Paul Mattick - Wie die Bourgeoisie heute gegen „Sowjet“-Rußland „hetzt“ (März 1926)
Es gab eine Zeit wo die internationale Bourgeoisie das Rußland von 1917 als wildgewordenes, bombenwerfendes Untier illustrierte und damit, zur Zeit des „marschierenden Sozialismus“, die Anschlagsäulen und Delikateßläden plakatierte. Das war damals, als der noch nicht „bolschewisierte“ Spartakusbund, das russische Signal beachtend, zur Revolution in Deutschland aufrief. Greuelberichte auf Greuelberichte über bolschewistische Zustände füllten damals die bürgerliche Presse. Boykott und weißer Terror. Hetze und Schwindelberichte sollten das Sowjetsystem zerschlagen. Vom Universitätsprofessor bis zum kleinsten Bonzenanwärter rief damals alles auf zum „Kampf für die heiligsten Güter“. Für das ganze profitmachende Geschmeiß war Rärerußland ein Stück der Hölle, das sie begeiferten.
Rußlands Revolution riß Westeuropa nicht mit. Den Stiefelleckern des deutschen Kapitals gelang es, die Revolten im Blut der Revoltierenden zu ersticken. Der Verrat „traditioneller Führer und Organisationen“ sorgte für „Ruhe und Ordnung“. Das bedeutete zugleich Ende des Kriegskommunismus in Russland, Einführung der NEP. Alleinstehend, auf Grund eherner ökonomischer Gesetze, mußte die Entwicklung Rußlands, die soeben die feudalistischen Fesseln abgestreift hatte, den Weg zur kapitalistischen Gesellschaftsform machen. Der für die wenigen, schon vorhandenen russischen Proletarier, darin liegenden Tragik spottend, erlangte der Entwicklung rücksichtslos die Fahrt mit vollen Segeln zur profitbringenden Wirtschaftsform.
Die ökonomische, zwangsläufige Umstellung Rußlands, änderte sofort die Stellung der internationalen Bourgeoisie zu Rußland. Konzessionen brachten Anerkennung, wirtschaftliche Verträge, politisches Vertrauen. Rußland reiht sich wieder mehr und mehr ein in das kapitalistische Weltkonzert. Gegensätze zu andern kapitalistischen Staaten bestimmen die Außenpolitik Rußlands. Das Prestige, das Rußland bei dem Proletariat aller Länder hat, wird von ihm für seine wirtschaftlichen, außenpolitischen Interessen benutzt. Vermittels einer Zweiseelentheorie, gaukelt es dem Proletariat vor, daß die Moskauer Parolen im Interesse der Erhaltung des „dem Kommunismus immer näher kommenden“ Rußlands als Kraftreservoir der Weltrevolution, unbedingt durchgeführt werden müssen. Praktisch schafft sich Rußland damit Stützpunkte innerhalb der anderen Staaten, die so gezwungen werden, eine rußlandfreundliche Politik zu führen, die erst günstige Geschäfte gestattet. Für die kapitalistische Entwicklung Rußlands wird die Weitrevolution verraten.
Das sieht sehr wohl auch die deutsche Bourgeoisie Steht sie heute noch im Gegensatz zu Rußland, so aus Konkurrenzgegensätzen, nicht als Kapitalismus gegen Kommunismus. Und so hat auch ihre Hetze aufgehört. Die Rollen sind vertauscht.
Die sozialdemokratischen Kleinbürger bereisen heute Rußland und stellen nach zwei Tagen begeistert fest, daß in Rußland der „Sozialismus marschiert“ (genau wie damals in Deutschland zur Zeit Noskes). Die KPD ist es, die heute krampfhaft bemüht ist, eine „Hetze“ der Bourgeosie gegen Rußland festzustellen, um ihren Anhängern den Götterglauben nicht zu rauben. — Aber die Bourgeoisie? Tschitscherin besucht Hindenburg und frühstückt bei Stresemann und Seekt! Und die deutsche Bourgeoisie schließt Geschäfte ab. Ihre „Wissenschaftler“ empfehlen, pardon, „hetzen“ heute folgendermaßen: die Lesegesellschaft Köln lädt zu einem Vortragsabend den Berliner Universitätsprofessor Dr. Otto Hötzsch (M. d. R.) ein, der über „Räterußland“ spricht. Darüber berichtet die Presse u. a.:
„Hoetzsch kennt Rußland seit Jahrzehnten, er beherrscht die Sprache des Landes und behandelte zunächst Rußland als Staat. Er erkannte an, daß die „Räterepublik“ es fertig gebracht habe, ein neues Staatsgebilde zu schaffen, einen Staat mit den Gedanken und Zwecken der kommunistischen Partei. Die Stärke dieser einzigen, in Rußland bestimmende Partei schwankt zwischen 300 000-350 000 Mitgliedern. Dies sei aber eine Art Kerntruppe, eine Art Orden. Sie habe es fertiggebracht, daß heute fast alle Beamte und Offiziere im Lande in ihren Diensten stünden. Der „Räterepublik“ dienen heute über 2 Millionen Beamte, der Verwaltungsapparat laufe ausreichend. Eine kommunistische Wirtschaft gab es nur von 1917 bis 1921. Im Frühjahr 1921 als Lenin seine Schwenkung vollzog, kamen die großen Zugeständnisse. Lenin sagte damals: Die Weltrevolution geht verloren, wenn wir letzt nicht Konzessionen machen. Das Merkwürdige geschah: aus dem Marxismus wurde Merkantilismus, und wenn der Kampf zwischen Theorie and Praxis auch weiter geht, das, was wir heute in „Räterußland“ sehen, hat mit Marx wenig mehr zu tun, es ist nichts anderes, als staatskapitalistische Planwirtschalt. Das große Problem, mit dem Rußland augenblicklich ringt ist seine letzte riesige Ernte. Es fragt sich: wie verkaufe ich möglichst günstig den Überfluß meiner Ente, um dafür diejenigen Artikel zu erwerben, die mir meine Industrie nicht schaffen kann. Und In diesem Zusammenhang tauchen Dinge auf, die weiß Gott nicht bei Marx stehen: Ausfuhrprobleme, aktive Handelsbilanz, Devisenkäufe zur Stützung der Währung usw. Auch die kürzlich erfolgte Aufhebung des Branntweinbrennverbots ist ein weiteres Abrücken von kommunistischen Grundsätzen. Auch auf dem Gebiet der kulturellen Politik zeigt sich diese innere Brüchigkeit. Die Frage der Führerschaft ist für den Augenblick gelöst, aber die Frage der Nachfolge ist noch ganz offen. Hier sieht der Redner die schwersten Bedenken, der ungenügende Nachwuchs würde bewirken, daß Rußland in dieser Hinsicht eines Tages vor Trümmern stehe. Die außenpolitische Stellung der „Räterepublik“ sei äußerst schwierig. Auf der einen Seite die Propagandatätigkeit: die Weltrevolution will weitergehen, auf der andern die Tatsache die Weltrevolution geht nicht weiter. Erfolge für die „Räteregierung“ verspricht sich Hoetzsch nach Osten zu, der Kampf gegen den englischen Kolonialimperialismus könne hier Erfolge zeitigen, die noch nicht abzusehen seien. Zum Schluß streifte der Redner das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland. Er nannte ein Wort das bedeutsam scheint: Interessengemeinschaft. Theoretisch gibt es keine größere Torheit, als einen Kampf oder eine Feindschaft zwischen Deutschland und Rußland, im augenblickliches Zupunkt sei das vor allem klar zu erkennen: Deutschland stehe da mit einem Ueberfluß an industriellen Erzeugnissen und Rußland mit seiner Riesenernte, die es gern loswerden will. Das Abkommen mit Rußland, das ein Handelsmonopol kein Handelsvertrag sei. begrüße er. Er bezog sich zum Schluß auf ein Wort der russischen Emigranten: „Rußland ist einmal gewesen. Rußland wird wieder sein.“ im Gegensatz zu diesen Emigranten sagt Hoetzsch: „Rußland ist!“ Es ist in einer neuen Form, die uns nicht gefällt, aber es tat eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Realität, mit der Deutschland vieles gemein hat. und auf die sich jeder Politiker ohne Voreingenommenheit einstellen muß.“
So spricht heute die Bourgeoisie, in einer Zeit wo nach Angaben der KPD, in Rußland eine Etappe nach der andere zum Kommunismus zurückgelegt wird. Doch Kapitalismus und Kommunismus sind Gegensätze, die sich nicht überbrücken lassen. Eins steht in Todfeindschaft zum andern. Schlägt die Bourgeoisie heut für den „Bolschewismus“ Reklame, so muß das dem revolutionären Proletariat Beweis genug sein, daß dieser, der russische Bolschewismus am Boden liegt oder nicht existiert. Bisher wurde jeder Versuch des Proletariats, sich zu erheben, nur mit Kugeln und Kerker beantwortet.
Im Interesse der Weltrevolution liegt es, wenn das Proletariat jenem Rußland, das von der Bourgeoisie gelobt wird, die Janusmaske vom Gesicht reißt. Was die Bourgeoisie lobt und anerkennt, ist für die proletarische Revolution die Pest.
Aus: Kampfruf 7, Nr. 3 (1926), S. 2. Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/mattick/1926/03/hetzt.htm