Anton Pannekoek - Sozialdemokratie und Kommunismus (1920)
I. Der Werdegang der Arbeiterbewegung
Der Weltkrieg hat nicht nur eine gewaltige Umwälzung aller wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse gebracht; er hat auch den Sozialismus völlig umgewandelt. Wer mit der deutschen Sozialdemokratie aufgewachsen ist und sich in ihren Reihen an dem Kampf der Arbeiterklasse beteiligte, steht oft verwirrt den neuen Erscheinungen gegenüber und fragt sich, ob denn alles, was er bisher gelernt und getätigt hat, falsch war und weshalb er umlernen und einer neuen Lehre folgen soll. Die Antwort ist: es war nicht falsch, aber es war eine unvollkommene, zeitweilige Wahrheit. Der Sozialismus ist nicht eine feste unveränderliche Lehre. Mit der Entwicklung der Welt wächst die Einsicht der Menschen und mit den neuen Verhältnisse kommen neue Methoden zur Erreichung unseres Zieles auf. Das zeigt sich schon bei einem kurzen Überblick über die Entwicklung des Sozialismus im letzten Jahrhundert.
Im Anfange des 19. Jahrhunderts herrschte der utopische Sozialismus. Weitblickende Denker mit klarem Empfinden für die Unerträglichkeiten des Kapitalismus arbeiteten Entwürfe für eine bessere Gesellschaft aus, in der die Arbeit genossenschaftlich organisiert sein sollte. Ein Wendepunkt trat ein, als Marx und Engels 1847 das kommunistische Manifest herausgaben. Hier treten zuerst die Hauptpunkte des späteren Sozialismus klar hervor: aus dem Kapitalismus selbst wird die Kraft zur Umwandlung in eine sozialistische Gesellschaft herauswachsen; diese Kraft ist der Klassenkampf des Proletariats. Die armen, verachteten, unwissenden Arbeiter werden die Träger dieser Umwälzung sein, indem sie den Kampf gegen die Bourgeoisie aufnehmen, dadurch Kraft und Fähigkeit erwerben und sich als Klasse organisieren; durch eine Revolution wird das Proletariat die politische Herrschaft erobern und die wirtschaftliche Umwälzung durchführen.
Hervorzuheben ist dabei, daß Marx und Engels ihr Ziel nicht Sozialismus und sich selbst nicht Sozialisten nennen. Engels hat das nachher erklärt: zu jener Zeit wurden mit dem Namen Sozialismus verschiedene Richtungen der Bourgeoisie bezeichnet, die aus Mitleid mit dem Proletariat oder aus anderen Gründen, die kapitalistische Ordnung umändern wollten; oft waren ihre Ziele reaktionär. Der Kommunismus dagegen war eine proletarische Bewegung. Kommunisten hießen die Arbeitergruppen, die das System des Kapitalismus bekämpften. Von dem Kommunistischen Arbeiterbund ging das Manifest aus, das dem Proletariat Ziel und Richtung seines Kampfes wies.
Das Jahr 1848 brachte die bürgerlichen Revolutionen, die dem Kapitalismus den Weg in Mitteleuropa bahnten und damit auch die Umwandlung der überlieferten Kleinstaaterei in kräftige Nationalstaaten vorbereitete. Die Industrie entwickelte sich in den fünfziger und sechziger Jahren in einem gewaltigen Tempo und in dieser Prosperität versank alle revolutionäre Bewegung so gründlich, daß sogar der Name des Kommunismus vergessen wurde. Als dann in den sechziger Jahren aus diesem breiteren Kapitalismus die Arbeiterbewegung wieder emporkam, in England, Frankreich und Deutschland, hatte sie zwar einen viel breiteren Boden als die früheren kommunistischen Sekten, aber ihre Ziele waren viel begrenzter und bescheidener: Verbesserung der unmittelbaren Lage, Gewerkschaften, demokratische Reformen. In Deutschland entfaltete Lassalle eine Agitation für Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe; der Staat sollte sich seiner sozialen Aufgaben zugunsten der Arbeiterklasse bewußt werden, und um ihn dazu zu zwingen, sollte die Demokratie, die Herrschaft der Massen über den Staat, dienen. So wird es verständlich, daß die von Lassalle begründete Partei sich den bescheidenen Namen Sozialdemokratie zulegte; in diesem Namen wird zum Ausdruck gebracht, daß das Ziel der Partei die Demokratie mit sozialem Zweck war.
Aber allmählich wuchs die Partei über diese engen ersten Ziele hinaus. Die stürmische kapitalistische Entwicklung Deutschlands, die Kriege zur Gründung des deutschen Reiches, das Bündnis von Bourgeoisie und junkerlichem Militarismus, das Sozialistengesetz, die reaktionäre Zoll- und Steuerpolitik, trieben die Arbeiterschaft in einen scharfen Klassenkampf hinein und machten sie zur Führerin in der europäischen Arbeiterbewegung, die ihren Namen und ihre Losungen übernahm. Die Praxis schärfte ihren Geist zum Verständnis der Marx'schen Lehren, die vor allem von Kautsky in zahlreichen Popularisierungen und Anwendungen den Sozialisten zugänglich gemacht wurden. Und so wurden die Prinzipien und Ziele des alten Kommunismus: das kommunistische Manifest von ihr als ihre Programmschrift, der Marxismus als ihre Theorie, der Klassenkampf als ihre Taktik, die Eroberung der politischen Herrschaft durch das Proletariat, die soziale Revolution als ihr Ziel anerkannt.
Dennoch war ein Unterschied vorhanden; der Charakter des neuen Marxismus, der Geist der ganzen Bewegung war anders als der alte Kommunismus. Die Sozialdemokratie wuchs empor, inmitten einer kräftigen kapitalistischen Entwicklung. An einen gewaltsamen Umsturz war vorerst nicht zu denken. Deshalb verlegte man die Revolution auf die ferne Zukunft und stellte sich mit Propaganda und Organisation zu deren Vorbereitung und mit dem Kampfe für unmittelbare Verbesserungen zufrieden. Die Theorie betonte, daß die Revolution als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung notwendig kommen müsse und vergaß dabei, daß die Aktion, die spontane Tätigkeit der Massen zu ihrem Kommen notwendig sei. So wurde sie zu einer Art ökonomischem Fatalismus. Die Sozialdemokratie und die nachher emporkommenden Gewerkschaften wurden zu einem Glied der kapitalistischen Gesellschaft; sie verkörperten darin den wachsenden Widerstand und die Opposition der Arbeitermassen, und sie waren das Organ, das die völlige Verelendung der Massen durch den Druck des Kapitals verhinderten. Durch das allgemeine Wahlrecht wuchsen sie zu einer starken Opposition innerhalb des bürgerlichen Parlaments empor. Ihr Grundcharakter war, trotz der Theorie, reformistisch, auf das Unmittelbare, Kleine gerichtet, statt revolutionär; und die Grundursache dafür lag in der kapitalistischen Prosperität, die den proletarischen Massen eine gewisse Lebenssicherheit gab und keine wirklich revolutionäre Stimmung aufkommen ließ.
In dem letzten Jahrzehnt verstärkten sich diese Tendenzen. Die Arbeiterbewegung hatte nahezu erreicht, was unter diesen Umständen erreichbar war: sie war zu einem mächtigen Parteigebilde ausgewachsen, das eine Million Mitglieder und ein Drittel aller Wählerstimmen umfaßte, und neben ihr stand eine Gewerkschaftsbewegung, die den Hauptteil der organisierungsfähigen Arbeiter in sich aufgenommen hatte. Sie stieß jetzt ihr Haupt gegen eine mächtigere Schranke, gegen die sie mit den altbewährten Mitteln nicht aufkommen konnte: die starken Organisationen des Großkapitals in Syndikaten, Unternehmerverbänden und Interessengemeinschaften, sowie die von Finanzkapital, schwerer Industrie und Militarismus geführte Politik des Imperialismus, die größtenteils außerhalb des Parlaments geleitet wurde. Zu einer völligen Umwandlung und Erneuerung der Taktik war aber diese Arbeiterbewegung nicht fähig, die mächtigen Organisationen waren einmal da, sie waren Selbstzweck geworden und wollten sich behaupten. Träger dieser Tendenz war die Bürokratie, dies zahlreiche Heer der Beamten, Führer, Parlamentarier, Sekretäre, Redakteure, die eine eigene Gruppe mit eigenen Interessen bildeten. Unter ihren Händen war allmählich das Ziel, unter Beibehaltung der alten Namen, ein anderes geworden. Eroberung der politischen Herrschaft durch das Proletariat war für sie Eroberung der Mehrheit durch ihre Partei, Ersetzung der regierenden Politiker und der Staatsbürokratie durch sie, die sozialdemokratischen Politiker und die Partei- und Gewerkschaftsbürokratie. Neue Gesetze zugunsten des Proletariats, die sie dann erlassen würden, sollten den Sozialismus verwirklichen. Und diese Auffassung herrschte nicht nur bei den Revisionisten, auch Kautsky, der theoretische Politiker der Radikalen, erklärte in einer Diskussion, daß die Sozialdemokratie den Staat mit all seinen Organen und Ministerien erhalten und bloß andere Leute, Sozialdemokraten, an die Stelle der damaligen Minister einsetzen wollte.
Der Weltkrieg brachte auch die Krise innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokratie stellte sich unter die Losung der „Vaterlandsverteidigung“ überall in den Dienst des Imperialismus; die Partei- und Gewerkschaftsbürokratie arbeiteten Hand in Hand mit der Staatsbürokratie und dem Unternehmertum, die Arbeiter zu zwingen, Kraft, Blut und Leben bis zum äußersten herzugeben. Es war der Zusammenbruch der Sozialdemokratie als Partei der Proletarischen Revolution. Nun kam, trotz der scharfen Unterdrückung, in allen Ländern die Opposition allmählich empor und erhob aufs neue die alte Fahne des Klassenkampfes, des Marxismus und der Revolution. Unter welchem Namen sollte sie kämpfen? Sie könnte sich mit Recht auf die alten Losungen der Sozialdemokratie berufen, die die sozialdemokratischen Parteien im Stich gelassen hatten. Aber der Name „Sozialist“ war jetzt bedeutungslos und kraftlos geworden, da praktisch der Unterschied zwischen Sozialisten und Bürgerlichen völlig verschwunden war. Um den Klassenkampf zu führen, mußte zuerst und in schärfster Weise der Kampf gegen die Sozialdemokratie geführt werden, die das Proletariat in den Abgrund des Elends, der Unterwürfigkeit, des Krieges, der Vernichtung, der Machtlosigkeit, gestürzt hatte. Konnten die neuen Kämpfer diesen geschändeten, entehrten Namen annehmen? Ein neuer Name war notwendig und welcher Name war da mehr geeignet als der alte ursprüngliche der ersten Träger des Klassenkampfes? In allen Ländern springt derselbe Gedanke auf, wieder den Namen Kommunismus anzunehmen.
Wieder, wie zu Marx' Zeiten, stehen sich der Kommunismus als proletarisch-revolutionäre und der Sozialismus als bürgerlich-reformerische Richtung gegenüber. Und der neue Kommunismus ist nicht einfach eine Neuauflage der Lehre der radikalen Sozialdemokratie. Aus der Weltkrise hat er neue Einsichten gewonnen, die ihn weit über jene alte Lehre hinausheben. Den Unterschied dieser Lehren wollen wir jetzt betrachten.
II. Klassenkampf und Sozialisierung
In ihrer besten Zeit stellte die Sozialdemokratie den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie als ihr Prinzip auf, die Durchführung des Sozialismus als ihr Ziel, sobald die Eroberung der politischen Herrschaft gelungen sein sollte. Jetzt hat die Sozialdemokratie dieses Prinzip und dieses Ziel fallen gelassen; jetzt werden beide nur von den Kommunisten aufrecht erhalten.
Als der Krieg ausbrach, hat die Sozialdemokratie den Kampf gegen die Bourgeoisie eingestellt. Kautsky erklärte, daß der Klassenkampf nur für die Zeit des Friedens gelte, während im Kriege die Klassensolidarität gegen die fremde Nation an seine Stelle trete. Als Grund gab er nur die Lüge des „Verteidigungskrieges“ an, womit die Massen zu Kriegsanfang übertölpelt wurden. Die Mehrheitler und die Unabhängigen unterschieden sich nur dadurch, daß die ersteren begeistert die Kriegspolitik der Bourgeoisie mitmachten, während die letzteren sie schweigend duldeten, weil sie den Kampf nicht zu führen wagten. Nach dem Zusammenbruch des deutschen Militarismus im November 1918 zeigte sich wieder dasselbe Bild. Die sozialdemokratischen Führer regieren zusammen mit den bürgerlichen Parteien und versuchen den Arbeitern weiszumachen, daß dies die politische Herrschaft des Proletariats sei. Aber sie benutzten ihre Herrschaft über die Ämter und Ministerstellen nicht dazu, den Sozialismus durchzuführen, sondern dazu, den Kapitalismus wieder aufzurichten. Dabei ist zu bedenken, daß die große, gewaltige Kapitalmacht, der Hauptfeind und Bedrücker des Proletariats, jetzt das Ententekapital ist, das heute Meister der Welt ist. Die deutsche Bourgeoisie, machtlos niedergeworfen, kann nur noch existieren als Handlanger und Agent des Entente-Imperialismus, damit beauftragt, die deutschen Arbeiter niederzuhalten und für das Ententekapital auszubeuten. Als politische Vertreter dieser Bourgeoisie haben die Sozialdemokraten, die jetzt die deutsche Regierung bilden, die Aufgabe, die Befehle der Entente entgegenzunehmen und sie um Schonung und Hilfe anzubetteln.
Und die Unabhängigen, die während des Krieges die Arbeiter von dem Kampfe gegen den mächtigen deutschen Imperialismus zurückhielten, haben nach dem Kriege ihre Aufgabe darin gesehen — z. B. durch Verherrlichung des Wilsonschen Völkerbundes und durch ihre Propaganda für den Versailler Frieden — die Arbeiter von jedem Kampf gegen diese Hauptmacht des Weltkapitalismus zurückzuhalten.
In der früheren Oppositionszeit der Sozialdemokratie vor dem Kriege konnte man den oppositionellen Führern den guten Glauben zubilligen, daß ihre Erhebung zu den hohen Regierungsstellen deshalb die politische Herrschaft des Proletariats bedeute, weil sie dann als Vertreter der Arbeiter Gesetze zur Durchführung oder wenigstens zur Anbahnung des Sozialismus zustande bringen würden. Aber jeder Arbeiter weiß, daß davon - trotz gelegentlicher Proklamationen - nichts zu bemerken ist. Soll man dann annehmen, daß diese Herren, einmal ans Ziel ihres Ehrgeizes gelangt, keine weiteren Wünsche und Ziele haben, daß also ihre Sozialdemokratie einfach Streberei war? Zum Teil jedenfalls. Aber daneben sind auch noch bessere Gründe für ihr Verhalten anzugeben. Von sozialdemokratischer Seite ist die Anschauung verkündet worden, daß es unter den heutigen Verhältnissen, nach dem furchtbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch gar nicht möglich sei, den Sozialismus durchzuführen. Und hier haben wir einen wichtigen Gegensatz in der Stellung des Kommunismus und der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokraten sagen, daß der Sozialismus nur möglich ist, in einer Gesellschaft des Überflusses, der blühenden Prosperität. Die Kommunisten sagen, daß in solchen Zeiten der Kapitalismus am festesten steht, weil dann die Massen nicht an eine Revolution denken. Die Sozialdemokraten sagen: zuerst muß die Produktion wieder in Gang gebracht werden, damit eine völlige Katastrophe, eine Verhungerung der Massen, verhindert wird. Die Kommunisten sagen: jetzt, da die Wirtschaft zusammengebrochen ist, ist die richtige Zeit, sie auf neuer sozialistischer Grundlage aufzubauen. Die Sozialdemokraten sagen: Die einfachste Wiederaufrichtung der Produktion findet statt unter Beibehaltung der alten kapitalistischen Produktionsordnung, wozu die Einrichtungen vorhanden sind und wobei ein verheerender Klassenkampf gegen die Bourgeoisie vermieden wird. Die Kommunisten sagen: ein Wiederaufbau der kapitalistischen Grundlage ist gar nicht möglich; die Welt sinkt vor unseren Augen immer tiefer in den Bankerott, in die Verelendung hinein; daher muß der Widerstand der Bourgeoisie gegen die einzig mögliche Methode des Aufbaues gebrochen werden. Also: die Sozialdemokraten wollen jetzt zuerst den Kapitalismus wiederherstellen, unter Vermeidung des Klassenkampfes; die Kommunisten wollen jetzt den Sozialismus neu aufbauen, unter Führung des Klassenkampfes.
Wie liegt nun die Sache? Der gesellschaftliche Arbeitsprozeß ist die Produktion aller zum Leben notwendigen Güter. Aber die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist nicht der Zweck der kapitalistischen Produktion. Zweck ist der Mehrwert, der Profit. Nur auf den Profit ist alles Wirken der Kapitalisten gerichtet, nur deshalb lassen sie die Arbeiter in ihren Fabriken und auf ihrem Lande Güter fabrizieren, die für unsere Bedürfnisse nötig sind. Jetzt ist dieser ganze Arbeitsprozeß gestört und zusammengebrochen. Gewiß werden noch immer Profite gemacht, sogar Riesenprofite, aber das geschieht auf den krummen Wegen der Schiebung, des Wuchers, des Diebstahls, des Schleichhandels und der Spekulation. Soll die regelmäßige Quelle des Profits für die ganze Bourgeoisie wieder fließen, so muß die Produktion, der Arbeitsprozeß in Gang gebracht werden. Ist das möglich?
Soweit es sich um die Arbeit, die Produktion handelt, kann es nicht schwer sein. Die Arbeitermassen sind da und zum Arbeiten bereit. Lebensmittel wachsen in Deutschland genug. Rohstoffe, Kohlen, Eisen sind allerdings zu wenig vorhanden für die große Anzahl der hochqualifizierten industriellen Arbeiter, aber durch einen Tauschverkehr mit den weniger industriellen, rohstoffreichen Ländern Osteuropas wäre diesem Mißverhältnis leicht abzuhelfen. In dem Neuaufbau der Produktion liegt nicht etwas übermenschlich Schweres. Aber kapitalistische Produktion bedeutet, daß ein Teil des Produkts den Kapitalisten als arbeitsloses Einkommen zufällt.
Die bürgerliche Rechtsordnung ist das Mittel, ihnen diesen Teil von selbst, kraft ihres Eigentumrechtes zur Verfügung zu stellen. Durch dieses Recht hat das Kapital „Anspruch“ auf seinen Profit. So war es auch schon vor dem Kriege. Aber der Krieg hat den Anspruch des Kapitals auf Profit außerordentlich gesteigert. Die Staatsschuld ist auf fast gleichviele Milliarden gestiegen, als sie früher Millionen betrug. Das bedeutet, daß die Besitzer der Staatsschuldscheine den Anspruch erheben, aus dem Gesamtarbeitsertrag des Volkes zuerst ihre Milliarden Zinsen als arbeitsloses Einkommen zu bekommen, die vom Staat in der Gestalt von Steuern einzutreiben sind. Für Deutschland kommen dann die Kriegsentschädigungen an die Entente hinzu, die Gesamtsumme bei der Art Schulden wird auf 200 - 300 Milliarden angegeben, mehr als die Hälfte des sogenannten Volksvermögens. Der Sinn dieses Ausdrucks ist, daß von dem Gesamtertrag der Produktion zuerst mehr als die Hälfte an die Kriegsanleihe- und die Ententekapitalisten abgegeben werden soll. Dann kommt die eigene deutsche Bourgeoisie, die einen möglichst hohen Profit machen will, um neues Kapital akkumulieren zu können. Was bleibt da für die Arbeiter selbst übrig? Jedenfalls muß auch der Arbeiter leben; aber es ist klar, daß unter diesen Verhältnissen seine Lebenshaltung bis zum möglichst niedrigen Grad herunter gedrückt werden wird, während die Aufbringung aller dieser Kapitalprofite nur bei intensivster Arbeit, bei sehr langer Arbeitszeit, und bei verfeinerten Ausbeutungsmethoden möglich ist.
Die kapitalistische Produktion bedeutet jetzt einen so hohen Grad der Ausbeutung, daß sie für die Arbeiter unerträglich, ja unmöglich wird. Neuaufbau der Produktion an sich, hat keine übermäßige Schwierigkeit - wenn es auch eine tüchtige Organisation und eifrige, begeisterte Mitarbeit des ganzen Proletariats erfordert. Aber ein Neuaufbau der Produktion unter diesem furchtbaren Druck, dieser systematischen Ausplünderung, die dem Produzenten nur das notwendigste zum Leben läßt, ist praktisch unmöglich. Schon der Versuch dazu muß an dem Widerstand und an dem Widerwillen der Arbeiter, denen jede Aussicht auf Lebenssicherheit genommen wird, scheitern, zum allmählichen Ruin der ganzen Wirtschaft führen. Deutschland bietet dafür jetzt ein Beispiel.
Schon während des Krieges haben die Kommunisten die Unmöglichkeit erkannt, die ungeheuren Kriegsschulden und ihre Zinsen zu bezahlen und die Forderung aufgestellt: Annullierung der Kriegsschulden und Kriegsentschädigungen. Aber dabei kann man nicht stehen bleiben. Sollen die Anleihen während des Krieges annulliert werden? Wenn nicht, dann die früheren Anleihen zur Vorbereitung des Krieges? Ob ein Kapital in Kriegsanleihen zur Fabrikation von Kanonen oder in Aktien einer Fabrik zur Fabrikation von Schienen oder Granaten angelegt wurde, macht wenig Unterschied. Man kann hier nicht zwischen verschiedenen Arten des Kapitals Unterschied machen und den Anspruch eines Kapitals auf Profit anerkennen, während man den des anderen ablehnt. Aller Kapitalprofit ist eine Belastung der Produktion, die den Neuaufbau erschwert. In einer blühenden Wirtschaft ist nicht nur die furchtbar schwere Belastung durch die Kriegskosten, sondern jede Belastung ein schweres Hemmnis. Daher ist das Prinzip des Kommunismus, der prinzipiell jeden Anspruch des Kapitals auf Profit verneint, gerade jetzt das einzig praktisch durchführbare. Die Wirtschaft ist praktisch nur neu aufzubauen unter Ausschaltung von allem Kapitalprofit.
Die Ablehnung des Kapitalprofits war auch immer ein Grundsatz der Sozialdemokratie. Wie stellt sich nun die echte prinzipielle radikale Sozialdemokratie der Unabhängigen dazu? Sie kämpft für die Sozialisierung, wobei sie die Betriebe durch Enteignung an den Staat bringen und die Besitzer durch Staatsschuldscheine entschädigen will. Das bedeutet, daß noch immer, aber jetzt durch Vermittlung des Staats, ein Teil des Arbeitsprodukts diesen Kapitalisten als arbeitsloses Einkommen zufallen wird. Die Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital bleibt bestehen. Im Sozialismus waren immer zwei Dinge enthalten: Aufhebung der Ausbeutung und gesellschaftliche Regelung der Produktion. Das erste ist für das Proletariat das wesentliche Ziel, das zweite ist die vernünftige Methode zur Steigerung des Ertrages, die technische Organisation. Nach den sozialdemokratischen Sozialisierungsplänen bleibt jedoch die Ausbeutung bestehen und die Enteignung der Betriebe führt bloß zum Staatskapitalismus (oder Staatssozialismus), der den kapitalistischen Unternehmer in einen Staatsaktionär umwandelt. Diese Sozialisierung - wie sie die Sozialdemokraten jetzt vertreten, bedeutet also einen Betrug des Proletariats, dem der äußere Schein des Sozialismus vorgetäuscht wird, während in der Tat die Ausbeutung aufrechterhalten wird. Der Grund für diese Haltung liegt zweifellos in der Furcht vor einem scharfen Konflikt mit der Bourgeoisie zu einer Zeit, da das Proletariat erst erwacht und noch nicht alle Kräfte zum revolutionären Kampfe gesammelt hat. Aber in der Praxis bedeutet sie einen Versuch, den Kapitalismus auf anderer Grundlage neu aufzubauen. Dieser Versuch muß natürlich ebenso scheitern an der Tatsache, daß die verarmte Wirtschaft Liebesgaben an das Kapital nicht erträgt.
Die Sozialdemokraten beider Richtungen wollen also die Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital erhalten, die eine Richtung offen - die andere - schlau versteckt, die eine Richtung, indem sie die Kapitalisten schalten läßt, die andere, indem sie die Ausbeutung durch den Staat betreibt und reguliert. Und beide haben daher für das Proletariat nur die Losung: Arbeitet! Arbeitet! Arbeitet fleißig, mit aller Anstrengung! Denn der Aufbau der kapitalistischen Wirtschaft ist nur möglich, wenn das Proletariat sich selbst zur schwersten Ausbeutung zwingt.
III. Massenaktion und Revolution
Der Gegensatz zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie trat auch schon vor dem Kriege, wenn auch nicht unter diesem Namen auf. Er betraf damals die Taktik des Kampfes. Unter dem Namen „Linksradikale“ trat damals in der Sozialdemokratie eine Opposition hervor (aus ihr stammen die älteren der heutigen Kommunisten), die gegenüber den Radikalen und den Revisionisten die Notwendigkeit der Massenaktion verfocht. In diesem Streite war es vor allem, in dem die radikalen Wortführer, namentlich Kautsky, den revolutionsfeindlichen Charakter ihrer Anschauungen und ihrer Taktik hervortreten lassen mußten.
Der parlamentarische und der gewerkschaftliche Kampf hatten unter dem kräftig emporstrebenden Kapitalismus den Arbeitern einige Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse gebracht und zugleich einen kräftigen Damm gegen die nie ruhenden Verelendungstendenzen des Kapitalismus gebaut. Aber in dem letzten Jahrzehnt gab dieser Damm trotz der stark wachsenden Organisation allmählich nach: der Imperialismus stärkte die Macht des Unternehmertums und des Militarismus, schwächte das Parlament, trieb die Gewerkschaften in die Defensive und bereitete den Weltkrieg vor. Es wurde klar, daß die alten Kampfmethoden nicht mehr ausreichten. Instinktiv empfanden das die Massen; in allen Ländern sieht man sie in Aktionen losbrechen, oft gegen den Willen ihrer Führer, bald in riesigen gewerkschaftlichen Kämpfen, bald in Verkehrsstreiks, die die Wirtschaft lähmen, bald in Demonstrationen politischen Charakters. Oft erschüttert der Ausbruch proletarischer Empörung und proletarischer Kraft die Selbstsicherheit der Bourgeoisie in solchem Maße, daß sie Zugeständnisse macht; oft auch werden die Bewegungen durch Metzeleien erstickt. Die sozialdemokratischen Führer suchen diese Aktionen auch für ihre politischen Ziele zu benutzen; sie erkennen die Nützlichkeit politischer Streiks für bestimmte Ziele an, bloß unter der Bedingung, daß sie sich innerhalb der vorgeschriebenen Schranken halten, auf Geheiß der Führer begonnen und abgebrochen werden, und jedenfalls der offiziellen Taktik dieser Führer untergeordnet bleiben. So werden sie bisweilen auch angewandt; aber meist ohne viel Resultat. Die stürmische Gewalt des Elementarausbruchs der Massen wird durch die Politik der Kompromisse, der er dienen soll, gelähmt. Was die herrschende Bourgeoisie sonst mit Furcht schlägt: die Unsicherheit, wie weit sich die Aktion zu einer revolutionären Bewegung entwickeln könnte, fehlte beiden „disziplinierten“ Massenaktionen, deren Harmlosigkeit im voraus angekündigt wurde.
Die revolutionären Marxisten, die späteren Kommunisten, haben damals schon die Beschränktheit der herrschenden sozialdemokratischen Auffassung durchschaut. Sie sahen, daß während der ganzen Geschichte die Massen, die Klassen selbst, die treibende und die aktive Kraft aller Umwälzungen war. Die Revolutionen entstanden nie aus dem klugen Beschluß anerkannter Führer; wenn die Verhältnisse, wenn die Lage unerträglich geworden war, brachen die Massen aus irgend einem Anlaß los, fegten die alten Gewalten weg und die neue, zur Herrschaft berufene Klasse oder Schicht gestaltete Staat oder Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen um. Nur während des letzten halben Jahrhunderts ruhiger kapitalistischer Entwicklung konnte die Illusion aufkommen, die Führer, die einzelnen Personen, lenkten nach ihrer höheren Einsicht die Geschichte. Die Parlamentarier im Parlament, die Beamten der Zentralvorstände glauben, ihre Taten, Reden, Verhandlungen, Entscheidungen, bestimmen den Gang der Ereignisse; die Massen hinter ihnen sollen nur gelegentlich auftreten, wenn sie gerufen werden, den Worten der Wortführer Nachdruck zu verleihen, um dann wieder schleunigst von der politischen Bildfläche zu verschwinden. Die Masse habe bloß eine passive Rolle zu spielen, sie habe die Führer zu wählen, die dann als die aktive wirksame Kraft der Entwicklung handeln.
War diese Auffassung schon beschränkt im Hinblick auf die früheren Revolutionen in der Geschichte, so ist sie es noch mehr, wenn man den tiefen Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer proletarischen Revolution ins Auge faßt. In bürgerlichen Revolutionen trat die Volksmasse von Arbeitern und Kleinbürgern nur einmal auf (wie in Paris im Februar 1848) oder nur dann und wann, wie in der großen französischen Revolution, um das alte Königtum oder eine neue unhaltbare Gewalt, wie die der Girondisten zu stürzen. Hatten sie ihre Arbeit getan, dann traten als neue Männer, als neue Regierung, die Vertreter der Bourgeoisie auf, um die Staatsinstitute, die Verfassung, die Gesetze, umzugestalten und zu erneuern. Proletarische Massenkraft war nötig, um das alte zu stürzen, aber nicht um das neue aufzubauen, denn der Neuaufbau war die Organisation einer neuen Klassenherrschaft.
Nach diesem Muster dachten sich die radikalen Sozialdemokraten auch die proletarische Revolution; die sie - im Gegensatz zu den Reformisten - als notwendig voraussahen. Eine große Volkserhebung sollte die alte militärisch-absolutistische Herrschaft wegfegen, die Sozialdemokraten an die Spitze bringen, und diese würden dann das weitere besorgen und durch neue Gesetze den Sozialismus aufbauen. So dachten sie sich die proletarische Revolution. Aber diese Revolution ist etwas ganz anderes. Die proletarische Revolution ist die Befreiung der Massen aus aller Klassenherrschaft und Ausbeutung. Das bedeutet, daß sie selbst ihre Geschicke in die Hand nehmen, daß sie selbst Meister über ihre Arbeit sein müssen. Aus dem alten Geschlecht beschränkter Arbeitssklaven, die nur an sich denken und nichts weiter sehen als ihre Werkstatt, müssen neue Menschen werden, trotzig, kampfbereit, unabhängigen Geistes, von kräftiger Solidarität erfüllt, nicht mehr durch den schlauen Betrug der bürgerlichen Lehren zu verwirren und fähig, selbständig die Arbeit zu regeln. Diese Umwandlung kann nicht nur durch einen einzigen Revolutionsakt zustande kommen, ein langer Prozeß des Kampfes ist nötig, in dem die Arbeiter durch Not und bittere Enttäuschungen, durch gelegentliche Siege und wiederholte Niederlagen allmählich die Kraft, die feste Einheit und die Reife zur Freiheit und Herrschaft gewinnen. Dieser Kampfprozeß ist die proletarische Revolution.
Wie lange dieser Prozeß dauern wird, ist nach Ländern und Umständen verschieden und hängt vor allem von der Widerstandskraft der herrschenden Klasse ab. Daß er in Rußland relativ rasch vollendet war, lag daran, daß die Bourgeoisie schwach war und durch ihr Bündnis mit dem Landadel die Bauern auf die Seite der Arbeiter trieb. Das große Machtinstitut der Bourgeoisie ist die Staatsgewalt, die gewaltige, feinverzweigte Organisation der Herrschaft mit allen seinen Machtmitteln: Gesetzgebung, Schule, Polizei, Justiz, Militär und der Bürokratie, die die Leitung aller Zweige des öffentlichen Lebens in der Hand hat. Die Revolution ist der Kampf des Proletariats gegen diesen Machtapparat der herrschenden Klasse, und es kann seine Freiheit nur gewinnen, indem es der feindlichen Organisation eine stärkere, festere Organisation gegenüberstellt. Staatsgewalt und Bourgeoisie suchen die Arbeiter machtlos, zersplittert und zaghaft zu halten, jede erwachende Einheit durch Gewalt und Betrug zu brechen, in allen Aktionen ihre Kraft zu zermürben. Demgegenüber tritt die Arbeitermasse in Massenaktionen auf, deren Wirkung die Lähmung und Abbröckelung der staatlichen Organisationen ist. Solange letztere intakt bleibt, kann das Proletariat nicht siegen, denn immer wieder wird es sie gegen sich auftreten sehen. Der Kampf muß also - wenn nicht die Welt im Kapitalismus zugrunde gehen soll - damit enden, daß schließlich unter den unaufhörlichen mächtigen Aktionen des Proletariats die bürokratische Staatsmaschinerie zermürbt wird und machtlos zusammenbricht.
Gegen diese Auffassung ist schon vor dem Kriege Kautsky aufgetreten. Er führte aus, das Proletariat dürfe diese Taktik nicht befolgen, die auf eine Vernichtung der Staatsgewalt hinauslaufen würde, denn es braucht selbst den Staatsapparat für seine Zwecke. Alle Ministerien des heutigen Staates seien unter der Herrschaft des Proletariats auch nötig, um die Gesetze im Interesse der Arbeiter durchzuführen. Nicht den Staat vernichten, sondern den Staat erobern, müsse das Ziel des Proletariats sein. Die Frage, wie die Herrschaftsorganisation des siegreichen Proletariats beschaffen sein müsse - ob eine Fortsetzung des bürgerlichen Staates, wie Kautsky dachte, oder eine ganz neu aufgebaute Organisation, war damit gestellt. Aber die sozialdemokratischen Theorien, wie sie seit 30 Jahren von Kautsky formuliert und propagiert wurden, hatten immer nur über Ökonomie und Kapitalismus geredet, aus denen der Sozialismus „notwendig“ hervorgehen müsse; das „wie“ hatten sie nie behandelt und daher konnte die Frage von Staat und Revolution damals nicht beantwortet werden. Sie wurde erst später aufgeklärt. Der Gegensatz zwischen der sozialdemokratischen und der kommunistischen Auffassung über die Revolution trat aber schon klar hervor.
Für die Sozialdemokraten ist die proletarische Revolution ein einmaliger Akt, eine Volkserhebung, die die alte Gewalt stürzt und Sozialdemokraten an die Spitze des Staates in die Regierungsstellen setzt. Der Sturz der Hohenzollern in Deutschland am 7. Nov. 1918 ist für sie eine echte proletarische Revolution, die nur durch den besonderen Umstand, daß die alte Gewalt durch den Krieg zerrüttet war, so leicht zum Siege gelangte. Für die Kommunisten konnte diese Revolte nur ein Anfang der proletarischen Revolution sein, der durch Aufhebung des alten Drucks den Weg für die Arbeiter öffnete, um durch Aufbau ihrer Klassenorganisation die alten Gewalten zu untergraben. In Wirklichkeit ließen die Arbeiter unter Führung der Sozialdemokratie zu und halfen mit, die Staatsgewalt nach einem Moment der Lähmung wieder fest aufzubauen; sie stehen noch immer vor einer Zeit schwerer Kämpfe. Für Kautsky und seine Freunde ist Deutschland eine wirkliche sozialdemokratische Republik - Noske und seine Reichswehr sind nur Schönheitsfehler - in der die Arbeiter, wenn auch nicht regieren, so doch mitregieren. Allerdings auf den Sozialismus sollen sie noch nicht rechnen. Kautsky hat immer wieder betont, daß die soziale Revolution nach marxistischer Anschauung nicht auf einmal stattfinden kann, sondern ein langer geschichtlicher Prozeß ist: der Kapitalismus sei eben noch nicht reif zur wirtschaftlichen Revolution. Das soll mit anderen Worten besagen: obgleich die proletarische Revolution stattfand, sollen die Proletarier sich in alter Weise ausbeuten lassen und erst allmählich sollen hoffentlich einige dazu geeignete Großbetriebe verstaatlicht werden. Oder in noch dürreren Worten: an die Stelle der alten Minister sind Sozialdemokraten an die Spitze des Staates getreten, aber der Kapitalismus mit seiner Ausbeutung bleibt bestehen. Das ist der praktische Sinn der sozialdemokratischen Anschauung, nach einer einmaligen, proletarischen, revolutionären Erhebung müsse ein längerer Prozeß der Sozialisierung, der sozialen Revolution folgen. Der Kommunismus stellt dem die Anschauung gegenüber, daß die proletarische Revolution, die Besitzergreifung durch das Proletariat ein längerer Prozeß des Massenkampfes ist, währenddessen das Proletariat reif wird zur Herrschaft und die alte Staatsmaschinerie zugrunde geht. Am Wendepunkt dieses Kampfes, wenn den Arbeitern die Macht zufällt, wird dann mit der Ausbeutung kurzer Prozeß gemacht, die Aufhebung allen Anspruchs auf arbeitsloses Einkommen sofort proklamiert, und auf dieser neuen rechtlichen Grundlage der Neuaufbau der Wirtschaft zu einem organisierten, zielbewußten Produktionsmechanismus begonnen.
IV. Demokratie und Parlamentarismus
Die sozialdemokratische Lehre hatte sich nie mit der Frage beschäftigt, in welchen politischen Formen die Arbeiter ihre Herrschaft ausüben werden, sobald sie die Macht erobert haben. Der Beginn der proletarischen Revolution hat auf diese Frage durch Taten die praktische Antwort gegeben. Diese Praxis der beginnenden Revolution hat auf einmal unsere Einsicht in Wesen und Gang der Revolution enorm gehoben, unsere Anschauungen geklärt und neue Einblicke gewährt in das, was früher verschwommen in nebliger Ferne lag. Diese neuen Anschauungen bilden den bedeutendsten Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Wenn der Kommunismus in den bisher betrachteten Punkten die treue Stütze und die folgerichtige Fortsetzung der besten sozialdemokratischen Lehren war, so hebt er sich jetzt durch ganz neue Einblicke über die alte Theorie des Sozialismus hinaus. Der Marxismus erfährt in dieser Theorie des Kommunismus eine bedeutende Erweiterung und Bereicherung.
Nur wenige waren sich zuvor davon bewußt, daß die radikale Sozialdemokratie in ihrer Auffassung von Staat und Revolution - worüber sie übrigens nie redete und diskutierte - sich in bedeutendem Maße von den Anschauungen von Marx entfernt hatte. Zu diesen wenigen gehörte an erster Stelle Lenin. Erst der Sieg der Bolschewiki 1917 und ihre Auflösung der Nationalversammlung bald nachher, zeigt den westeuropäischen Sozialisten, daß dort ein neues Prinzip auftrat. Und in der Leninschen Schrift Staat und Revolution, die im Sommer 1917 verfaßt worden war, aber erst im nächsten Jahr in Westeuropa bekannt wurde, fanden sie dann die Grundlagen der kommunistischen Staatslehre im Anschluß an Marx' Äußerungen auseinandergesetzt.
Der Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Sozialismus, um den es sich hier handelt, wird gewöhnlich in dem Ausdruck „Demokratie oder Diktatur“ zusammengefaßt. Aber auch die Kommunisten betrachten ihr System als eine Form der Demokratie. Wenn die Sozialdemokraten von der Demokratie reden, meinen sie damit die Demokratie angewandt auf den Parlamentarismus, was sie verfechten, ist die parlamentarische oder bürgerliche Demokratie. Wie steht es damit?
Demokratie bedeutet Volksregierung, Selbstregierung des Volkes. Die Volksmasse soll ihre Angelegenheiten selbst regeln und darüber gebieten. Ist das jetzt der Fall? Jedermann weiß, daß dem nicht so ist. Die Staatsgewalt beherrscht und regelt die gemeinsamen Angelegenheiten, sie regiert das Volk, das die Untertanen bildet. Praktisch besteht der Staatsapparat aus der Gesamtheit der Beamten und Militärs. In jedem Gemeinwesen sind zwar Beamte zur Ausführung der Verwaltungsfunktion nötig, aber in unserem Staate sind sie aus Dienern zu Herrschern des Volkes geworden. Die Sozialdemokratie ist der Ansicht, daß die parlamentarische Demokratie, durch die das Volk seine Regierung wählt, imstande ist - wenn es nur die richtigen Leute wählt - die Selbstregierung des Volkes zu verwirklichen. Wie es damit steht, kann bereits die Erfahrung der neuen deutschen Republik lehren. Daß die Masse der Arbeiter den Kapitalismus nicht wieder hergestellt sehen wollen, ist wohl zweifellos. Bei den Wahlen galt die uneingeschränkte Demokratie, kein militärischer Terrorismus trat hindernd auf, alle Organe der Reaktion waren machtlos - und trotzdem ist das Resultat eine Wiederherstellung der alten Unterdrückung und Ausbeutung, eine Aufrechterhaltung des Kapitalismus gewesen. Die Kommunisten haben damals schon gewarnt und vorausgesagt, daß auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie eine Befreiung der Arbeiter von der Ausbeutung durch das Kapital nicht möglich sei.
Die Volksmasse übt ihre Macht in dem Wählen aus. An dem Wahltag ist die Masse souverän, kann sie ihren Willen durchsetzen, nämlich durch die richtige Wahl ihrer Vertreter. An diesem einen Tag ist sie Herr - aber wehe, wenn sie nicht die richtigen Leute wählt; denn während der ganzen Jahre der Parlamentsdauer sind die Massen machtlos. Sind sie einmal gewählt, so haben die Abgeordneten, die Parlamentarier, über alles zu entscheiden. Diese Demokratie ist nicht eine Regierung des Volkes selbst, sondern eine Regierung der Parlamentarier, die nahezu unabhängig über der Masse stehen. Um sie in höherem Maße abhängig zu machen sind wohl Vorschläge, z.B. alljährliche Neuwahlen oder noch gründlicher - das Abberufungsrecht (verpflichtete Neuwahl, wenn eine bestimmte Anzahl Wähler es fordert) gemacht worden; aber verwirklicht sind diese Vorschläge natürlich nirgends. Gewiß können die Parlamentarier nicht ganz nach Belieben schalten und walten, denn nach vier Jahren müssen sie sich wieder zur Wahl stellen. Aber zu jener Zeit trachtet man die Massen derart mit allgemeinen Losungen zu traktieren und mit demagogischen Phrasen zu übertölpeln, daß sie zu einer kritischen Beurteilung gar nicht kommen. Liegt die Sache so, daß die Wähler am Wahltage sich selbst einen geeigneten Vertreter aussuchen, der in ihrem Namen macht, was sie ihm auftragen? Nein, sie haben nur die Wahl zwischen verschiedenen Personen, die von den politischen Parteien ausgesucht und aufgestellt wurden; und sie sind schon im voraus durch die Zeitungen dieser Parteien bearbeitet worden.
Gesetzt aber den Fall, eine große Anzahl von Personen ist von den Massen als wirkliche Vertreter ihrer Absichten ausgesucht und ins Parlament geschickt worden. Kommen sie dort nun zusammen, so bemerken sie bald, daß das Parlament nicht regiert; es hat nur die Gesetze zu beschließen, aber sie nicht durchzuführen. In dem bürgerlichen Staat besteht eine Trennung der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt; das Parlament hat bloß die erste nebst einer Kontrolle der zweiten; die wirklich ausführende Gewalt, die Durchführung der Gesetze, liegt in den Händen der Bürokratie, des Beamtentums, an dessen Spitze die Regierung als oberste Behörde steht. Zwar heißt es, daß in demokratischen Ländern die Personen dieser Regierung, die Minister von der Parlamentsmehrheit bestimmt werden. Aber sie werden nicht gewählt, sie werden durch Einflüsse hinter den Kulissen, unter Mogelei und Schieberei der Parteiführer so ausgewählt, daß sie eine Parlamentsmehrheit hinter sich haben. Mag das Parlament also auch in hohem Maße den Volkswillen vertreten, von ihm bis zur Regierung verliert dieser Volkswille wieder viel an Geltung.
Erst in den Personen dieser Regierung begegnet der Volkswille, meistens schon geschwächt und mit anderen Einflüssen vermischt, dem Beamtentum, welches das Volk unmittelbar regiert und beherrscht. Aber diese Minister sind nahezu machtlos gegen die ihnen nominell unterstellte festgefügte Organisation der Bürokratie. Sie hat alle Fäden in der Hand, sie macht die Arbeit, nicht der Minister. Er geht nach einiger Zeit und macht anderen Politikern Platz, sie bleibt im Amte. Sie läßt sich den Minister gefallen, der sie im Parlament deckt und sich Gelder für sie bewilligen läßt; sollte er aber gegen sie regieren wollen, so würde er sich einfach unmöglich machen.
Damit ist die sozialdemokratische Auffassung, die Arbeiter könnten durch geeignete Handhabung des allgemeinen Wahlrechts ihre Herrschaft aufrichten und den Kapitalismus aufheben, wohl erledigt. Oder glaubt man, alle diese Beamten, Präsidenten, Geheimräte, Richter, Offiziere und Unteroffiziere, könnten sich etwa auf Geheiß der Ebert und Scheidemann, oder der Dittmann und Ledebour in Organe der Befreiung des Proletariats verwandeln? Das Beamtentum gehört in seinen Spitzen selbst zu der ausbeutenden Klasse und es hat in den mittleren und niederen Posten eine bevorzugte und sichere Stellung über der übrigen Bevölkerung. Dadurch fühlt es sich solidarisch mit der führenden Schicht, die der Bourgeoisie angehört und durch tausend Fäden von Erziehung, Verwandtschaft und Verkehr mit der Bourgeoisie verknüpft ist. Die sozialdemokratischen Führer mögen geglaubt haben, daß sie, wenn sie nur die Stelle der früheren Minister einnehmen würden, durch neue Gesetze den Weg zum Sozialismus für das Proletariat ebnen könnten. In Wirklichkeit ist durch diesen Wechsel der Regierungspersonen an dem Herrschaftsapparat und dem Herrschaftssystem nichts wesentliches geändert; und wenn die Herren das nicht anerkennen wollen, beweist es, daß sie es nur auf die Regierungsposten für sich abgesehen haben und mit diesem Personenwechsel das Ziel der Revolution für erreicht erachten. Dies liegt auch auf der Hand, da die von den Arbeitern selbst geschaffenen modernen Organisationen unter ihrer Führung genau denselben Charakter von Staatswesen im kleinen aufweisen: von Dienern wurden ihre Beamten zu Herrschern, zu einer festgefügten Bürokratie mit eigenen Interessen, der gegenüber die Partei- und Verbandstage immer mehr den schmutzigen Charakter bürgerlicher Parlamente bekamen und nur die Machtlosigkeit der Mitgliedermassen zum Ausdruck brachten.
Soll damit gesagt sein, daß die Benutzung des Parlaments und der Kampf für die Demokratie eine falsche Taktik der Sozialdemokratie gewesen ist? Wir wissen alle, daß unter einem kräftig aufstrebenden, noch unerschütterten Kapitalismus der parlamentarische Kampf ein mächtiges Mittel der Aufrüttelung und der Weckung des Klassenbewußtseins sein kann und auch tatsächlich gewesen ist — so noch zuletzt durch Liebknecht während des Krieges. Dabei durfte aber der wesentliche Charakter des demokratischen Parlamentarismus nie übersehen werden. Er hat den Groll der Massen in sich aufgesogen, ihnen den Schein vorgetäuscht, sie wären selbst die Meister ihres Schicksals, und dadurch jeden Gedanken von einem schärferen Angriff abgelenkt. Er hat dem Kapitalismus unermeßliche Dienste erwiesen, indem er ihm eine ungestörte ruhige Entwicklung gestattete. Natürlich mußte er dabei die besonders widrige moderne Form der Spiegelfechterei und der Demagogie des Parteikampfes annehmen, um seinen Zweck des Volksbetrugs erfüllen zu können. Und jetzt erweist die parlamentarische Demokratie dem Kapitalismus einen noch größeren Dienst, indem sie die Arbeiterorganisationen in den Dienst der Erhaltung des Kapitalismus stellt. Der Kapitalismus ist im Weltkrieg moralisch und physisch so furchtbar geschwächt, daß er nur zu erhalten ist, wenn die Arbeiter selbst ihm wieder auf die Beine helfen. Daher werden überall die sozialdemokratischen Arbeiterführer als Minister eingesetzt, weil nur die ererbte Autorität ihrer Partei und das Trugbild des verheißenden Sozialismus die Arbeiter solange ruhig halten kann, bis die alte Staatsordnung wieder genügend gestärkt worden ist. Das ist die Rolle und der Zweck der Demokratie, der parlamentarischen Demokratie, in dieser Epoche der Umwälzung nicht den Sozialismus zu bringen (das kann sie nicht), sondern den Sozialismus aufzuhalten. Sie kann die Arbeiter nicht befreien, sie kann sie nur fester versklaven, durch Ablenkung ihrer Blicke vom wirklichen Weg zur Befreiung; sie fördert nicht, sondern verzögert die Revolution, sie stärkt die Widerstandskraft der Bourgeoisie und macht so den Kampf für den Sozialismus schwieriger, langwieriger und opferreicher für das Proletariat.
V. Proletarische Demokratie oder Rätesystem
Die Sozialdemokratie dachte sich die Eroberung der politischen Gewalt durch das Proletariat als eine Besitzergreifung des Staatsapparates durch die Arbeiterpartei. Der Staatsmechanismus sollte dabei intakt bleiben und in den Dienst der Arbeiterklasse gestellt werden. Das war auch die Anschauung der Marxisten unter ihnen, wie Kautsky. Marx selbst hat sich aber stets ganz anders ausgesprochen. Marx und Engels sahen in dem Staat die gewaltige Unterdrückungsmaschinerie, die sich die herrschende Klasse geschaffen hatte, und die sich im 19. Jahrhundert um so vollkommener aufbaute, je mehr das Proletariat sich aufzulehnen begann. Marx sah die Aufgabe des Proletariats in der Vernichtung dieses Staatsapparates und in der Schaffung ganz neuer Organe der Verwaltung. Er wußte ganz gut, daß der Staat viele Funktionen ausübt, die äußerlich betrachtet im allgemeinen Interesse liegen - Sicherheit, Verkehr, Unterricht, Verwaltung - aber er wußte auch, daß all diese Tätigkeiten dem großen Ziel dienen: die Interessen des Kapitals besorgen, die Herrschaft des Kapitals sichern. Daher konnte er sich nicht dem Wahn hingeben, daß diese selbe Unterdrückungsmaschinerie sich einfach in ein Organ der Volksbefreiung verwandeln könne, sobald man ihr andere Ziele anhängt. Das Proletariat muß sich selbst das Instrument seiner Befreiung schaffen.
Wie dieses Instrument aussehen muß, konnte nicht von vornherein konstruiert werden; nur die Praxis konnte es zeigen. Zum ersten Mal war das möglich in der Pariser Kommune 1871, als das Proletariat zum ersten Male die Staatsgewalt erobert hatte. Da wählten die Pariser Bürger und Arbeiter nach altem Muster ein Parlament; aber dieses Parlament wurde sofort zu etwas anderem als unsere Parlamente. Es diente ja nicht dazu, das Volk durch schöne Reden zu gängeln und dadurch eine Kapitalisten- und Herrscherclique ungestört ihre Privatgeschäfte besorgen zu lassen; die Männer, die da beisammen saßen, mußten für das Volk die Regelung und Verwaltung aller öffentlichen Angelegenheiten besorgen. Aus einer parlamentarischen verwandelte sie sich in eine arbeitende Körperschaft; sie teilte sich in Kommissionen, die selbst die Arbeit der Durchführung der neuen Gesetze auf sich nahmen. So verschwand die Bürokratie als besondere, unabhängige, das Volk beherrschende Klasse und wurde die Trennung der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt aufgehoben. Die Personen, die als höchste Beamte dem Volke gegenübertraten, waren zugleich unmittelbar Gewählte und Beauftragte des Volkes, die zu jeder Zeit ersetzt werden konnten.
Die kurze Lebenszeit der Pariser Kommune gestattete nicht, diese Neuschöpfung völlig zu entwickeln; sie entstanden gleichsam instinktiv und nur nebenbei unter dem fieberhaften Existenzkampf und dem genialen Blick Marxens war es vorbehalten, darin die ersten Keime der künftigen Formen der proletarischen Staatsgewalt anzuerkennen. Ein neuer bedeutender Schritt wurde im Jahre 1905 in Rußland gemacht durch die Gründung der Räte, der Sowjets, als Organe des revolutionär auftretenden Proletariats. Sie haben es damals nicht zur politischen Herrschaft gebracht, wenn auch der zentrale Petersburger Arbeiterrat die Führung des Kampfes hatte und zeitweilig eine bedeutende Macht besaß. Als aber im Jahre 1917 die neue Revolution ausbrach, traten die Sowjets sofort wieder auf als Organe der proletarischen Macht. Mit der Novemberrevolution nahmen sie die politische Herrschaft in die Hände und bildeten das zweite historische Beispiel einer proletarischen Staatsgewalt. An dem russischen Beispiel sind daher am klarsten die politischen Formen und Prinzipien zu erkennen, die das Proletariat für die Verwirklichung des Sozialismus braucht. Diese Prinzipien stellt der Kommunismus denen der Sozialdemokratie gegenüber.
Das erste Prinzip ist die Diktatur des Proletariats. Marx hat schon vorausgesehen und öfters erklärt, daß sofort nach Besitzergreifung der Macht das Proletariat seine Diktatur aufzurichten habe. Diktatur bedeutet Herrschaft unter Ausschluß der anderen Klassen. Darüber hat sich ein großes Geschrei erhoben: die Gerechtigkeit verbiete eine solche Diktatur, die bestimmten Gruppen rechtlos mache und fordere die Demokratie und gleiches Recht für alle. Nun ist hier aber mit Gerechtigkeitsgründen wenig zu machen: jede Klasse empfindet als Recht und nennt Recht, was für sie gut oder notwendig ist; der Ausbeuter klagt über Unrecht, wenn ihm das Handwerk gelegt wird. In zurückliegender Zeit, als der stolze Junker oder der reiche gebildete Bourgeois mit verächtlicher Mine dem niedrigen, getretenen, unwissenden Arbeitssklaven die politische Gleichheit und die politischen Rechte absprach, da war es schon ein bedeutungsvolles Zeichen erwachender Menschenwürde, als diese Proletarier ihnen entgegenschleuderten: wir haben das gleiche Recht wie ihr. Das Prinzip der Demokratie war der Ausdruck des ersten erwachenden Selbstbewußtsein der arbeitenden Klasse, die noch nicht zu sagen wagt: ich war nichts, aber ich will alles sein. Wenn die Gemeinschaft aller Arbeitenden ihre gemeinsamen Angelegenheiten, d.h. die öffentlichen Angelegenheiten, regeln und über sie beschließen will, haben dann Verbrecher, Diebe, Räuber, Kuponschneider, Kriegsgewinnler, Schieber, Grundherren, Wucherer, Rentiers, kurz, alle die ohne nützliche Arbeit zu leisten auf Kosten des arbeitenden Volkes schmarotzen, irgend ein „natürliches“ oder vom Himmel stammendes Recht darüber mit zu reden? Sagt man, daß jedermann ein natürliches Recht besitzt, über die Politik mitzubestimmen, so hat er sicher ein noch natürlicheres Recht, zu leben und nicht zu hungern und Elend zu leiden; wenn es für die Verwirklichung des letzteren notwendig ist, das erste zu verletzen, wird auch das demokratische Gemüt sich damit zufriedengeben.
Der Kommunismus stützt sich nicht auf irgendein abstraktes Recht, sondern auf die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Ordnung. Das Proletariat hat die Aufgabe, die gesellschaftliche Produktion sozialistisch aufzubauen, die Arbeit neu zu regeln. Aber dabei stößt es auf den erbitterten Widerstand der herrschenden Klasse. Diese wird alles mögliche tun, um die Neuordnung zu hindern und zu stören; deshalb muß die herrschende Klasse von allem politischen Einfluß ausgeschlossen werden. Wenn die eine Klasse vorwärts, die andere rückwärts will, kommt der Wagen nicht vom Fleck und ihre Zusammenarbeit führt nur dazu, daß sie einander lähmen. In der ersten Zeit des Kapitalismus, als er noch emporkommen und sich festigen mußte, hat die Bourgeoisie auch durch ein Zensuswahlrecht ihre Diktatur aufgerichtet. Später konnte und mußte sie zur Demokratie übergehen, wobei die Arbeiter durch einen Schein gleicher Rechte betrogen und ruhig gehalten wurden; diese demokratische Form hat die wirkliche Klassendiktatur der Bourgeoisie nicht angetastet, sondern nur verschleiert, aber sie bot dem emporkommenden Proletariat Gelegenheit, sich zu sammeln und seine Klasseninteressen zu erkennen. Nach dem ersten Siege des Proletariats verfügt die Bourgeoisie noch über so viele Machtmittel geistiger und materieller Natur, daß sie das Werk der Neuregelung erheblich stören, vielleicht sogar völlig lähmen könnte, wollte man ihr die volle politische Bewegungsfreiheit lassen. Es wird sogar nötig sein, mit den schärfsten Gewaltmitteln diese Klasse niederzuhalten und jeden Versuch, die Neuorganisation der Wirtschaft zu hemmen und zu schädigen, als schlimmstes Verbrechen gegen die Lebensinteressen des Volkes, rücksichtslos zu bestrafen.
Nun mag es scheinen, daß dem Ausschluß einer bestimmten Klasse immer der Charakter einer künstlich erdachten und daher offensichtlich ungerechten Willkür anhaftet. Unter einem parlamentarischen System würde das auch zutreffen. Aber durch die besondere Organisation des proletarischen Staates, das Rätesystem werden alle Ausbeuter und Parasiten gleichsam von selbst und automatisch von der Teilnahme an der Regelung der Gesellschaft ausgeschaltet.
Das Rätesystem bildet das zweite Prinzip der kommunistischen Ordnung. In dem Rätesystem wird die politische Organisation auf dem ökonomischen Arbeitsprozeß aufgebaut. Der Parlamentarismus beruht auf dem Individuum in seiner Qualität als Staatsbürger. Historisch hatte das seine Berechtigung, da ursprünglich die bürgerliche Gesellschaft sich zusammensetzte aus einander gleichen Einzelproduzenten, die jeder für sich ihre Waren produzieren und durch die Gesamtheit ihrer kleinen Geschäfte den ganzen Produktionsprozeß bildeten. Aber in der modernen Gesellschaft mit seinen Riesenbetrieben und Klassengegensätzen wird diese Grundlage immer unzeitgemäßer. Mit Recht haben von dieser Seite namentlich die Theoretiker des französischen Syndikalismus (z.B. Lagardelle) scharfe Kritik an dem Parlamentarismus geübt. Die parlamentarische Auffassung steht in jedem Menschen in erster Linie den Staatsbürger, und als solche sind sie einander gleiche abstrakte Individuen. Aber der wirkliche, konkrete Mensch ist ein Arbeiter; seine Tätigkeit ist der praktische Inhalt seines Lebens, und die Tätigkeiten aller ergänzen einander zum gesellschaftlichen Arbeitsprozeß.
Nicht Staat und Politik, sondern Gesellschaft und Arbeit bilden die große Lebensgemeinschaft des Menschen. Um die Menschen in Gruppen zusammenzufassen, teilt die politisch-parlamentarische Praxis den Staat in Wahlkreise; aber die in einem Kreis zusammengefaßten Menschen, Arbeiter, Rentiers, Krämer, Fabrikanten, Grundbesitzer, aus allen Klassen und Berufen nach dem zufälligen Wohnort zusammengewürfelt,können gar nicht von einem Delegierten ihr gemeinsames Interesse und ihren gemeinsamen Willen vertreten lassen, denn sie haben nichts gemeinsames. Die natürlichen Gruppen zusammengehöriger Menschen sind die Produktionsgruppen, die Arbeiter einer Fabrik, einer Branche, die Bauern eines Dorfes, und in weiterem Umfange die Klassen. Zwar gelingt es gewissen politischen Parteien, sich hauptsächlich aus bestimmten Klassen zu rekrutieren und diese zu vertreten; aber doch nur sehr unvollkommen; die Parteizugehörigkeit ist in erster Linie eine Sache der politischen Ansichten, nicht der Klassenzugehörigkeit: große Teile des Proletariats suchten ja immer ihre Vertreter außerhalb der Sozialdemokratie.
Die neue Gesellschaft macht die Arbeit und ihre Organisation zum bewußten Ziel und zur Grundlage allen politischen Lebens. Politik ist die äußere Ordnung des Wirtschaftslebens. Unter dem Kapitalismus kommt das in verhüllter Form zum Ausdruck, in der kommenden Gesellschaft anerkannt und unverhüllt. Als ihre Träger treten die Menschen in ihrer natürlichen Arbeitsgruppierung auf. Die Arbeiter eines Betriebes senden einen aus ihrer Mitte als Vertreter ihres Willens, und dieser Vertreter bleibt in ständiger Fühlung mit ihnen und kann jederzeit von einem anderen ersetzt werden. Die Delegierten beschließen über alles, was zu ihrer Kompetenz gehört und finden sich, je nachdem ob Fragen eines Berufes oder eines Ortes oder andere Angelegenheiten zur Diskussion stehen, verschieden zusammen. Aus ihnen werden die zentralen leitenden Instanzen auf jedes Gebiet entsandt, die sich Sachverständige von Fall zu Fall hinzuziehen können.
In diesem geschmeidigen Organismus ist kein Platz für irgend eine Vertretung der Bourgeoisie; wer nicht als Mitglied einer Produktionsgruppe mitarbeitet, fällt automatisch außerhalb der Möglichkeit, mit zu entscheiden, ohne daß er durch künstliche Bestimmungen ausgeschlossen zu werden braucht. Dagegen kann der ehemalige Bourgeois, der in der neuen Gesellschaft nach seinen Fähigkeiten mitarbeitet, z.B. als Fabrikleiter, in der Betriebsversammlung so gut seine Stimme hören lassen, wie jeder andere Arbeiter und mit beschließen. Die Berufe mit allgemeinen kulturellen Funktionen, wie die Lehrer oder die Ärzte, bilden ihre eigenen Räte, die auf den ihnen zufallenden Gebieten der Erziehung und der Gesundheitspflege mit den Vertretern der Arbeit zusammen beschließen und die Regelungen übernehmen. Auf allen Gebieten der Gesellschaft ist Selbstverwaltung und Organisation von unten auf das Mittel, alle Kräfte des Volkes für das große Ziel in Bewegung zu setzen; oben werden diese Kräfte des Volkes in einer zentralen Leitung zusammengefaßt, die ihren zweckmäßigsten Gebrauch verbürgt.
Das Rätesystem ist eine staatliche Organisation, ohne die Beamtenbürokratie, die den Staat zu einer das Volk beherrschenden fremden Macht macht. In ihm wird das Wort von Friedrich Engels schon verwirklicht, daß in dem proletarischen Staat an die Stelle der Herrschaft über Personen die Verwaltung von Sachen tritt. Die stets zu Verwaltungsgeschäften nötigen ständigen Hilfsbeamten sind Schreiber, deren Posten kaum begehrenswert und bei einer einmal durchgeführten allgemeinen Volksbildung jedem zugänglich sind. Die eigentliche Verwaltung liegt in den Händen von gewählten Delegierten, die jederzeit zurückzurufen sind und ihre Arbeit für Arbeiterlohn besorgen. In einer Übergangszeit mag es schwierig sein, dieses Prinzip völlig und erfolgreich durchzuführen, weil die nötige Fähigkeit nicht sofort in jedem Delegierten vorhanden ist; wenn die bürgerliche Presse absichtlich die Fähigkeit des heutigen Bürokratismus ins Groteske übertreibt, so mag auf die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte hier gewiesen werden, die im November 1918 ungeheuer schwierige Aufgaben bewältigt haben, vor denen die staatliche und militärische Bürokratie ratlos stand. Weil in den Räten die beschließende und ausführende Gewalt vereinigt ist, weil die Delegierten selbst praktisch durchzuführen haben, was sie beschließen, bleibt weder Raum für Bürokraten noch für Fachpolitiker, die beiden einander ergänzenden Organe des bürgerlichen Herrschaftsstaates. Das Ziel jeder politischen Partei, d.h. jeder Organisation von Fachpolitikern, die Maschine des Staates in die eigenen Hände zu bekommen, ist daher auch der kommunistischen Partei fremd. Ihr Ziel ist nicht, die Herrschaft für die kommunistische Partei zu erobern, sondern durch Verbreitung der kommunistischen Prinzipien dem kämpfenden Proletariat Ziel und Wege zu zeigen, damit es das Rätesystem aufbaut. In diesem Punkte stehen also, in ihrem unmittelbaren praktischen Ziele, Kommunismus und Sozialdemokratie einander gegenüber, die eine fußt auf der Organisation des alten bürgerlichen Staates, die andere bereitet ein neues politisches System vor.
Anton Pannekoek [d.i.: K. Horner], Sozialdemokratie und Kommunismus, Hamburg C. Hoym Nachf, 1920. Abgedruckt in Pannekoek, Anton, Neubestimmung des Marxismus 1: Diskussion über Arbeiterräte, Berlin (West), Karin Kramer Verlag, 1974, 52-76. HTML-Markierung und Transkription: J.L. Wilm für das Marxists’ Internet Archive.
Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1920/xx/sozialdemokratie.htm