten.“

Das war schon einmal so gewesen, in Ludlow neunzehnhundertelf. Das herrliche, den Opfern gewidmete Denkmal, das über die einsame Ebene ragt, erzählt davon. Wenn das Proletariat gut wird, muß es sterben. Wenn sie Menschen werden, sich selbst wiederfinden, wenn sie lachen und kämpfen und wirklich lieben, sich aus dem Schmutz der verfluchten Gesellschaftsordnung lösen, wenn sie Proletarier werden, selbstbewußte, herrliche Jungen, dann knallt die Bestie mit Stahl dazwischen, brandschatzt und mordet sie.

Jetzt waren wieder, wie neunzehnhundertelf, Arbeiter gegen die Ausbeutung aufgestanden. Bis auf eine Grube war der Streik allgemein, und auch diese sollte noch hineinbezogen werden, da sie sonst den Keim der Zersetzung in die Streikfront tragen konnte. In einer Versammlung wurde beschlossen, am anderen Morgen, vor Beginn der Frühschicht, Streikposten vor den Schächten aufzustellen. Sam versprach mit vielen anderen Sams, die Streikpostenkette auszufüllen.

Am anderen Morgen hatte Sam keine rechte Lust. Wie früh es noch war. Im Bett war es warm, und die kleine Mae lag schlafend halb über seiner Brust. Behutsam legte er sie bequemer und machte vom Bett aus Licht. Aufrecht sitzend überlegte er. Seine Frau lag, da der Junge ihr das Kopfkissen weggezogen hatte, wie eine Leiche im Wasser. Ihre Beine lagen höher als der Kopf, ihr Mund stand offen, und röchelnd atmete sie. Sam wurde frisch, schnell war er in den Kleidern, und zwischen den abmarschierenden Streikposten dachte er nicht mehr daran, daß er geschwankt hatte.

Wohl zwei Stunden mußten sie gehen. Sie fröstelten und sprachen laut in der Einbildung, davon wärmer zu werden. Big Bill, ein alter IWW-Genosse, war ihr Führer, obwohl er gar nicht gut marschieren konnte und immer das Ende des Zuges bildete. Auch einige Frauen waren dabei, und am angenehmsten hatten es die, die neben ihnen gehen konnten.

Nebel stieg auf. Im Näherkommen konnte man den schwarzen Klumpen der vor dem Schacht liegenden Gebäude schon erkennen. Die Streiker bogen von der Straße ab, um auf einem wenig benutzten, schmalen Seitenweg unbemerkt zum Schacht zu kommen. Sie sprachen nicht mehr. Als das Sternenbanner über dem Verwaltungsgebäude sichtbar wurde, tauchte plötzlich vor den Marschierenden, aus einem Versteck hervorbrechend, eine Bande bewaffneter Polizisten auf. Die entsicherten Gewehre auf die Streikenden gerichtet, forderten sie sie auf, sofort abzuziehen. Es blieb ihnen keine Zeit zum Überlegen. Der durch den Streik in den Arbeitern erweckte Rebelleninstinkt ließ den Rückzug nicht zu. Die aufsteigende Wut machte sie mutig, sie weigerten sich. Big Bill trat auf den führenden Offizier zu und forderte freien Weg. Eine Unflätigkeit war die Antwort. Und als Big Bill sich umwandte, um den Streikern seine Meinung zu sagen, streckte ihn ein Kolbenschlag zu Boden. Im selben Augenblick knallten die Gewehre. Entsetzt flüchteten die Arbeiter, die Toten und Angeschossenen mit sich schleppend. Salve auf Salve sandte die Soldateska den Fliehenden nach. Für einen schäbigen Orden, eine jämmerliche Beförderung, ein dreckiges Gehalt, ja, für ein paar Extrazigarren übten sie für die gepflegte Welt den Henkersdienst aus.

Ja, Ludlow, das war noch etwas anderes, da hatte man noch zurückgepfeffert! Doch hier am „Blutweg“, da wurden Proletarier wie Hunde gemetzelt. Das denkbar Gräßlichste, Wahnsinnigste sind Arbeiter ohne Waffen. Man möchte sich die Hände abhacken, die Augen ausreißen vor sinnloser Qual und Wut darüber, daß man waffenlos gekommen war. Doch der Besitz von Maschinengewehren muß erst teuer erkauft werden; dafür zahlen Tausende Proletarier, dafür zahlten auch Sam und die anderen vom Blutweg.

Sam lag nun still. Die Bienen saßen in den Ecken und weinten. Die kleine Mae stand am Bett, die Mutter hielt sie an der Hand. Der Rücken der Frau war gebogen, und sie mochte sich nicht setzen. Sie kaute das Nichts. Mitglieder der apostolischen Gemeinde tuschelten in der Küche. Der Pastor kam und versuchte die Trauernde zu trösten. Sie sah auf Sam und flüsterte: „Ein Mensch, der tot ist, lebt nicht. Ein Mensch, der weg ist, kommt nicht wieder.“

Frank war da und sah lange in das faltige Gesicht des Toten, er war blaß und das erstemal ohne Lachen in die Wohnung getreten.

Was nun? „Der Streik wird sich ausdehnen, es wird hart auf hart gehn“, sprach ein Genosse der IWW. „Jetzt lieber alle verrecken! Den Toten vom Blutweg, Sam, Bill und allen anderen sind wir es schuldig. Auf der Straße mußten sie sterben, zwei Stunden lang zieht sich die Blutspur. Auch Sams Blut; das Blut der Sams von Jahrhunderten, der Unterdrückten und der einzig Schaffenden; es liegt wie der Äquator um die Welt und teilt sie auch.“

Auch der Barbier kam. „Was nun“, wandte er sich bekümmert an die Frau, er sah auf die Kinder und weinte fast. „Der Junge ist ja bald groß“, sagte er dann tröstend, „er wird den Vater ersetzen, heißt er nicht auch Sam?“ Bevor er ging, nahm er den Kopf des Toten noch einmal in seine Hände. Er hatte ihn so oft rasiert, er wird ihn auch jetzt noch verschönern; das letztemal. Er brachte den Kopf nicht mehr in die richtige Lage zurück. Der lag nun seitlich auf dem Kissen, und die geschlossenen Augen waren auf die verwunderte Mae gerichtet. Das Schattenspiel des herabsinkenden Abends veränderte zum letztenmal die Züge des Toten. Sein altes, ans Herz greifende Lächeln lag um die Mundwinkel. In tiefer Stille schluchzte ein Kind leise in sich hinein. Die Frau schreckte auf. Hatte Sam nicht gesprochen? So leise und doch klangvoll, so glücklich und doch tieftraurig: „Die Bienen, ja, die Bienen!“

Anmerkungen:
[1] IWW — Industrial Workers of the World. Radikale amerikanische Arbeitergewerkschaft.

Aus: Der Kampfruf, 11. Jg., Nr. 1, 4 und 5, Januar 1930. Nachgedruckt in Wieland Herzfelde (Hrsgb.): Dreissig Neue Erzähler des Neuen Deutschland, (Berlin, Malik-Verlag, 1932), Ausgabe 1983 (Leipzig, Reclam), S. 205-14. Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.

Originaltext: http://marxists.org/deutsch/archiv/mattick/1930/01/bienen.htm


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