Otto Rühle - Flucht in den Buddhismus

Auf Lebensschwierigkeiten und Daseinsnöte kann der Mensch, je nach Temperament und Charakter, mit verschiedenen Verhaltungsweisen reagieren.

Der eine ist ein Draufgänger, den gehäufte Schwierigkeiten reizen. Er packt kräftig zu, überwindet Widerstände und Gefahren, wird mit Welt und Dingen fertig. Der andere, von geringerer Lebenstüchtigkeit, weiß sich im Existenzkampfe nicht zu behaupten. Er unterliegt — mit oder ohne Widerstreben — den stärkeren Gewalten und geht zugrunde.

Der dritte, weder Sieger noch Besiegter, schlägt die Taktik des Auskneifens ein. Da er weder kämpfen noch untergehen will, weicht er Konflikten und Gefahren rechtzeitig und geschickt aus. Er rettet sich durch Lebensfeigheit, indem er den gegebenen Kampfplatz, auf dem er zu unterliegen fürchtet, gegen einen anderen umtauscht, auf dem er sich zu behaupten hofft. Diese Typen kommen rein und kombiniert vor. Oft operiert ein und derselbe Mensch in verschiedenen Situationen mit verschiedenen Verhaltungsweisen. Aber immer bleibt sich der Mensch in seiner seelischen Struktur gleich.

In ganz jungen Jahren schon bildet er an Hand frühester Erlebnisse und Erfahrungen seinen Lebensplan aus, den er künftig in allen Situationen unablässig und konsequent verfolgt. Dieser Lebensplan wird das leitende Prinzip seiner Sicherung.
Unter Charakter verstehen. wir die Einheitlichkeit der Verhaltungsweise in allen menschlichen Beziehungen nach Maßgabe des grundlegenden Lebensplanes. Je schwieriger die Situation, je größer die Anforderungen an die Selbstbehauptung, desto rücksichtsloser die Verfolgung des Lebensplanes und desto deutlicher der Charakter.

Der Ausgang des Weltkrieges hat auf dem ganzen Erdball die Lebensschwierigkeiten gesteigert. Für jedes Volk, jede Klasse, jede Gesellschaftsschicht. Besonders in Europa. Und da wieder am meisten in Deutschland. Dynastien sind gestürzt, traditionelle Herrschaftsverhältnisse aufgelöst, alte Herrlichkeiten zerstört. Wilhelm hackt Holz in Doorn.

Politische Machthaber sind verdrängt, verjagt, vergessen. Sie zehren von Erinnerungen oder konspirativen Plänen. Selbst wo es ihnen gelang, die alten Positionen zurückzuerobern, entspricht der Erfolg nicht immer dem Aufwand. Bei aller Frechheit nach außen sind die Ludendorff, Tirpitz und Konsorten in Wirklichkeit doch arme Nebbiche.

Wirtschaftliche Machthaber sind zusammengebrochen oder in fatale Abhängigkeiten geraten. Der Ruhrkampf ging verloren. Stinnes starb an gebrochenem Herzen. Das Geld ist knapp und teuer. Die Bosel, Castiglioni, Parvus, Barmat verbreiten Verwesungsgerüche. Überall Pleite und Korruption.

Große Schichten des Bürgertums sind infolge der Inflation auf die Rutschbahn gekommen und über Nacht im Proletariat, wenn nicht tiefer gelandet. Ihr Gott ließ sie im Stich; ihre Lebensphilosophie ging in die Brüche. Mit Vermögen, Amt und Existenz verloren sie Weltanschauung, sittlichen und intellektuellen Halt, Standpunkt, Orientierung. Der Untergang des Abendlandes. Was soll werden?

Das Proletariat ist fast ein Jahrzehnt knietief durch das Blut des Krieges und der Revolution gewatet. Verraten und geschlagen, enttäuscht und entmutigt ist es in den Pferch der Ausbeutung zurückgekehrt. Alles ist verloren. Nun schuftet es zehn, zwölf, vierzehn Stunden mit hungrigem Magen. Die Bourgeoisie, der die Angst vor dem Untergange noch nicht völlig aus den Knochen gewichen ist, verschlingt gierig seine letzte Lebenskraft, um daran wieder stark und gesund zu werden.
Kampf aller gegen alle. Todeskampf auf einem untergehenden Schiffe. Du oder ich!

Die gesteigerte Schwierigkeit der Lebenssituation entfesselt alle Erhaltungsinstinkte in weitestem Ausmaße. Jeder Charakter wird in voller Deutlichkeit offenbar. Tritt sichtbar ins Helle. Die Starken stehen in dieser Zeit im Kampfe. Die Schwachen werden zerstampft. Die Feigen schlagen sich in die Büsche. Sehen wir uns die letzteren an.

Die Lebensfeigen und Drückeberger verlassen entweder Land und Volk, gehen nach Amerika, Rußland, Palästina, weichen damit den Kämpfen und Schwierigkeiten aus und suchen auf eigene Faust, meist in der Vereinzelung, ihr Glück zu machen. Oder aber sie verlassen ihre Klasse, werden Schieber, Parasit, Zwischenexistenz von größerer oder kleinerer Fragwürdigkeit; spekulierten bei Klante, um rasch reich zu werden, oder retten sich durch Siedlung auf das Eiland einer kleinbürgerlichen Existenz.

Endlich verlassen sie — und das ist das häufigste — ihre bisherige Ideologie, an der sie nach und nach verzweifelten. Die Monarchisten, die Militaristen, die Alldeutschen, die Antirepublikaner, die Geistigen, die Völkischen, die Kirchen- und Parteigläubigen — wie sollen sie alle auf ihre Rechnung kommen in dem Chaos dieser Zeit? Sie haben, wie auch so mancher Proletarier noch, nicht dialektisch zu denken gelernt, verstehen nicht den inneren Zusammenhang der Erscheinungen, finden sich in der Welt von heute nicht mehr zurecht. Aber sie sehen Bankrott, Untergang, Verheerung, Pestilenz, Morast — da packt sie der Graus, und sie ergreifen die Flucht. Wohin?

Die einen zu Gott — (Sekten, Ernste Bibelforscher, Gesundbeter, Kaplan Fahsel). Die anderen in die Ideenwelt der Philosophie — (Kayserling, Tolstoi, Rudolf Steiner). Weitere in die politische Romantik — (Pan-Europa, Pazifismus, Freigeld-Bewegung). Und endlich ein Schwarm nach Asien — (Rabindranath Tagore, Gandhi, Tao, Theosophie, Buddhismus). Wenn das Abendland untergeht, kann — so meinen sie — nur Asien wirkliche Rettung bieten.

Der Buddhismus kommt dem Bedürfnis der Lebensflüchtigen nach einer ideologischen Zuflucht außerordentlich entgegen, denn er ist selbst Resultat und Ausdruck einer Lebensflucht, die ihren ideologischen Niederschlag fand. Als historische Erscheinung ist der Buddhismus die religiös-ethische Bewegung des wohlhabend gewordenen, zum Patriziat entwickelten indischen Landadels und. Stadtbürgertums, die ihre Analogie etwa im Humanismus des deutschen Mittelalters findet. Hier wie dort empfand die ökonomisch fortgeschrittenste Schicht, die zugleich die modern gerichtete Intellektuellenschicht war und sich durch alle zufälligen und wechselnden politischen Bildungen hindurch als Einheit fühlte, zuerst und am stärksten das Bedürfnis, sich aus der Tradition einer überständig gewordenen Hierarchie zu befreien und einen eigenen Lebensstil zu schaffen.

Dies geschah zunächst ohne besonderen Aufwand und ganz ohne Kampf. Die Tatsache allein, daß die Macht der Brahmanen in den Ursprungsgebieten des Buddhismus nur mäßig entwickelt war, überhob diesen der Aufgabe, einen ausgesprochenen Kampf gegen das überkommene System zu führen. So kam der Buddhismus zahnlos zur Welt. Er revoltierte nicht gegen die soziale Ordnung, war absolut unpolitisch, ging in keiner Weise aktiv oder aggressiv gegen das Bestehende vor. Mehr noch, er nahm sogar Rücksicht auf Bedenken und Vorurteile) der herrschenden weltlichen Gewalt, indem er Sklaven, Soldaten und Schuldverhaftete oder Verbrecher aus seiner Gefolgschaft ausschloß. Im übrigen begnügte er sich damit, die Existenz der Götter dahingestellt sein zu lassen, das Kastenwesen zu ignorieren, den Mechanismus des brahmanistischen Kults als unverbindlich anzusehen, Leben, Welt, Arbeit, soziale Verpflichtung mit vollem Bewußtsein und mit allen Konsequenzen zu negieren.

In all seinen Beziehungen völlig passiv orientiert, stellt er ein geschlossenes System des Ausweichens, der Weltflucht, des Sichtotstellens dar, psychologisch vielleicht am sichersten deutbar als Reaktion auf eine in Aktivität, Zügellosigkeit, Schwelgerei und Übersättigung aufgehende Lebensführung, wie sie zum Bilde des altindischen Herrendaseins gehört. Also Ausdruck einer Erschöpfung, eines Ekels, einer Schwäche, die nicht mehr imstande ist, sich mit den Konflikten des Daseins aktiv auseinanderzusetzen; die stillschweigend davongeht, Verzicht leistend, in Passivität verharrend, weltflüchtig, behaftet mit allen Merkmalen der Entmutigung, des Pessimismus, des Minderwertigkeitsgefühls, wie sie Lebensplan und Charakterbild des Lebensfeigen kennzeichnen.

„Heimatlos werdend, besitzlos, arbeitslos, sexuell und gegenüber Alkohol, Gesang und Tanz absolut enthaltsam, streng vegetarisch, unter Meidung von Gewürzen, Salz und Honig, vom schweigenden Bettel von Tür zu Tür lebend, im übrigen der denkenden Betrachtung hingegeben, suchte der Buddhist die Erlösung vom Daseinsdurst.“ (Max Weber.) Niemals waren die Jünger Buddhas eine Horde kulturloser Bettler, im Gegenteil, sie waren gut gekleidet, befleißigten sich großer Wohlanständigkeit, hielten auf guten Eindruck nach außen und übten gerade dadurch auf die oberen Schichten, aus denen sich vorwiegend ihr Anhang und Nachwuchs rekrutierte und die in der neuen Lehre und Lebensform einen Protest sowohl gegen ihre bisherige Lebensweise wie gegen den Brahmanismus sahen, eine starke Anziehungskraft aus.

Anfänglich war der Buddhismus nicht mehr und nicht weniger als die asketisch eingestellte Heilslehre einer der zahllosen Sekten, von denen Indien überschwemmt war und die samt und sonders den Brahmanismus nicht ernstlich in Frage stellten, sondern nur mehr oder weniger modifizierten.

In dem Maße jedoch, in dem die Klasse der reichen, vornehmen und intelligenten Bürger, die vorwiegend seine Gefolgschaft bildeten, wirtschaftlich und politisch die Oberhand gewann, sah sich der Buddhismus als Fixierung der herrschenden religiös-ethischen Ideologie in den Vordergrund geschoben und schließlich in die Rolle der Staatsreligion gedrängt. So nahm der Buddhismus das Schicksal der Puritaner in England, der Calvinisten in Holland, der Protestanten in Deutschland um Jahrtausende vorweg. Und genau aus denselben Ursachen und Beweggründen.

Die wirtschaftliche Entwicklung hatte in Teilen Indiens zu einer Höhe geführt, auf der sich der Nationalismus als ideologische Formulierung bestimmter Bedürfnisse ökonomischer und sozialer Natur einstellt. Trägerin dieser Bewegung war die Maurya-Dynastie, die nach brahminischer Überlieferung niederer Herkunft entstammte und deren populärster Repräsentant König Asoka war. Sie mußte sich bei ihrem Aufstieg auf andere Kräfte und Schichten stützen als die der alten Machthaber; vor allem‘ mußte sie die Tradition ignorieren und sich über die Kastenschranken hinwegsetzen. Darin berührten sich ihre Machtinteressen durchaus mit der buddhistischen Ideologie.

Wie sich in Deutschland der Staat, als Machtorganisation der Großgrundbesitzer, auf der christlichen Kirche aufbaute, der einzigen Zentralorganisation, die er vorfand und die er um deswillen zur Staatskirche erhob, so schuf sich das Großkönigreich Asokas, in dem sich zum ersten Male das ganze Kulturgebiet Indiens zu einem nationalen Einheitsstaate vereinigte, seine ideologische Untermauerung in der buddhistischen Bewegung. Das Stadtpatriziat leistete Asoka als Darlehnsgeber, Ober-nehmer von Lieferungen und Leistungen, vor allem als ökonomisch-sozialer Rückhalt der Dynastie wertvolle Dienste; die einflußreichsten und wichtigsten Stellen in dem gewaltigen Heere der Beamten, Offiziere, Steuerpächter, Ratgeber, Polizisten usw. wurden aus dem Nachwuchse des wirtschaftlich interessierten und darum politisch zuverlässigen Stadtpatriziats und Landadels besetzt. Dadurch wurde die beiderseitige Interessen-Union je länger je mehr zu einer Personal-Union. Und wie sich die Dynastie vom Buddhismus emporgetragen sah, so trug sie ihrerseits den Buddhismus zur Höhe der Staatsreligion empor. Um die Gemeinschaft der dynastischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und ideologischen Interessen zu dokumentieren, trat König Asoka zum Buddhismus über. Ein Vorläufer Konstantins des Großen, der aus den gleichen Gründen erster christlicher Kaiser wurde.

Aber Asokas Reich konnte sich nicht halten. Die indische Wirtschaft vermochte sich nicht wesentlich über die Anfänge der Stadtwirtschaft hinaus zu entwickeln; der übergroße Teil des Landes blieb auf dem Niveau der primitiven Dorfwirtschaft stehen. So fehlte die Basis für die Weiterentwicklung des modernen Großkönigreichs; es zerfiel nach kurzer Dauer. Damit war auch die Blüte des Buddhismus vorüber.

Wie die neuen Machthaber der Städte wirtschaftlich ihren Frieden mit den alten Machthabern der Dörfer schlossen, so kehrte auch der Buddhismus in den Schoß des Brahmanismus zurück. Freilich, der Buddhismus hatte bereits als Staatsreligion viele Wandlungen erfahren. Er hatte sich — durch eine großzügige Missionstätigkeit (die dem Expansionsbedürfnis Asokas vorarbeiten sollte) über die ganze Welt verbreitet — vielfach vorhandenen Ideologien angepaßt und eingegliedert. Endlich hatte er durch die Spaltung der Bewegung in Hinavana (Orthodoxe) und Mahayana (Opportunisten) seinen Charakter in wesentlichen Stücken einseitig verändert. Ebenso hatte der Brahmanismus aus den vielen Erschütterungen durch Sektenbildungen und Religionsgründungen manches für seine Reorganisation und Regeneration gelernt und gewonnen. Er milderte die Starrheit seines Rituals, wandelte die Lehre um, nahm volkstümliche Bestandteile urwüchsiger Kulte und Überlieferungen auf, machte dem primitiven Bedürfnis nach Vergröberung des Erlösungsgedankens weitherzige Konzessionen und wurde so wieder das geräumige Sammelbecken für alle Lebensflüchtlinge, Entmutigten, Trostbedürftigen, Verantwortungsfeigen.

Der Buddhismus, als ideologischer Ausdruck einer wirtschaftlich wie intellektuell entwickelten Schicht erstanden, hatte infolge seines asozialen Charakters in der Funktion eines Mittels zur Gemeinschaftsbildung großen Stils versagt. In einem Lande, dessen kontinentale Lage und vorwiegend agrarische Wirtschaft das Entstehen großer städtischer Kulturen nicht begünstigt, blieb trotz aller Wechselfälle und Wandlungen im Kleinen der Brahmanismus die adäquate, den Bedürfnissen entsprechendste und angepaßteste Ausdrucksform religiösen Erlebens. Die Spekulation, und wäre sie noch so genial, vermag von sich aus keinem religiösen System den Bestand zu sichern, wenn ihm dazu die materiellen Untergründe, die sozialökonomischen Voraussetzungen ermangeln.

Unter den Flüchtlingen, die heute bei Theosophie, Anthroposophie, Buddhismus oder gar bei Ernsten Bibelforschern landen, ist auch mancher enttäuschte, entmutigte, verzweifelte Proletarier. Er landet dort, weil er seine Zeit und seine Beziehungen zu ihr nicht richtig versteht.

Denn Flucht in den Buddhismus heißt: Flucht aus der lebendigen Gegenwart in die tote Vergangenheit.
Heißt: vor der positiven Wirklichkeit Reißaus nehmen und sich hinter einen Nebel von Ideen verkriechen.
Heißt: sich der kämpfenden Aktivität entziehen und in weitabgewandte Spintisiererei einpuppen.
Heißt: vor der Notwendigkeit, sich mit Welt, Leben, Menschen, Dingen auseinanderzusetzen, in das passive Nichtstun retirieren.
Heißt: den Klassenkampf verraten, fahnenflüchtig werden vor der Revolution, verantwortungslos handeln, ein Feigling sein!

Aus: Die Aktion, 15. Jg, Heft 4/6, 15. März 1925, S. 127-131

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2009/10/06/otto-ruehle-flucht-in-den-buddhismus-1925/


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email