Anton Pannekoek - 5 Thesen über den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus
I. In einem Jahrhundert des Wachstums hat der Kapitalismus seine Macht enorm vermehrt nicht nur dadurch, daß er sich auf der gesamten Erde ausbreitete, sondern auch dadurch, daß er sich veränderte.
Im Kampf dagegen wuchs die Arbeiterklasse an Macht, Zahl, Konzentration und Organisation. Gegen die kapitalistische Ausbeutung und für die Beherrschung der Produktionsmittel entwickelte sich ihr Kampf unaufhörlich, aber unter neuen Formen.
Die Entwicklung des Kapitalismus hat – in den wichtigsten Produktionszweigen – die Macht in den Händen von großen Trusts und Monopolen konzentriert, die aufs engste mit der Staatsmacht verbunden sind, die sie tatsächlich beherrschen. Sie kontrollieren den größten Teil der Presse und bestimmen die öffentliche Meinung. Die bürgerliche Demokratie offenbarte sich als beste Tarnung der politischen Herrschaft des großen Kapitals. Gleichzeitig vollzieht sich in den meisten Ländern ein Prozeß, die organisierte Staatsmacht einzusetzen, um die Kontrolle der Schlüsselindustrien in die Hände zu bekommen, als Beginn der “Planwirtschaft”. So hatte im Hitlerdeutschland eine durch den Staat gelenkte Wirtschaft die politische Führung und die kapitalistische Verwaltung zu einer Klasse verbunden. Im staatskapitalistischen Rußland beherrscht die Bürokratie kollektiv die Produktionsmittel und unterdrückt diktatorisch die ausgebeuteten Massen.
II. Der Sozialismus, der als Ziel des Arbeitskampfes dargestellt wird, ist tatsächlich lediglich die Organisierung der Produktion durch den Staat. Er ist Staatssozialismus, Leitung der Produktion durch Staatsbeamte, Herrschaft der Direktoren, der Intelligenz und der Kader in der Fabrik.
In der sozialistischen Wirtschaft bildet dieser Apparat eine gut organisierte Bürokratie, die als Beherrscherin des Produktionsprozesses fungiert. Der Apparat verfügt vollständig über die Produktion und bestimmt, welchen Anteil davon die Arbeiter in Form von Lohn erhalten; den Rest behält sie für die allgemeinen Bedürfnisse und für ihre eigenen ein. In der Demokratie können die Arbeiter ihre Herren wählen, sind selbst jedoch nicht die Herren über ihre Arbeit. Sie erhalten lediglich einen Teil von dem, was sie produziert haben; dieser Anteil wird ihnen von anderen zugeteilt. Sie sind also nach wie vor ausgebeutet und müssen der neuen Führungsgruppe gehorchen. Die demokratischen Formen dieses Systems werden weder heute noch morgen etwas an seiner zugrundeliegenden Struktur ändern.
Der Sozialismus wurde als Ziel der Arbeiterklasse in einer Epoche proklamiert, wo sie machtlos und unfähig war, die Herrschaft über die Fabriken selbst zu erobern; so erstrebte die Arbeiterklasse durch soziale Reformen den Schutz durch den Staat vor den Kapitalisten. Die großen politischen Parteien, die ihnen diese Ziele setzten, die Arbeiterparteien und die sozialdemokratischen Parteien verwandelten sich in ein Instrument zur Sammlung der ganzen Arbeiterklasse für die Interessen des Kapitalismus, sowohl für seine Kriege zur Eroberung der Welt als auch für seine Politik im Inneren des Landes in Friedenszeiten. (Man kann nicht einmal sagen, daß die englische Labour-Regierung sozialistisch ist.) Ihre Aufgabe ist nicht die Befreiung der Arbeiter, sondern die Modernisierung des Kapitalismus. Indem sie die auffallenden Schweinereien verschwinden läßt, indem sie die Verspätungen zudeckt, indem sie die Staatskontrolle einführt, um die Profite zu garantieren, verstärkt sie die Herrschaft des Kapitals und verewigt die Ausbeutung der Arbeiter.
III. Es ist Aufgabe der Arbeiterklasse, sich von der Ausbeutung zu befreien. Dieses Ziel wird und kann nicht durch eine neue Führungsgruppe, die die Bourgeoisie ersetzt, erreicht werden. Dies kann nur dadurch erreicht werden, daß die Arbeiter selbst Herren über die Produktion werden.
“Arbeiter als Herren der Produktion” drückt an erster Stelle aus, daß in jeder Fabrik, in jedem Unternehmen die Organisation der Arbeit das Werk der Arbeiter sein muß. Anstatt durch einen Direktor und dessen Aufpasser reglementiert zu werden, werden die Produktionsabläufe durch die Gesamtheit der Arbeiter bestimmt. Diese alle Arbeiter, Spezialisten, Techniker umfassende Gesamtheit, also alle, die an der Produktion teilnehmen, bestimmt in Versammlungen über alles, was sie bei der gemeinsamen Arbeit betrifft. Diejenigen, die eine Arbeit erfolgreich durchführen sollen, müssen auch über sie die Leitung haben, die Verantwortung übernehmen in den Grenzen der Gesamtheit. Diese Regelung kann auf alle Zweige der Produktion angewendet werden. Sie setzt voraus, daß die Arbeiter ihre eigenen Organe schaffen, um die vereinzelten Unternehmer zu einer Einheit planvoller Produktion zusammenzuschließen. Diese Organe sind die Arbeiterräte. Arbeiterräte sind Gremien von Delegierten, Beauftragten der verschiedenen Fabriken oder Abteilungen großer Unternehmen, als Wortführer ihrer Absichten, Meinungen; um gemeinsame Probleme zu diskutieren, Beschlüsse zu fassen und ihren Auftraggebern Rechenschaft abzulegen.
Sie bestimmen die verschiedenen Regeln und legen sie fest; indem sie die verschiedenen Meinungen zu einer gemeinsamen Position vereinigen, verbinden sie untereinander die getrennten Einheiten, machen daraus ein gut organisiertes Ensemble. Sie bilden kein permanent leitendes Gremium. Alle können jederzeit von ihren Funktionen abberufen werden. Die ersten Ansätze der Arbeiterräte gab es in der russischen und deutschen Revolution (Sowjets und Arbeiterräte). Bei den künftigen Aufgaben der Arbeiterklasse müssen sie eine mehr und mehr wachsende Aufgabe erfüllen.
IV. Bis heute haben die politischen Parteien zwei Aufgaben erfüllt. Zum ersten trachten sie nach der politischen Macht, nach der Beherrschung des Staates, nach der Regierungsgewalt, nach der Ausnutzung dieser Macht, um ihre Programme praktisch anzuwenden. Zum zweiten mußten sie – gemaß dieser Absicht – die Masse der Arbeiter für ihr Programm gewinnen: Ihre Schulung behauptet, das Bewußtsein der Arbeiter zu entwickeln, ihre Propaganda versucht ganz einfach, sie in eine Herde von Schafen zu verwandeln.
Die Arbeiterparteien haben zum Ziel die Eroberung der politischen Macht, um im Interesse der Arbeiter zu “regieren” und um den Kapitalismus abzuschaffen. Sie versichern die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein, ihr bewußtester Teil, fähig, die unorganisierte Mehrheit der Klasse zu leiten, in ihrem Namen zu handeln, sie zu vertreten. Sie behaupten, die Arbeiter von der Ausbeutung befreien zu können. Eine ausgebeutete Klasse kann jedoch nicht durch ein simples Votum oder durch eine an die Macht gekommene neue Gruppe von Führern befreit werden. Eine politische Partei kann keine Freiheit bringen. Nach ihrem Sieg wird sie lediglich neue Formen von Unterdrückung einführen. Die arbeitenden Massen können ihre Freiheit nur durch die eigene organisierte Aktion gewinnen, indem sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, durch eine Anstrengung aller ihrer Abteilungen, um ihren Kampf und ihre Arbeit selbst durchzuführen und zu organisieren durch ihre Räte.
Den Parteien fällt also so die zweite Funktion zu, also Verbreitung von Wissen und Ideen, studieren, diskutieren, die sozialen Ideen zu formulieren, durch Propaganda den Geist der Massen zu erhellen. Die Arbeiterräte sind die Organe der praktischen Aktion, des Kampfes der Arbeiterklasse; den Parteien kommt die Aufgabe zu, die geistige Gewalt zu entwickeln. Ihre Arbeit ist ein unersetzbarer Bestandteil der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse.
V. Die wirksamste Form des Kampfes gegen die Kapitalisten ist der Streik. Streiks sind mehr denn je nötig, um gegen die Tendenz der Kapitalisten zu kämpfen, ihre Profite zu erhöhen, indem sie die Löhne herabdrücken, indem sie Dauer und Intensität der Arbeit erhöhen.
Die Gewerkschaften als Instrumente des organisierten Widerstandes haben sich gebildet, indem an die starke Solidarität und die gegenseitige Hilfe appelliert wurde. Die Entwicklung des “big business” ließ die Macht des Kapitals enorm anwachsen, zugleich konnten die Arbeiter die Verschlechterung ihrer Lage nur in einzelnen Fällen herabmindern. Die Gewerkschaften verwandelten sich in Vermittlungsinstanzen zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Sie unterzeichneten Verträge mit den Unternehmern und versuchten, diese den oft widerspenstigen Arbeitern aufzudrängen. Die Gewerkschaftsführer hofften, sich dem Machtapparat des Staates und des Kapitals, der die Arbeiterklasse beherrscht, unersetzlich zu machen. Die Gewerkschaften wurden so Instrumente des Monopolkapitals, das sich ihrer bediente, um den Arbeitern ihre Bedingungen zu diktieren.
Unter diesen Verhältnissen nimmt der Kampf der Arbeiterklasse mehr und mehr die Form von wilden Streiks an. Diese sind spontane und massive Explosionen eines lange unterdrückten Widerstandswillens, direkte Aktionen, in denen die Arbeiter ihren eigenen Kampf in ihre Hände nehmen, indem sie Gewerkschaften und Führer zum Teufel jagen.
Die Organisation des Kampfes führen die Streikkomitees durch, die sich aus Delegierten der Streikenden, von der Belegschaft gewählt und beauftragt, zusammensetzen. Die Diskussion innerhalb dieser Komitees erlaubt den Arbeitern, ihre Aktionseinheit zu realisieren. Die Ausdehnung der Streiks auf immer größere Massen ist die einzige geeignete Taktik, um den Kapitalisten Konzessionen zu entreißen. Sie ist genau entgegengesetzt zur Gewerkschaftstaktik, die versucht, den Kampf zu begrenzen und so früh wie möglich zu beenden. Heute sind die wilden Streiks die einzigen wirklichen Klassenkämpfe der Arbeiter gegen den Kapitalismus. Hierbei bejahen sie ihre Freiheit, bestimmen sie und führen sie selbst ihre Aktionen aus, hier unterliegen sie nicht Leitungen, die ihnen fremd sind und die andere Interessen haben.
Das alles zeigt die Bedeutung in der Zukunft von diesen Klassenkämpfen. Wenn die wilden Streiks sich immer mehr ausweiten, dann wird sich gegen sie die gesamte Staatsgewalt richten. Dann haben sie revolutionären Charakter. Da der Kapitalismus sich in eine weltweit organisierte Macht verwandelt, (heute setzt er sich aus zwei konkurrierenden Mächten zusammen, die die Menschheit mit der völligen Vernichtung bedrohen), wird der Klassenkampf der Arbeiter ein Kampf gegen die Macht des Staates. Die Streiks nehmen den Charakter von großen Massenstreiks an. Die Streikkomitees müssen also allgemeine, politische und soziale Aufgaben erfüllen, d.h. die Rolle von Arbeiterräten erfüllen. Der revolutionäre Kampf um die Herrschaft der Gesellschaft wird im selben Moment ein Kampf um die Beherrschung der Fabriken. Dann verwandeln sich die Arbeiterräte aus Kampforganen in Organe der Produktion.
(Mai 1947)
Aus Southern Advocate for Workers Councils, Melbourne, Nr.33, Mai 1947. Heruntergeladen mit Dank von der Webseite Revolutionäre Theorie. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1947/05/5thesen.htm