Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels
Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud
Editoren Clara Diabolis, Geier Lust, Attila Eisenherz. Originaltitel „LA SOCIETE DU SPECTACLE“, verlegt bei Edition Buchet-Chastel Paris November 1967. Erste deutsche Ausgabe - neben Veröffentlichungen in Portugal, Italien, Großbritannien, Dänemark und den USA - erschien 1971 durch die ‚Projektgruppe Gegengesellschaft‘ Düsseldorf. Diese erste Publizität war in erster Linie die der speziellen deutschen Rückständigkeit, in welcher sich gesellschaftlicher Tiefschlaf wie in keinem anderen Land als gemütsvolle Unschuld präsentiert, und erst in zweiter Linie ein publizistischer Nachholbedarf. Durch die der ersten Übersetzung eigenen Mängel sah sich der Autor veranlaßt, das Erscheinen einer durch ihn autorisierten, dem Original gerecht werdenden deutschsprachigen Übersetzung zu betreiben, was hiermit geschehen ist. Die geschichtliche Praxis ist es, die dieses Werk den Ton finden ließ und die daher auch das letzte Wort über dieses Werk - das gänzlich ihr Werk selbst ist - haben wird.
Inhaltsverzeichnis:
1. Kapitel DIE VOLLENDETE TRENNUNG
2. Kapitel DIE WARE ALS SPEKTAKEL
3. Kapitel EINHEIT UND TEILUNG IM SCHEIN
4. Kapitel DAS PROLETARIAT ALS SUBJEKT UND ALS REPRÄSENTATION
5. Kapitel ZEIT UND GESCHICHTE
6. Kapitel DIE SPEKTAKULÄRE ZEIT
7. Kapitel DIE RAUMORDNUNG
8. Kapitel DIE NEGATION UND DER KONSUM IN DER KULTUR
9. Kapitel DIE MATERIALISIERTE IDEOLOGIE
Einbandtext vorne:
Gegenwort an falsche Freunde
Im ‚Figaro Litteraire‘ vom 16. Dezember 1968 waren anläßlich der Verleihung des ‚Sainte Beuve Preises‘ an Frau Lucie Faure folgende Zeilen zu lesen:
»Der Vorsitzende Edgar Faure kam und beglückwünschte seine Gemahlin artig [...] damit wurde bewiesen, daß Preisrichter 1968 immer noch zusammenkommen können, ohne daß randaliert wird [...] Indessen hätte es zur Beanstandung und sogar zur Gewalt kommen können, wenn die Preisrichter Guy Debord für sein Buch ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘ preisgekrönt hätten, wie sie es eine Zeitlang wollten. Als wilder Situationist konnte es Debord nicht akzeptieren, während einer Cocktailparty der Konsumgesellschaft von Bourgeois gefeiert zu werden. Davor hatte er seinen Verleger, Edmond Buchet, wie folgt gewarnt: ‚Wie Sie sich denken können, bin ich radikal gegen alle Literaturpreise. Teilen Sie das also bitte den betreffenden Personen mit, damit sie diesen Fehlgriff vermeiden. Ich muß sogar zugeben, daß ich, sollte ein so bedauernswerter Fall eintreten, vermutlich nicht imstande wäre, die jüngeren Situationisten von Tätlichkeiten abzuhalten: sie würden bestimmt die Preisrichter angreifen, die eine solche, von ihnen als eine Beleidigung empfundene Auszeichnung, verleihen.‘«
Wie man sieht, Ist die Methode ganz klar und deren Ergebnisse überzeugend.
»Rekuperiert wird nur derjenige, der es will.«
Situationistische Internationale No. 12
Vom gleichen Autor:
Gegen den Film, Filmskripte
Rapport über die Konstruktion von Situationen u.a., Flugschrift No. 23
Einbandtext hinten:
Stillschweigende Voraussetzungen
»Debord gibt es gern zu, daß er bei der 221. gefunden hat, er habe genug gesagt; weiter, daß er niemals mehr sagen wollte, als das, was genau in diesem Buch steht. Ihm ist es nur darauf angekommen, ‚unermüdlich‘ das zu beschreiben, was das Spektakel ist und wie es gestürzt werden kann. Daß „diese Idee sich in allen anderen bespiegelt“, gerade das halten wir für das Kennzeichen eines dialektischen Buches. Ein solches Buch braucht nicht ‚voranzugehen‘, wie eine staatliche Doktorarbeit über Macchiavelli der Befriedigung der Prüfungskommission und der Erlangung des Doktortitels entgegenstrebt (und, wie Marx im Nachwort zur 2. deutschen Auflage des ‚Kapitals‘ über die Art sagt, die als ‚Darstellungsweise‘ der dialektischen Methode aufgefaßt werden kann, mag diese Spiegelung „aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun“). ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘ macht keinen Hehl aus ihrem vorgefaßten a priori und versucht nicht, ihren Schluß aus einer Fragestellung akademischer Art herzuleiten; dagegen wurde sie nur deshalb geschrieben, um das kohärente konkrete Anwendungsgebiet einer These zu zeigen, die von einer Untersuchung herkommt, die die revolutionäre Kritik über den modernen Kapitalismus machen konnte. Im wesentlichen ist es also unserer Meinung nach ein Buch, dem es an nichts außer an einer oder mehreren Revolutionen fehlt — die unmöglich lange auf sich warten lassen können.«
»Wie man unsere Bücher nicht versteht« Situationistische Internationale Nr. 12
1. Kapitel DIE VOLLENDETE TRENNUNG
„Aber freilich [...] diese Zeit, welche das Bild der Sache, die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen vorzieht [...]; denn heilig ist ihr nur die Illusion, profan aber die Wahrheit. Ja die Heiligkeit steigt in ihren Augen in demselben Maße, als die Wahrheit ab- und die Illusion zunimmt, so daß der höchste Grad der Illusion für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit ist.“ Feuerbach (Das Wesen des Christentums, Vorrede zur zweiten Auflage.)
1.
Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.
2.
Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einen gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudo-Welt, Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.
3.
Das Spektakel stellt sich zugleich als die Gesellschaft selbst, als Teil der Gesellschaft und als Vereinigungsinstrument dar. Als Teil der Gesellschaft ist das Spektakel ausdrücklich der Bereich, der jeden Blick und jedes Bewußtsein auf sich zieht. Aufgrund dieser Tatsache, daß dieser Bereich abgetrennt ist, ist er der Ort des getäuschten Blicks und des falschen Bewußtseins; und die Vereinigung, die es bewirkt, ist nichts anderes als eine offizielle Sprache der verallgemeinerten Trennung.
4.
Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.
5.
Das Spektakel kann nicht als Übertreibung einer Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverbreitung von Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat.
6.
In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen: Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung der in der Produktion und ihrem korollären Konsum bereits getroffenen Wahl. Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das Spektakel ist auch die ständige Gegenwart dieser Rechtfertigung, als Beschlagnahme des hauptsächlichen Teils der außerhalb der modernen Produktion erlebten Zeit.
7.
Die Trennung selbst gehört zur Einheit der Welt, zur globalen gesellschaftlichen Praxis, die sich in Realität und Bild aufgespalten hat. Die gesellschaftliche Praxis, vor die sich das autonome Spektakel stellt, ist auch die das Spektakel umfassende wirkliche Totalität. Aber die Aufspaltung dieser Totalität verstümmelt sie so sehr, daß sie das Spektakel als ihren Zweck erscheinen läßt. Die Sprache des Spektakels besteht aus Zeichen der herrschenden Produktion, die zugleich der letzte Zweck dieser Produktion sind.
8.
Das Spektakel und die wirkliche gesellschaftliche Tätigkeit lassen sich nicht abstrakt einander entgegensetzen; diese Verdoppelung ist selbst doppelt. Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt. Zugleich wird die erlebte Wirklichkeit durch die Kontemplation des Spektakels materiell überschwemmt und nimmt in sich selbst die spektakuläre Ordnung wieder auf, indem sie ihr eine positive Zustimmung gibt. Die objektive Realität ist auf beiden Seiten vorhanden. Jeder so festgesetzte Begriff gründet sich nur auf seinen Übergang in die Gegenseite. Ins Spektakel tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel ist wirklich. Diese gegenseitige Entfremdung ist das Wesen und die Stütze der bestehenden Gesellschaft.
9.
In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen.
10.
Der Begriff des Spektakels vereinigt und erklärt eine große Mannigfaltigkeit von erscheinenden Phänomenen. Ihre Verschiedenheiten und Kontraste sind die Erscheinungen dieses gesellschaftlich veranstalteten Scheins, der in seiner allgemeinen Wahrheit erkannt werden muß. Das Spektakel ist, seinen eigenen Begriffen nach betrachtet, die Behauptung des Scheins und die Behauptung jedes menschlichen, d.h. gesellschaftlichen Lebens als eines bloßen Scheins. Aber die Kritik, die die Wahrheit des Spektakels trifft, entdeckt es als die sichtbare Negation des Lebens; als eine Negation des Lebens, die sichtbar geworden ist.
11.
Untrennbare Elemente müssen künstlich unterschieden werden, um das Spektakel, seine Herausbildung und seine Funktionen sowie die Kräfte, die zu seiner Auflösung hinstreben, zu beschreiben. Bei der Analyse des Spektakels muß in einem gewissen Maß die Sprache des Spektakulären geredet werden, insofern dabei der methodologische Boden dieser Gesellschaft, die sich im Spektakel ausdrückt, betreten wird. Aber das Spektakel ist nichts anderes als der Sinn der ganzen Praxis einer ökonomischen Gesellschaftsformation, sein Zeitplan. Es ist der geschichtliche Moment, in dem wir enthalten sind.
12.
Das Spektakel stellt sich als eine ungeheure, unbestreitbare und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: „Was erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint.“ Die durch das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es schon durch seine Art, unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol des Scheins, faktisch erwirkt hat.
13.
Der zutiefst tautologische Charakter des Spektakels geht aus der bloßen Tatsache hervor, daß seine Mittel zugleich sein Zweck sind. Es ist die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es deckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich endlos in seinem eigenen Ruhm.
14.
Die Gesellschaft, die auf der modernen Industrie beruht, ist nicht zufällig oder oberflächlich spektakulär, sie ist zutiefst spektakularistisch. Im Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst.
15.
Als unerläßlicher Schmuck der jetzt erzeugten Waren, als allgemeine Darstellung der Rationalität des Systems und als fortgeschrittener Wirtschaftsbereich, der unmittelbar eine wachsende Menge von Objekt-Bildern gestaltet, ist das Spektakel die hauptsächliche Produktion der heutigen Gesellschaft.
16.
Das Spektakel unterjocht sich die lebendigen Menschen, insofern die Wirtschaft sie gänzlich unterjocht hat. Es ist nichts als die sich für sich selbst entwickelnde Wirtschaft. Es ist der getreue Widerschein der Produktion der Dinge und die ungetreue Vergegenständlichung der Produzenten.
17.
Die erste Phase der Herrschaft der Wirtschaft über das gesellschaftliche Leben hatte in der Definition jeder menschlichen Realisierung eine offensichtliche Degradierung des Seins zum Haben mit sich gebracht. Die gegenwärtige Phase der völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens durch die akkumulierten Ergebnisse der Wirtschaft führt zu einer verallgemeinerten Verschiebung vom Haben zum Scheinen, aus welchem jedes tatsächliche „Haben“ sein unmittelbares Prestige und seinen letzten Zweck beziehen muß. Zugleich ist jede individuelle Wirklichkeit gesellschaftlich geworden, direkt von der gesellschaftlichen Macht abhängig und von ihr geformt. Nur sofern sie nicht ist, darf sie erscheinen.
18.
Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens. Das Spektakel als Tendenz, durch verschiedene spezialisierte Vermittlungen die nicht mehr unmittelbar greifbare Welt zur Schau zu stellen, findet normalerweise im Sehen den bevorzugten menschlichen Sinn, der zu anderen Zeiten der Tastsinn war; der abstrakteste und mystifizierbarste Sinn entspricht der verallgemeinerten Abstraktion der heutigen Gesellschaft. Das Spektakel läßt sich jedoch nicht mit dem bloßen Zusehen identifizieren, wenn dieses auch mit dem Zuhören kombiniert wäre. Das Spektakel ist das, was der Tätigkeit der Menschen, der Wiedererwägung und der Berichtigung ihres Werkes entgeht. Es ist das Gegenteil des Dialogs. Überall, wo es unabhängige Vorstellung gibt, baut sich das Spektakel wieder auf.
19.
Das Spektakel hat die ganze Schwäche des abendländisch-philosophischen Entwurfes geerbt, der in einem von den Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit bestand; so wie es sich auch auf die unaufhörliche Entfaltung der genauen, technischen Rationalität, die aus diesem Gedanken hervorgegangen ist, gründet. Es verwirklicht nicht die Philosophie, es philosophiert die Wirklichkeit. Das konkrete Leben aller ist es, welches sich zu einem spektakulären Universum degradiert hat.
20.
Als Gewalt des getrennten Gedankens und als Gedanke der getrennten Gewalt, ist es der Philosophie nie durch eigene Kraft gelungen, die Theologie aufzuheben. Das Spektakel ist der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion. Die spektakuläre Technik hat die religiösen Wolken nicht aufgelöst, in die die Menschen ihre von ihnen losgerissenen, eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie hat sie nur mit einer weltlichen Grundlage verbunden. So ist es das irdischste Leben, welches undurchsichtig und erstickend wird. Es verweist nicht mehr auf den Himmel, sondern beherbergt bei sich seine absolute Verwerfung, sein trügerisches Paradies. Das Spektakel ist die technische Verwirklichung der Verbannung der menschlichen Kräfte in ein Jenseits; die vollendete Entzweiung im Innern des Menschen.
21.
Je nachdem wie die Notwendigkeit gesellschaftlich geträumt wird, wird der Traum notwendig. Das Spektakel ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.
22.
Die Tatsache, daß die praktische Macht der modernen Gesellschaft sich von selbst abgehoben und sich ein selbständiges Reich im Spektakel fixiert hat, ist nur aus dieser anderen Tatsache, daß diese mächtige Praxis immer noch selbstzerrissen und sichselbstwidersprechend geblieben war, zu erklären.
23.
Die älteste gesellschaftliche Spezialisierung ist es, die Spezialisierung der Gewalt, die an der Wurzel des Spektakels liegt. Das Spektakel ist somit eine spezialisierte Tätigkeit, die für die Gesamtheit der anderen Tätigkeiten spricht. Es ist die diplomatische Repräsentation der hierarchischen Gesellschaft vor sich selbst, wo jedes andere Wort verbannt ist. Hier ist das Modernste auch das Archaischste.
24.
Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält, ihr lobender Monolog. Es ist das Selbstportrait der Macht in der Epoche ihrer totalitären Verwaltung der Existenzberechtigungen. Der fetischistische Schein reiner Objektivität in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehung zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zweite Natur scheint unsere Umwelt mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherrschen. Aber das Spektakel ist nicht dieses notwendige Produkt der als eine natürliche Entwicklung betrachteten technischen Entwicklung. Die Gesellschaft des Spektakels ist im Gegenteil die Form, die ihren eigenen technischen Inhalt wählt. Wenn das Spektakel, — unter dem engeren Gesichtspunkt der „Massenkommunikationsmittel“ genommen, die seine erdrückendste Oberflächenerscheinung sind —, als einfache Instrumentierung auf die Gesellschaft überzugreifen scheinen kann, so ist diese Instrumentierung in Wirklichkeit nichts Neutrales, sondern genau die Instrumentierung, die seiner ganzen Selbstbewegung entspricht. Wenn die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Epoche, in der sich solche Techniken entwickeln, nur durch die Vermittlung dieser Techniken befriedigt werden können, wenn die Verwaltung dieser Gesellschaft sowie jeder Kontakt zwischen den Menschen nur mittels dieser Macht augenblicklicher Kommunikation stattfinden können, ist dafür der Grund, daß diese „Kommunikation“ wesentlich einseitig ist; folglich läuft ihre Konzentrierung darauf hinaus, in den Händen der Verwaltung des bestehenden Systems die Mittel anzuhäufen, die es ihm erlauben, diese bestimmte Verwaltung fortzuführen. Die verallgemeinerte Entzweiung des Spektakels ist untrennbar vom modernen Staat, — d.h. von der allgemeinen Form der Entzweiung in der Gesellschaft —, dem Produkt der Teilung der gesellschaftlichen Arbeit und dem Werkzeug der Klassenherrschaft.
25.
Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels. Die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit und die Herausbildung der Klassen hatten eine erste heilige Kontemplation gebaut, die mythische Ordnung, mit der sich jede Macht schon von Urbeginn an umhüllt. Das Heilige hat die kosmische und ontologische Anordnung gerechtfertigt, die den Interessen der Herren entsprach und es hat das erklärt und beschönigt, was die Gesellschaft nicht tun konnte. Also war jede getrennte Macht spektakulär, aber die Zustimmung aller zu einem solchen feststehenden Bild bedeutete nur die gemeinsame Anerkennung einer imaginären Verlängerung für die Armut der wirklichen gesellschaftlichen Tätigkeit, die noch sehr viel als einheitliche Bedingung empfunden wurde. Im Gegenteil drückt das moderne Spektakel das aus, was die Gesellschaft tun kann, aber in dieser Äußerung stellt sich das Erlaubte absolut dem Möglichen entgegen. Das Spektakel ist die Erhaltung der Bewußtlosigkeit in der praktischen Veränderung der Existenzbedingungen. Das Spektakel ist sein eigenes Produkt, es selbst ist es, das seine Regeln aufgestellt hat: es ist ein Pseudo-Heiliges. Es zeigt was es ist: die getrennte Macht, welche — bei dem Produktivitätswachstum durch die unaufhörliche Verfeinerung der Teilung der Arbeit zur Zerstückelung der zugleich von der unabhängigen Maschinenbewegung beherrschten Gesten — sich in sich selbst entwickelt und für einen stets weiteren Markt arbeitet. Jedes Gemeinwesen und jeder kritische Sinn haben sich während dieser ganzen Bewegung aufgelöst, in der sich die Kräfte, die bei ihrer Trennung wachsen konnten, noch nicht wiedergefunden haben.
26.
Bei der verallgemeinerten Trennung des Arbeiters von seinem Produkt geht jeder einheitliche Überblick über die ausgeführte Tätigkeit, jede persönliche, direkte Mitteilung zwischen den Produzenten verloren. Im Laufe des Fortschritts der Akkumulation der getrennten Produkte und der Konzentration des Produktionsprozesses werden die Einheit und die Mitteilung zum ausschließenden Attribut der Systemleitung. Das Gelingen des wirtschaftlichen Systems der Trennung ist die Proletarisierung der Welt.
27.
Am Pol der Entwicklung des Systems verschiebt sich durch das Gelingen selbst der getrennten Produktion als Produktion des Getrennten die Grunderfahrung, die in den Urgesellschaften mit einer hauptsächlichen Arbeit verbunden war, zur Nichtarbeit und zur Untätigkeit. Doch diese Untätigkeit ist keineswegs von der Produktionstätigkeit befreit: sie hängt von ihr ab, sie ist unruhige und bewundernde Unterwerfung unter die Erfordernisse und Ergebnisse der Produktion; sie ist selbst ein Produkt von deren Rationalität. Außerhalb der Tätigkeit kann es keine Freiheit geben, und im Rahmen des Spektakels wird jede Tätigkeit verneint, genauso wie die wirkliche Tätigkeit vollständig für den Gesamtaufbau dieses Ergebnisses aufgefangen worden ist. Daher ist die heutige „Befreiung von der Arbeit“, die Ausdehnung der Freizeit, keineswegs Befreiung in der Arbeit oder Befreiung einer durch diese Arbeit geformten Welt. Nichts von der in der Arbeit gestohlenen Tätigkeit kann sich in der Unterwerfung unter ihr Ergebnis wiederfinden.
28.
Das auf die Vereinzelung gegründete Wirtschaftssystem ist eine zirkuläre Produktion der Vereinzelung. Die Vereinzelung begründet die Technik und der technische Prozeß vereinzelt rückwirkend. Alle durch das spektakuläre System ausgewählten Güter, vom Auto bis zum Fernsehen sind auch seine Waffen, um beständig die Vereinzelungsbedingungen der „einsamen Massen“ zu verstärken. Das Spektakel findet immer konkreter seine eigenen Voraussetzungen wieder.
29.
Der Ursprung des Spektakels ist der Verlust der Einheit der Welt, und die riesengroße Ausbreitung des modernen Spektakels drückt die Vollständigkeit dieses Verlustes aus: die Abstraktion jeder besonderen Arbeit und die allgemeine Abstraktion der Gesamtproduktion äußern sich vollkommen im Spektakel, dessen konkrete Seinsweise gerade die Abstraktion ist. Im Spektakel stellt sich ein Teil der Welt vor der Welt dar, und ist über sie erhaben. Das Spektakel ist nur die gemeinschaftliche Sprache dieser Trennung. Was die Zuschauer miteinander verbindet, ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum selbst, das ihre Vereinzelung aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als Getrenntes.
30.
Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts (das das Ergebnis seiner eigenen bewußtlosen Tätigkeit ist) drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum tätigen Menschen erscheint darin, daß seine eigenen Gesten nicht mehr ihm gehören, sondern einem anderen, der sie ihm vorführt. Der Zuschauer fühlt sich daher nirgends zu Hause, denn das Spektakel ist überall.
31.
Der Arbeiter produziert nicht sich selbst, sondern eine unabhängige Macht. Der Erfolg dieser Produktion, ihr Überfluß, kehrt zum Produzenten als Überfluß der Enteignung zurück. Die ganze Zeit und der ganze Raum seiner Welt werden ihm bei der Akkumulation seiner entfremdeten Produkte fremd. Das Spektakel ist die Landkarte dieser neuen Welt, eine Landkarte, die genau ihr Territorium deckt. Eben die Kräfte, die uns entgangen sind, zeigen sich uns in ihrer ganzen Macht.
32.
Das Spektakel in der Gesellschaft entspricht einer konkreten Herstellung der Entfremdung. Die wirtschaftliche Expansion ist hauptsächlich die Expansion dieser bestimmten industriellen Produktion. Was mit der sich für sich selbst bewegenden Wirtschaft anwächst, kann nur die Entfremdung sein, die gerade in ihrem ursprünglichen Kern enthalten war.
33.
Der von seinem Produkt getrennte Mensch produziert immer machtvoller alle Einzelheiten seiner Welt und findet dadurch immer mehr von seiner Welt getrennt. Je mehr sein Leben jetzt sein Produkt ist, um so mehr ist er von seinem Leben getrennt.
34.
Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, daß es zum Bild wird.
2. Kapitel DIE WARE ALS SPEKTAKEL
„Denn nur als Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins ist die Ware in ihrer unverfälschten Wesensart begreifbar. Erst in diesem Zusammenhang gewinnt die durch das Warenverhältnis entstandene Verdinglichung eine entscheidende Bedeutung sowohl für die objektive Entwicklung der Gesellschaft wie für das Verhalten der Menschen zu ihr; für das Unterworfenwerden ihres Bewußtseins den Formen, in denen sich diese Verdinglichung ausdrückt [...]. Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer kontemplativen Haltung wird.“ Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein).
35.
An dieser wesentlichen Bewegung des Spektakels, die darin besteht, alles in sich aufzunehmen, was in der menschlichen Tätigkeit in flüssigem Zustand war, um es in geronnenem Zustand als Dinge zu besitzen, die durch die negative Umformulierung des erlebten Wertes zum ausschließlichen Wert geworden sind — erkennen wir unsere alte Feindin wieder, die so leicht auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding scheint, während sie doch im Gegenteil ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit: die Ware.
36.
Das Prinzip des Warenfetischismus ist es, d.h. die Beherrschung der Gesellschaft durch „sinnliche übersinnliche Dinge“, das sich absolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen.
37.
Die zugleich anwesende und abwesende Welt, die das Spektakel zur Schau stellt, ist die jedes Erlebnis beherrschende Warenwelt. Und die Warenwelt wird auf diese Weise gezeigt genau wie sie ist, denn ihre Bewegung ist identisch mit der Entfernung der Menschen voneinander und ihrem Gesamtprodukt gegenüber.
38.
Der auf allen Ebenen der spektakulären Sprache so offensichtliche Qualitätsverlust der von ihr gepriesenen Gegenstände und der von ihr geregelten Verhaltensweisen drückt nur die Grundmerkmale der wirklichen Produktion aus, die die Wirklichkeit beseitigt: die Warenform ist durch und durch die Mitsichselbstgleichheit, die Kategorie des Quantitativen. Das Quantitative ist es, das sie entwickelt, und in ihm nur kann sie sich entwickeln.
39.
Diese Entwicklung, die das Qualitative ausschließt, untersteht selbst als Entwicklung dem qualitativen Übergang: das Spektakel bedeutet, daß sie die Schwelle ihres eigenen Überflusses überschritten hat; dies ist lokal erst auf einigen Punkten wahr, dennoch trifft es bereits im Weltmaßstabe zu, der der Urmaßstab ist, und ihre praktische Bewegung hat diesen Maßstab bestätigt, indem sie die ganze Erde als Weltmarkt umfaßt.
40.
Die Entwicklung der Produktivkräfte war die bewußtlose wirkliche Geschichte, die die Existenzbedingungen der Menschengruppen als Überlebensbedingungen und als deren Erweiterung aufgebaut und verändert hat; die ökonomische Basis all ihrer Unternehmungen. Innerhalb einer Naturalwirtschaft bestand der Bereich der Ware in der Schaffung eines Überschusses an Überleben. Die Warenproduktion, die den Austausch verschiedenartiger Produkte zwischen unabhängigen Produzenten voraussetzt, konnte lange handwerkmäßig, in einer wirtschaftlichen Randfunktion beschränkt bleiben, worin ihre quantitative Wahrheit noch verdeckt ist. Da jedoch, wo sie die gesellschaftlichen Bedingungen des Großhandels und der Kapitalakkumulation antraf, bemächtigte sie sich der gesamten Wirtschaft. Die ganze Wirtschaft ist also zu dem geworden, als was sich die Ware bei dieser Eroberung erwiesen hatte: zu einem Prozeß quantitativer Entwicklung. Diese unaufhörliche Entfaltung der wirtschaftlichen Macht in der Form der Ware, die die menschliche Arbeit zur Ware Arbeit, zur Lohnarbeit, umgebildet hat, führte kumulativ zu einem Überfluß, in dem die Grundfrage des Überlebens zweifelsohne gelöst wird, aber so daß sie immer wiederkehren muß; sie wird jedesmal wieder auf einer höheren Stufe gestellt. Das Wirtschaftswachstum befreit die Gesellschaften vom natürlichen Druck, der ihren unmittelbaren Überlebenskampf erforderte, nun aber sind sie von ihrem Befreier nicht befreit. Die Unabhängigkeit der Ware hat sich auf das Ganze der von ihr beherrschten Wirtschaft ausgedehnt. Die Wirtschaft verwandelt die Welt, aber nur in eine Welt der Wirtschaft. Die Pseudonatur, in der sich die menschliche Arbeit entfremdet hat, erfordert, daß ihr Dienst endlos fortgesetzt wird, und da dieser Dienst nur von sich selbst beurteilt und freigesprochen wird, erlangt er in der Tat die Gesamtheit der gesellschaftlich zulässigen Bemühungen und Vorhaben als seine Diener. Der Überfluß der Waren, d.h. des Warenverhältnisses, kann nicht mehr als das vermehrte Überleben sein.
41.
Die Ware hat ihre Herrschaft über die Wirtschaft zuerst verdeckt ausgeübt, und diese Wirtschaft selbst blieb als materielle Grundlage des gesellschaftlichen Lebens unbemerkt und unbegriffen, so wie das Bekannte überhaupt darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt ist. In einer Gesellschaft, in der die konkrete Ware selten oder in der Minderheit bleibt, stellt sich die scheinbare Herrschaft des Geldes als der mit unumschränkter Vollmacht versehene Gesandte dar, der im Namen einer unbekannten Macht spricht. Mit dem Eintreten der industriellen Revolution, der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit und der massenhaften Produktion für den Weltmarkt erscheint die Ware tatsächlich als eine Macht, die das gesellschaftliche Leben wirklich in Beschlag nimmt. Zu dieser Zeit bildet sich die politische Ökonomie als herrschende Wissenschaft und als Wissenschaft der Herrschaft heraus.
42.
Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt. Die moderne Wirtschaftsproduktion dehnt ihre Diktatur extensiv aus. An den am wenigsten industrialisierten Orten ist ihr Reich schon durch einige Star-Waren und als imperialistische Herrschaft der an der Spitze der Produktivitätsentwicklung stehenden Zonen vorhanden. In diesen fortgeschrittenen Zonen wird der gesellschaftliche Raum durch eine ununterbrochene Übereinanderlagerung geologischer Warenschichten überschwemmt. An diesem Punkt der „zweiten industriellen Revolution“ wird neben der entfremdeten Produktion der entfremdete Konsum zu einer zusätzlichen Pflicht für die Massen. Die ganze verkaufte Arbeit einer Gesellschaft wird völlig zur Gesamtware, deren Kreislauf sich fortsetzen muß. Dazu muß diese Gesamtware dem fragmentarischen Individuum, das von den als ein Ganzes wirkenden Produktivkräften absolut getrennt ist, fragmentarisch zurückkehren. Hier muß sich gerade die spezialisierte Wissenschaft der Herrschaft ihrerseits spezialisieren: sie zerbröckelt in Soziologie Psychotechnik, Kybernetik, Semiologie usw., und wacht über die Selbstregulierung aller Stufen des Prozesses.
43.
Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen Akkumulation „die Nationalökonomie den Proletarier nur als Arbeiter betrachtet“, der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unentbehrliche Minimum bekommen muß, ohne ihn jemals „in seiner arbeitslosen Zeit, als Mensch“ zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise der herrschenden Klasse um, sobald der in der Warenproduktion erreichte Überflußgrad vom Arbeiter einen Überschuß von Kollaboration erfordert. Dieser Arbeiter, von der vollständigen Verachtung plötzlich reingewaschen, die ihm durch alle Organisations- und Überwachungsbedingungen der Produktion deutlich gezeigt wird, findet sich jeden Tag außerhalb dieser Produktion, in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus zuvorkommender Höflichkeit scheinbar wie ein Erwachsener behandelt. Da nimmt der Humanismus der Ware den Arbeiter „in seiner arbeitslosen Zeit und als Mensch“ in die Hand ganz einfach deswegen, weil die politische Ökonomie diese Sphären beherrschen kann und muß. So hat „die konsequente Durchführung der Verleugnung des Menschen“ die Ganzheit der menschlichen Existenz in die Hand genommen.
44.
Das Spektakel ist ein ständiger Opiumkrieg, um die Identifizierung der Güter mit den Waren und auch die der Zufriedenheit mit dem sich nach seinen eigenen Gesetzen vermehrenden Überleben aufzuzwingen. Wenn aber das konsumierbare Überleben etwas ist, das sich ständig vermehren muß, so deshalb, weil es die Entbehrung immer noch enthält. Wenn es kein Jenseits des vermehrten Überlebens gibt, keinen Punkt, an dem dieses Überleben sein Wachstum beenden könnte, so deshalb, weil es selbst nicht jenseits der Entbehrung liegt, sondern die reicher gewordene Entbehrung ist.
45.
Mit der Automation, die der fortgeschrittenste Bereich der modernen Industrie und zugleich das Modell ist, in dem sich deren Praxis vollkommen zusammenfaßt, muß die Warenwelt den folgenden Widerspruch überwinden: die technische Instrumentierung, die objektiv die Arbeit abschafft, muß gleichzeitig die Arbeit als Ware und als einzigen Geburtsort der Ware erhalten. Damit die Automation oder jede andere weniger extreme Form der Produktivitätssteigerung der Arbeit, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wirklich nicht verkürzt, müssen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Tertiärsektor, die Dienstleistungen sind das ungeheure Ausdehnungsfeld für die Etappenlinien der Distributions- und Lobpreisungsarmee der heutigen Waren; gerade in der Künstlichkeit der Bedürfnisse nach solchen Waren findet diese Mobilisierung von Ergänzungskräften glücklich die Notwendigkeit einer solchen Organisation der Nachhut-Arbeit vor.
46.
Der Tauschwert konnte sich nur als Agent des Gebrauchswerts bilden, aber sein durch seine eigenen Waffen errungener Sieg hat die Bedingungen seiner autonomen Herrschaft geschaffen. Durch die Mobilisierung jedes menschlichen Gebrauchs und die Ergreifung des Monopols von dessen Befriedigung ist der Tauschwert endlich dazu gekommen, den Gebrauch zu steuern. Der Tauschprozeß hat sich mit jedem möglichen Gebrauch identifiziert und hat ihn auf seine Gnade und Ungnade unterjocht. Der Tauschwert ist der Kondottiere des Gebrauchswertes, der endlich den Krieg für seine eigene Tasche führt.
47.
Jene Konstante der kapitalistischen Wirtschaft, die in dem tendenziellen Fall des Gebrauchswerts besteht, entwickelt eine neue Form der Entbehrung innerhalb des vermehrten Überlebens; dieses ist ebensowenig von der alten Not befreit, da es die Mitwirkung der großen Mehrheit der Menschen als Lohnarbeiter zur endlosen Fortsetzung seines Strebens fordert und da jeder weiß, daß er sich entweder unterwerfen oder sterben muß. Die Wirklichkeit dieser Erpressung, d.h. die Tatsache, daß der Gebrauch in seiner ärmsten Form (Essen, Wohnen) nur noch besteht, soweit er im Scheinreichtum des vermehrten Überlebens eingeschlossen bleibt, ist die wirkliche Grundlage dafür, daß die Täuschung überhaupt beim Konsum der modernen Waren hingenommen wird. Der wirkliche Konsument wird zu einem Konsumenten von Illusionen; Die Ware ist diese wirkliche Illusion und das Spektakel ihre allgemeine Äußerung.
48.
Der Gebrauchswert, der im Tauschwert implizit mit inbegriffen war, muß jetzt in der verkehrten Realität des Spektakels explizit verkündet werden, und zwar gerade weil seine Wirklichkeit durch die überentwickelte Warenwirtschaft zersetzt wird und weil eine Pseudorechtfertigung zum falschen Leben nötig wird.
49.
Das Spektakel ist die andere Seite des Geldes: das abstrakte allgemeine Äquivalent aller Waren. Wenn aber das Geld als Vertretung der zentralen Äquivalenz, d.h. als Vertretung der vielfältigen Güter — deren Gebrauch unvergleichbar blieb — die Gesellschaft beherrscht hat, ist das Spektakel seine moderne, entwickelte Ergänzung, in der die Totalität der Warenwelt als allgemeine Äquivalenz mit all dem, was die Gesamtheit der Gesellschaft sein und tun kann, im ganzen erscheint: Das Spektakel ist das Geld, das man nur anblickt, denn das Ganze des Gebrauchs hat sich in ihm schon gegen das Ganze der abstrakten Vorstellung ausgetauscht. Das Spektakel ist nicht nur der Diener des Pseudogebrauchs, es ist bereits in sich selbst der Pseudogebrauch des Lebens.
50.
Beim wirtschaftlichen Überfluß wird das konzentrierte Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeit augenscheinlich und unterwirft jede Realität dem Schein, der nun sein Produkt ist. Das Kapital ist nicht mehr das unsichtbare Zentrum, das die Produktionsweise leitet: seine Akkumulation breitet es in der Form von sinnlichen Gegenständen bis an die Peripherie aus. Die ganze Ausdehnung der Gesellschaft ist sein Porträt.
51.
Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich ihr Untergang sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die unwandelbare Grundlage der alten Gesellschaften war. Wenn diese autonome Wirtschaft durch die Notwendigkeit der endlosen wirtschaftlichen Entwicklung die wirtschaftliche Notwendigkeit ersetzt, kann sie nur die Befriedigung der summarisch anerkannten ersten menschlichen Bedürfnisse durch eine ununterbrochene Erzeugung von Pseudobedürfnissen ersetzen, die sich auf das einzige Pseudobedürfnis der Aufrechterhaltung ihres Reichs zurückführen lassen. Die autonome Wirtschaft aber hebt sich für immer vom tiefen Bedürfnis im gleichen Maße ab, wie sie aus dem gesellschaftlichen Unbewußten heraustritt, das von ihr abhing, ohne es zu wissen. „Alles, was bewußt ist, nutzt sich ab. Was unbewußt ist, bleibt unveränderlich. Aber wenn es einmal befreit ist, zerfällt es dann nicht seinerseits?“ (Freud.)
52.
In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, daß sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die bis zu ihrem souveränen Erscheinen wuchs, hat auch ihre Macht verloren. Wo das wirtschaftliche Es war, muß das Ich werden. Das Subjekt kann nur aus der Gesellschaft, d.h. aus dem Kampf, der in ihr selbst ist, hervorgehen. Seine mögliche Existenz hängt von den Ergebnissen des Klassenkampfs ab, der sich als Produkt und Produzent der wissenschaftlichen Grundlegung der Geschichte offenbart.
53.
Das Bewußtsein der Begierde und die Begierde des Bewußtseins sind identisch derjenige Entwurf, der in seiner negativen Form die Aufhebung der Klassen will, d.h. die unmittelbare Herrschaft der Arbeiter über alle Momente ihrer Tätigkeit. Sein Gegenteil ist die Gesellschaft des Spektakels, in der die Ware sich selbst in einer von ihr geschaffenen Welt anschaut.
3. Kapitel EINHEIT UND TEILUNG IM SCHEIN
„An der Front der Philosophie durchzieht eine neue lebhafte Polemik das Land über die Begriffe „eins teilt sich in zwei“ und „zwei vereinigen sich zu einem“. Dieser Streit ist ein Kampf zwischen denjenigen, die für, und denjenigen, die gegen die materialistische Dialektik sind, ein Kampf zwischen zwei Weltanschauungen, der proletarischen und der bürgerlichen. Diejenigen, die die Meinung verfechten, daß „sich eins in zwei teilt“ das grundlegende Gesetz der Dinge ist, stehen auf der Seite der materialistischen Dialektik; diejenigen, die die Meinung verfechten, daß „sich zwei zu einem vereinigen“, sind Gegner der materialistischen Dialektik. Die beiden Seiten haben eine klare Demarkationslinie zwischen einander gezogen, und ihre Argumente sind diametral entgegengesetzt. Diese Polemik spiegelt auf der ideologischen Ebene den zugespitzten und komplexen Klassenkampf wider, der sich in China und in der Welt abspielt.“ Die Rote Fahne - Peking, 21. September 1964
54.
Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf die Zerrissenheit auf. Aber wenn der Widerspruch im Spektakel auftaucht, wird ihm seinerseits durch eine Umkehrung seines Sinnes widersprochen; so daß die aufgezeigte Teilung einheitlich ist, während die aufgezeigte Einheit geteilt ist.
55.
Der Kampf von Gewalten, die zur Verwaltung desselben sozialökonomischen Systems entstanden sind, entfaltet sich als der offizielle Widerspruch, der in Wirklichkeit zur tatsächlichen Einheit gehört; das gilt ebenso im Weltmaßstabe wie innerhalb jeder Nation.
56.
Die falschen, spektakulären Kämpfe zwischen den rivalisierenden Formen der getrennten Gewalt sind zugleich real, indem sie die ungleiche, konfliktorische Entwicklung des Systems äußern, und auch die relativ widersprüchlichen Interessen der Klassen oder Klassenunterabteilungen, die das System anerkennen und ihre eigene Teilnahme an seiner Gewalt definieren. Wie die Entwicklung der fortgeschrittenen Wirtschaft im Zusammenstoß bestimmter Prioritäten mit anderen besteht, so werden die durch eine Staatsbürokratie ausgeübte totalitäre Verwaltung der Wirtschaft und der Zustand der Länder, welche sich in die Sphäre der Kolonisation oder Halbkolonisation gestellt fanden, durch beträchtliche Besonderheiten in den Produktions- und Machtbedingungen definiert. Diese verschiedenen Gegensätze können sich im Spektakel mit ganz unterschiedlichen Kriterien gemessen, als absolut verschiedenartige Gesellschaftsformen geben. Aber ihrer Wirklichkeit als besonderen Bereichen gemäß, liegt die Wahrheit ihrer Besonderheit im allgemeinen System, das sie enthält: in der einzigen Bewegung, die den ganzen Planeten zu ihrem Spielraum gemacht hat, d.h. im Kapitalismus.
57.
Die Gesellschaft, die das Spektakel unterhält, beherrscht die unterentwickelten Gebiete nicht allein durch ihre wirtschaftliche Hegemonie. Sie beherrscht sie auch als Gesellschaft des Spektakels. Dort, wo die materielle Grundlage noch fehlt, hat die moderne Gesellschaft bereits spektakulär auf die gesellschaftliche Oberfläche jedes Kontinents übergegriffen. Sie definiert das Programm einer herrschenden Klasse und leitet deren Herausbildung. Wie sie die zu begehrenden Pseudogüter zeigt, so bietet sie den lokalen Revolutionären die falschen Vorbilder von Revolutionen dar. Das besondere Spektakel der bürokratischen Gewalt, die einige industrielle Länder unter ihrer Macht hält, gehört eben zum Gesamtspektakel, als seine allgemeine Pseudo-Negation und seine Stütze. Wenn das Spektakel, in seinen verschiedenen Lokalisierungen betrachtet, totalitäre Spezialisierungen der gesellschaftlichen Sprache und Verwaltung an den Tag legt, so verschmelzen diese auf der Ebene der Gesamtfunktion des Systems zu einer weltweiten Teilung der Aufgaben im Spektakel.
58.
Die Teilung der Aufgaben im Spektakel, die die Allgemeinheit der bestehenden Ordnung erhält, erhält hauptsächlich den beherrschenden Pol ihrer Entwicklung. Die Wurzel des Spektakels liegt im Boden der zum Überfluß gewordenen Wirtschaft, und von dort kommen die Früchte her, die schließlich nach der Herrschaft über den spektakulären Markt trachten, und dies trotz der polizeilich-ideologischen Schutzzollschranken irgendeines lokalen Spektakels, das Autarkie beansprucht.
59.
Die Banalisierungsbewegung, die hinter den schillernden Ablenkungen des Spektakels die moderne Gesellschaft weltweit beherrscht, beherrscht sie auch auf jedem der Punkte, wo der entwickelte Warenkonsum die zur Auswahl stehenden Rollen und Gegenstände scheinbar vervielfacht hat. Die Überreste von Religion und Familie — die die Hauptform des Erbes der Klassengewalt bleibt —, und folglich der von ihnen ausgeübten moralischen Repression, können als ein und dasselbe mit der weitschweifigen Behauptung des Genusses dieser Welt kombiniert werden; während diese Welt gerade nur als Pseudogenuß produziert wird, der die Repression in sich bewahrt. Mit der seligen Hinnahme des Bestehenden kann auch die rein spektakuläre Empörung als ein und dasselbe verbunden werden: dies äußert die einfache Tatsache, daß die Unzufriedenheit selbst zu einer Ware geworden ist, sobald der wirtschaftliche Überfluß fähig wurde, seine Produktion bis auf die Bearbeitung eines solchen Rohstoffes auszudehnen.
60.
Indem er das Bild einer möglichen Rolle in sich konzentriert, konzentriert der Star — d.h. die spektakuläre Vorstellung des lebendigen Menschen — diese Banalität. Der Stand eines Stars ist die Spezialisierung des scheinbaren Erlebten, ist das Objekt der Identifizierung mit dem untiefen, scheinbaren Leben, welches die Zerstückelung der wirklich erlebten Produktionsspezialisierungen aufwiegen soll. Die Stars sind da, um verschiedenerlei Typen von Lebensstilen und Gesellschaftsauffassungen darzustellen, denen es global zu wirken freisteht. Sie verkörpern das unzulängliche Resultat der gesellschaftlichen Arbeit, indem sie Nebenprodukte dieser Arbeit mimen, die als deren Zweck magisch über sie erhoben werden: die Macht und die Ferien, die Entscheidung und der Konsum, die am Anfang und am Ende eines unbestrittenen Prozesses stehen. Dort personalisiert sich die Regierungsgewalt zu einem Pseudostar, hier läßt sich der Star des Konsums als Pseudogewalt über das Erleben durch Plebiszit akklamieren. Aber diese Aktivitäten des Stars sind ebensowenig wirklich global wie verschiedenartig.
61.
Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums, an sich selbst ebenso offensichtlich wie bei den anderen. Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht, hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren. Wenn er auch nach außen hin die Darstellung verschiedener Persönlichkeitstypen ist, zeigt der Konsumstar jeden dieser Typen, als ob er gleichmäßig zur Gesamtheit des Konsums gelangen und dabei gleicherweise sein Glück finden könne. Der Star der Entscheidung muß den vollständigen Bestand all dessen besitzen, was an menschlichen Eigenschaften zugelassen wird. So werden die offiziellen Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen durch die offizielle Ähnlichkeit vernichtet, die die Voraussetzung ihrer Vortrefflichkeit in allem ist. Chruschtschow ist General geworden, um über die Schlacht von Kursk zu entscheiden, doch nicht auf dem Felde, sondern am zwanzigsten Jahrestag, als er der Machthaber des Staates war. Kennedy blieb ein Redner noch als er selbst seine Leichenrede an seinem eigenen Grabe hielt, denn Theodore Sorensen redigierte zu dieser Zeit noch für den Nachfolger die Reden in jenem Stil, der so viel dazu beitrug, daß die bewundernswerten Leute, in denen sich das System personifiziert, nicht das sind, was sie sind; sie sind große Männer geworden, weil sie unter die Realität des bescheidensten, individuellen Lebens herabgesunken sind, und jedermann weiß das.
62.
Die falsche Auswahl im spektakulären Überfluß, die in der Nebeneinanderreihung von konkurrierenden und solidarischen Spektakeln sowie in der Nebeneinanderstellung von einanderausschließenden und ineinandergreifenden Rollen (die hauptsächlich von Gegenständen getragen und ausgedrückt werden) besteht, entwickelt sich zu einem Kampf zwischen gespenstischen Qualitäten, die die Zustimmung zur quantitativen Trivialiät leidenschaftlich begeistern sollen. So erstehen falsche, archaische Gegensätze, Regionalismen oder Rassismen wieder, die die Vulgarität der hierarchischen Platzverteilung innerhalb des Konsums zu einer phantastischen, ontologischen Überlegenheit verklären sollen. So setzt sich die endlose Reihe der lächerlichen Zusammenstöße wieder zusammen, die von den sportlichen Wettkämpfen bis zu den Wahlen ein noch nicht einmal ludistisches Interesse mobilisieren. Dort, wo sich der Konsum im Überfluß niedergelassen hat, nimmt ein hauptsächlicher schauspielhafter Gegensatz zwischen der Jugend und den Erwachsenen den Vordergrund des trügerischen Rollenspiels ein: denn nirgends gibt es einen Erwachsenen, einen Herrn über sein Leben, und die Jugend, die Änderung des Bestehenden, ist keineswegs das Eigentum derjenigen, die jetzt jung sind, sondern sie gehört dem Wirtschaftssystem, dem Dynamismus des Kapitalismus an. Dinge sind es, die herrschen und jung sind, die einander verjagen und ersetzen.
63.
Hinter den spektakulären Gegensätzen verbirgt sich die Einheit des Elends. Wenn verschiedene Formen derselben Entfremdung einander unter den Masken der totalen Auswahl bekämpfen, so deswegen, weil sie alle auf den verdrängten, wirklichen Widersprüchen aufgebaut sind. Nach den Erfordernissen der besonderen Stufe des Elends, das es verleugnet und aufrechterhält, existiert das Spektakel in einer konzentrierten oder diffusen Form. In beiden Fällen ist es nur ein von Trostlosigkeit und Grausen umgebenes Bild glücklicher Vereinigung im stillen Zentrum des Unglücks.
64.
Das konzentrierte Spektakuläre gehört wesentlich zum bürokratischen Kapitalismus, wenn es auch als Technik der Staatsgewalt über rückständigere halbstaatliche Wirtschaften oder in bestimmten Krisenzeiten des fortgeschrittenen Kapitalismus eingeführt werden kann. Das bürokratische Eigentum ist tatsächlich selbst konzentriert in dem Sinne, daß der einzelne Bürokrat lediglich vermittels der bürokratischen Gemeinschaft, nur als deren Mitglied, mit dem Besitz der Gesamtwirtschaft verbunden ist. Außerdem stellt sich auch die hier weniger entwickelte Warenproduktion in einer konzentrierten Form dar: die von der Bürokratie verwahrte Ware ist die ganze gesellschaftliche Arbeit, und was sie der Gesellschaft wiederverkauft, ist deren Überleben im ganzen. Die Diktatur der bürokratischen Wirtschaft kann den ausgebeuteten Massen keine nennenswerte Wahlfreiheit lassen, denn sie hat alles selbst wählen müssen und jede andere äußere Wahl, ob sie nun die Ernährung oder die Musik betrifft, ist deshalb bereits die Wahl ihrer vollständigen Zerstörung. Sie muß von einer ständigen Gewaltsamkeit begleitet werden. Das in ihrem Spektakel aufgedrängte Bild des Guten versammelt in sich die Gesamtheit des offiziell Bestehenden und konzentriert sich normalerweise auf einen einzigen Menschen, der der Garant seines totalitären Zusammenhaltes ist. Jedermann muß sich entweder magisch mit diesem absoluten Star identifizieren oder verschwinden. Denn dieser Star ist der Herr seines Nichtkonsums und das heroische Bild einer annehmbaren Deutung für jene absolute Ausbeutung, worin die vom Terror beschleunigte ursprüngliche Akkumulation in Wirklichkeit besteht. Wenn jeder Chinese Mao lernen und folglich Mao sein muß, so heißt das, daß er nichts anderes zu sein hat. Wo das konzentrierte Spektakuläre herrscht, da herrscht auch die Polizei.
65.
Das diffuse Spektakuläre begleitet den Warenüberfluß, d.h. die ungestörte Entwicklung des modernen Kapitalismus. In diesem Fall ist jede einzelne Ware im Namen der Größe der Gesamtproduktion der Gegenstände gerechtfertigt, deren Spektakel ein apologetischer Katalog ist. Unvereinbare Behauptungen drängen sich auf der Bühne des vereinigten Spektakels der Überflußwirtschaft, ebenso wie verschiedene Star-Waren gleichzeitig ihre widersprüchlichen Einrichtungspläne der Gesellschaft vortragen, in der das Spektakel der Kraftwagen einen vollkommenen Verkehr verlangt, der die Altstädte zerstört, während das Spektakel der Stadt selbst Museen-Viertel braucht. Daher wird die bereits problematische Zufriedenheit, die angeblich dem Konsum der Gesamtheit eignet, unmittelbar verfälscht, indem der wirkliche Konsument direkt nur eine Aufeinanderfolge von Bruchstücken dieses Warenglücks berühren kann, denen jedesmal die der Gesamtheit zugeschriebene Qualität offensichtlich fehlt.
66.
Jede bestimmte Ware kämpft für sich selbst, kann die anderen nicht anerkennen, will sich überall durchsetzen, als ob sie die einzige wäre. Damit wird das Spektakel zum epischen Gesang dieses Zusammenstoßes, den der Fall keines Ilion beenden könnte. Das Spektakel besingt nicht die Männer und ihre Waffen, sondern die Waren und ihre Leidenschaften. In diesem blinden Kampf vollbringt jede Ware, indem sie sich von ihrer Leidenschaft hinreißen läßt, bewußtlos ein Höheres: das weltlich-Werden der Ware, das ebenso das zur-Ware-Werden der Welt ist. So kämpft sich, dank einer List der Warenvernunft, das Besondere der Ware aneinander ab, während die Warenform auf ihre absolute Verwirklichung zugeht.
67.
Die Befriedigung, die die Ware im Überfluß durch den Gebrauch nicht mehr verschaffen kann, wird in der Anerkennung ihres Wertes als Ware gesucht: dies ist der Gebrauch der Ware, der sich selbst genügt; und dies ist für den Konsumenten der religiöse Erguß vor der souveränen Freiheit der Ware. So breiten sich mit großer Geschwindigkeit Begeisterungswellen für ein mit allen Informationsmitteln gestütztes und angekurbeltes bestimmtes Produkt aus. Ein Kleidungsstil entsteht aus einem Film, eine Zeitschrift lanciert Klubs, die ihrerseits verschiedenen Ausrüstungen lancieren. Das „Gadget“ spricht diese Tatsache aus, daß im gleichen Augenblick, da die Masse der Waren dem Irrsinn zugleitet, das Irrsinnige selbst zu einer besonderen Ware wird. An den Werbeschlüsselringen z.B., die nicht mehr gekauft werden, sondern als Zugabe bei dem Verkauf von Prestigegegenständen geschenkt werden oder die durch Austausch aus ihrer eigenen Sphäre herkommen, läßt sich die Äußerung einer mystischen Selbsthingabe an die Transzendenz der Ware erkennen. Wer die Schlüsselringe sammelt, die nur zum Sammeln erzeugt wurden, häuft die Ablaßbriefe der Ware, ein ruhmreiches Zeichen ihrer wirklichen Gegenwart unter ihren Getreuen. Der verdinglichte Mensch trägt den Beweis seiner Intimität mit der Ware zur Schau. Wie bei dem krampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen der Schwärmer des alten religiösen Fetischismus, gelangt auch der Warenfetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung. Der einzige Gebrauch, der sich hier noch äußert, ist der grundlegende Brauch der Unterwerfung.
68.
Zweifellos läßt sich das im modernen Konsum aufgezwungene Pseudobedürfnis keinem echten Bedürfnis oder Begehren entgegensetzen, das nicht selbst durch die Gesellschaft und ihre Geschichte geformt wäre. Aber die Ware im Überfluß existiert als der absolute Bruch einer organischen Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Ihre mechanische Akkumulation macht ein unbeschränktes Künstliches frei, angesichts dessen die lebendige Begierde entwaffnet ist. Die kumulative Macht eines unabhängigen Künstlichen zieht überall die Verfälschung des gesellschaftlichen Lebens nach sich.
69.
Im Bild der glücklichen Vereinheitlichung der Gesellschaft durch den Konsum ist die reale Teilung nur bis zum nächsten Nichterfüllen im Konsumierbaren aufgeschoben. Jedes besondere Produkt, das die Hoffnung auf eine blitzschnelle Abkürzung darstellen soll, um endlich ins gelobte Land des totalen Konsums zu gelangen, wird der Reihe nach zeremoniös als die entscheidende Einzelheit hingestellt. Aber wie im Falle der augenblicklichen Verbreitung der Moden von scheinbar aristokratischen Vornamen, die von fast allen gleichaltrigen Individuen getragen werden, so konnte der Gegenstand, von dem eine besondere Gewalt erwartet wird, nur dadurch der Andacht der Massen angeboten werden, daß er in einer hinreichend großen Zahl von Exemplaren vervielfältigt wurde, um massenhaft konsumiert zu werden. Der Prestigecharakter kommt diesem beliebigen Produkt nur dadurch zu, daß es als offenbares Mysterium der Produktionsfinalität für einen Moment ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gestellt wurde. Der Gegenstand, der im Spektakel ein Prestige hatte, wird vulgär, sobald er bei diesem Konsumenten und gleichzeitig bei allen anderen eintritt. Zu spät bringt er seine wesentliche Armut ans Tageslicht, die er natürlich vom Elend seiner Produktion her hat. Aber schon trägt ein anderer Gegenstand die Rechtfertigung des Systems und die Forderung, anerkannt zu werden.
70.
Der Betrug der Befriedigung muß sich selbst denunzieren, indem er sich erneuert, indem er die Veränderung der Produkte und der allgemeinen Produktionsbedingungen verfolgt. Was mit der vollkommensten Unverschämtheit seine eigene endgültige Vortrefflichkeit behauptet hat, ändert sich dennoch im diffusen Spektakel, aber auch im konzentrierten Spektakel, und das System allein muß fortdauern: Stalin wie die veraltete Ware werden von ebendenen denunziert, die sie eingeführt haben. Jede neue Lüge der Werbung ist auch das Eingeständnis ihrer vorigen Lüge. Jeder Sturz einer Gestalt der totalitären Gewalt offenbart die illusorische Gemeinschaft, die sie einstimmig guthieß und die nur ein Agglomerat von illusionslosen Einsamkeiten war.
71.
Was das Spektakel als dauernd präsentiert, ist auf die Veränderung gegründet und muß sich mit seiner Basis verändern. Das Spektakel ist absolut dogmatisch und zugleich ist es ihm unmöglich, zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das Spektakel hört nichts auf; dies ist sein natürlicher und dennoch seiner Neigung entgegengesetztester Zustand.
72.
Die durch das Spektakel ausposaunte irreale Einheit ist die Maske der Klassenteilung, auf der die reale Einheit der kapitalistischen Produktionsweise beruht. Was die Produzenten verpflichtet, an dem Erbauen der Welt teilzunehmen, ist auch das, was sie davon ausschließt. Was die von ihren lokalen und nationalen Schranken befreiten Menschen in Beziehung zueinander bringt, ist auch das, was sie voneinander entfernt. Was zur Vertiefung des Rationellen verpflichtet, ist auch das, was das Irrationelle der hierarchischen Ausbeutung und der Repression nährt. Was die abstrakte Gewalt der Gesellschaft erzeugt, erzeugt auch ihre konkrete Unfreiheit.
4. Kapitel DAS PROLETARIAT ALS SUBJEKT UND ALS REPRÄSENTATION
„Gleiches Recht aller auf die Güter und die Genüsse dieser Welt, die Zerstörung jeder Autorität und die Verneinung aller moralischen Schranken: das ist, wenn man der Sache auf den Grund geht, der wesentliche Zweck des Aufstandes vom 18. März und die Charta der gefürchteten Assoziation, die ihm eine Armee verschaffte.“ Parlamentarische Untersuchung über den Aufstand des 18. März.
73.
Die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, regiert die Gesellschaft seit dem Sieg der Bourgeoisie in der Wirtschaft, sichtbar aber erst seit der politischen Übertragung dieses Sieges. Die Entwicklung der Produktivkräfte hat die alten Produktionsverhältnisse gesprengt, und jede statistische Ordnung zerfällt zu Staub. Alles, was absolut war, wird geschichtlich.
74.
Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an der Arbeit und an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teilnehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Diese Geschichte hat kein anderes Objekt als das, was sie an sich selbst verwirklicht, obwohl die letzte, bewußtlose, metaphysische Anschauung von der geschichtlichen Epoche das produktive Fortschreiten, durch das sich die Geschichte entfaltet hat, als eigentliches Objekt der Geschichte betrachten kann. Das Subjekt der Geschichte kann nur das Lebende sein, das sich selbst produziert und zum Herrn und Besitzer seiner Welt wird, — die die Geschichte ist — und als Bewußtsein seines Spiels existiert.
75.
Als ein und dieselbe Strömung entwickeln sich die Klassenkämpfe der langen revolutionären Epoche, die durch den Aufstieg der Bourgeoisie eröffnet wurde, und das Denken der Geschichte, d.h. die Dialektik, das Denken, das nicht mehr bei der Suche nach dem Sinn des Seienden stehen bleibt, sondern sich zur Erkenntnis der Auflösung alles Bestehenden erhebt, und in der Bewegung jede Trennung auflöst.
76.
Hegel hatte nicht mehr die Welt zu interpretieren, sondern die Veränderung der Welt. Indem er die Veränderung nur interpretierte, ist er nur die philosophische Vollendung der Philosophie. Er will eine Welt begreifen, die sich selbst erzeugt. Dieses geschichtliche Denken ist nur erst das Bewußtsein, das immer zu spät kommt und die Rechtfertigung post festum ausspricht. Es hat die Trennung daher nur im Gedanken aufgehoben. Das Paradox, das darin besteht, den Sinn jeder Realität von ihrer geschichtlichen Vollendung abhängen zu lassen und zugleich, sich selbst als die Vollendung der Geschichte hinstellend, diesen Sinn zu enthüllen, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß der Denker der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in seiner Philosophie nur die Versöhnung mit deren Ergebnis gesucht hat. „Sie drückt auch als Philosophie der bürgerlichen Revolution nicht den ganzen Prozeß dieser Revolution aus, sondern nur seinen letzten Abschluß. Sie ist insofern eine Philosophie nicht der Revolution, sondern der Restauration.“ (Karl Korsch, Thesen über Hegel und die Revolution.) Hegel hat zum letzten Mal die Arbeit des Philosophen geleistet, „die Verklärung des Bestehenden“; aber schon für ihn konnte das Bestehende nur die Totalität der geschichtlichen Bewegung sein. Da die äußere Stellung des Gedankens in der Tat aufrechterhalten wurde, konnte sie nur durch ihre Identifizierung mit einem vorausgehenden Vorhaben des Geistes, des absoluten Helden verhüllt werden, der vollbracht hat, was er wollte, und wollte, was er vollbracht hat, und dessen Erfüllung mit der Gegenwart zusammenfällt. Daher kann die Philosophie, die im Denken der Geschichte stirbt, ihre Welt nur noch dadurch verklären, daß sie sie verleugnet, denn um das Wort zu ergreifen, muß sie bereits das Ende dieser totalen Geschichte, auf die sie alles zurückgeführt hat, und den Schluß der Sitzung des einzigen Gerichts voraussetzen, das das Urteil der Wahrheit fällen kann.
77.
Wenn das Proletariat durch seine eigene Existenz in Taten offenbart, daß sich dieses Denken der Geschichte nicht vergessen hat, ist das Dementi des Schlusses zugleich auch die Bestätigung der Methode.
78.
Das Denken der Geschichte kann nur dadurch gerettet werden, daß es praktisches Denken wird, und die Praxis des Proletariats als revolutionäre Klasse kann nicht weniger sein als das geschichtliche Bewußtsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt. Alle theoretischen Strömungen der revolutionären Arbeiterbewegung sind aus einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Denken hervorgegangen, bei Marx ebenso wie bei Stirner und Bakunin.
79.
Die Untrennbarkeit der Hegelschen Methode von der Marxschen Theorie ist selbst untrennbar von dem revolutionären Charakter dieser Theorie, d.h. von ihrer Wahrheit. Hierin ist diese erste Beziehung allgemein unbekannt geblieben oder mißverstanden oder sogar als die Schwäche dessen angeprangert worden, was trügerisch zu einer marxistischen Lehre wurde. In „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie“ enthüllt Bernstein vollkommen diese Verbindung der dialektischen Methode mit der geschichtlichen Parteinahme, wenn er die unwissenschaftlichen Voraussagen des Manifests von 1847 über das nahe Bevorstehen der proletarischen Revolution in Deutschland beklagt: „Diese geschichtliche Selbsttäuschung, wie sie der erste beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte, würde bei einem Marx, der schon damals ernsthaft Ökonomie getrieben hatte, unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx — ebenso wie Engels — sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist, das aber damals in einer Zeit allgemeiner Gärung, ihm um so verhängnisvoller werden sollte.“
80.
Die Umkehrung, die Marx zwecks einer „Hinüberrettung“ des Denkens der bürgerlichen Revolution vornimmt, besteht nicht trivialerweise darin, durch die materialistische Entwicklung der Produktivkräfte das Fortschreiten des Hegelschen Geistes zu ersetzen der sich selbst in der Zeit entgegen geht, dessen Vergegenständlichung mit seiner Entäußerung identisch ist und dessen geschichtliche Wunden keine Narben zurücklassen. Die wirklich gewordene Geschichte hat kein Ende mehr. Marx hat die getrennte Stellung Hegels angesichts dessen, was geschieht, und die Kontemplation jedes äußeren, höchsten Agenten zugrunde gerichtet. Die Theorie hat nur noch zu erkennen, was sie tut. Im Gegenteil ist die Kontemplation der Wirtschaftsbewegung im herrschenden Denken der gegenwärtigen Gesellschaft das nicht umgekehrte Erbe des undialektischen Teils des Hegelschen Versuchs eines kreisförmigen Systems; sie ist eine Billigung, die die Dimension des Begriffs verloren hat und die kein Hegelianertum mehr braucht, um sich zu rechtfertigen, denn die Bewegung, die es zu loben gilt, ist nur mehr ein gedankenloser Bereich der Welt, dessen mechanische Entwicklung tatsächlich das Ganze beherrscht. Das Marxsche Projekt ist das einer bewußten Geschichte. Das Quantitative, das in der blinden Entwicklung der bloß wirtschaftlichen Produktivkräfte entsteht, muß sich in eine qualitative geschichtliche Aneignung verwandeln. Die Kritik der politischen Ökonomie ist der erste Akt dieses Endes der Vorgeschichte. „Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst.“
81.
Was die Marxsche Theorie eng mit dem wissenschaftlichen Denken verbindet, ist das rationelle Begreifen der Kräfte, die in der Gesellschaft walten. Aber sie ist grundlegend ein Jenseits des wissenschaftlichen Denkens, in dem dieses nur als aufgehobenes aufbewahrt wird: es geht um ein Begreifen des Kampfes und keineswegs des Gesetzes. „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte“ heißt es in der deutschen Ideologie.
82.
Die bürgerliche Epoche, die die Geschichte wissenschaftlich begründen will, übersieht die Tatsache, daß diese verfügbare Wissenschaft vielmehr mit der Ökonomie geschichtlich begründet werden sollte. Umgekehrt hängt die Geschichte radikal von dieser Kenntnis ab, aber nur insofern, als diese Geschichte Wirtschaftsgeschichte bleibt. Wieweit im übrigen der Anteil der Geschichte an der Wirtschaft selbst — der Gesamtprozeß, der seine eigenen wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen verändert — von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen verändert — von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Beobachtung übersehen werden konnte, wird durch die Nichtigkeit der sozialistischen Berechnungen gezeigt, die die exakte Periodizität der Krisen festgestellt zu haben glaubten, und seitdem es der ständigen Intervention des Staates gelungen ist, die Wirkung der Krisentendenzen zu kompensieren, sieht dieselbe Art von Beweisführung in diesem Gleichgewicht eine endgültige wirtschaftliche Harmonie. Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von der Geschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen (und zu sich zurückführen) muß. In dieser letzten Bewegung, die die gegenwärtige Geschichte durch eine wissenschaftliche Erkenntnis zu beherrschen glaubt, ist der revolutionäre Standpunkt bürgerlich geblieben.
83.
Obwohl sie selbst in der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Organisation geschichtlich begründet sind, können die utopischen Strömungen des Sozialismus mit Recht als utopisch angesprochen werden, in dem Maße wie sie die Geschichte ablehnen — d.h. den stattfindenden wirklichen Kampf, ebenso wie die Bewegung der Zeit jenseits der unbeweglichen Vollkommenheit ihres Bildes von einer glücklichen Gesellschaft —, nicht jedoch, weil sie die Wissenschaft ablehnen. Die utopischen Denker sind im Gegenteil ganz und gar vom wissenschaftlichen Denken beherrscht, wie es sich in den vorigen Jahrhunderten durchgesetzt hatte. Sie suchen die Vollendung dieses allgemeinen rationellen Systems: sie betrachten sich keineswegs als entwaffnete Propheten, denn Sie glauben an die gesellschaftliche Macht der wissenschaftlichen Beweisführung und sogar, im Fall des Saint-Simonismus an die Machtergreifung durch die Wissenschaft. Wie fragt Sombart, „sollte etwas, das durch Aufklärung, höchstens durch Beispiele in seiner Vollkommenheit bewiesen werden soll, ertrotzt werden können im Kampf?“ Die wissenschaftliche Auffassung der Utopisten erstreckt sich jedoch nicht auf die Erkenntnis, daß gesellschaftliche Gruppen in einer bestehenden Situation Interessen haben und Kräfte, um sie aufrechtzuerhalten, sowie Formen falschen Bewußtseins, die solchen Stellungen entsprechen. Sie bleibt daher weit diesseits der geschichtlichen Realität der Wissenschaftsentwicklung selbst, deren Richtung weitgehend von der aus solchen Faktoren hervorgegangenen gesellschaftlichen Nachfrage bestimmt wurde, die nicht nur das auswählt, was zugelassen, sondern auch das, was erforscht werden kann. Die utopischen Sozialisten, die Gefangene der Darstellungsweise der wissenschaftlichen Wahrheit geblieben sind, begreifen diese Wahrheit nach ihrem reinen abstrakten Bild, wie es sich in einem sehr viel früheren Stadium der Gesellschaft durchgesetzt haue. Die Utopisten wollen, wie Sorel bemerkte, die Gesetze der Gesellschaft nach dem Modell der Astronomie entdecken und nachweisen. Die von ihnen erstrebte Harmonie, die der Geschichte feindlich ist, ergibt sich aus einem Versuch, die von der Geschichte am wenigsten abhängige Wissenschaft auf die Gesellschaft anzuwenden. Diese Harmonie sucht ihre Anerkennung mit der gleichen experimentellen Unschuld wie der Newtonismus, und das ständig postulierte glückliche Menschenlos „spielt in ihrer Gesellschaftswissenschaft eine Rolle, die derjenigen der Trägheit in der rationellen Mechanik analog ist“ (Materiaux pour une theorie du proletariat).
84.
Gerade die deterministisch-wissenschaftliche Seite im Marxschen Denken war die Bresche, durch die der Prozeß der „ldeologisierung“ noch zu seinen Lebzeiten eindrang, und um so mehr in das der Arbeiterbewegung hinterlassene theoretische Erbe. Die Ankunft des Subjekts der Geschichte wird noch auf später verschoben, und die geschichtliche Wissenschaft par excellende, d.h. die Ökonomie, strebt immer weitgehender darauf hin, die Notwendigkeit ihrer eigenen zukünftigen Negation zu garantieren. Aber dadurch wird die revolutionäre Praxis, die die einzige Wahrheit dieser Negation ist, aus dem Bereich der theoretischen Anschauung verstoßen. Daher gilt es, geduldig die wirtschaftliche Entwicklung zu studieren und noch das daraus erfolgende Leid mit einer Hegelschen Ruhe zu dulden, was im Resultat „Friedhof der guten Absichten“ bleibt. Man entdeckt, daß jetzt, der Wissenschaft der Revolutionen zufolge, das Bewußtsein immer zu früh kommt und belehrt werden muß. „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war...“, sagt Engels 1895. Sein ganzes Leben lang hat Marx den einheitlichen Gesichtspunkt seiner Theorie aufrechterhalten, aber die Darlegung seiner Theorie hat sich auf den Boden des herrschenden Denkens begeben, indem sie sich in der Form von Kritiken besonderer Disziplinen, hauptsächlich der Kritik der grundlegenden Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, der politischen Ökonomie, präzisiert. Diese Verstümmelung, die später als endgültig akzeptiert wurde, hat den „Marxismus“ gebildet.
85.
Der Mangel in der Marxschen Theorie ist natürlich der Mangel des revolutionären Kampfes des Proletariates seiner Epoche. Die Arbeiterklasse im Deutschland von 1848 hat nicht die Revolution in Permanenz dekretiert; die Kommune wurde in der Isolierung besiegt. Die revolutionäre Theorie kann daher noch nicht ihre eigene vollständige Existenz erreichen. Darauf angewiesen zu sein, diese Theorie in der Absonderung der Gelehrtenarbeit im British Museum zu verteidigen und zu präzisieren, implizierte einen Verlust in der Theorie selbst. Gerade die auf die Zukunft der Entwicklung der Arbeiterklasse bezogenen wissenschaftlichen Rechtfertigungen und die mit ihnen verbundene organisatorische Praxis sollten in einem weiter fortgeschrittenen Stadium zu Hindernissen für das proletarische Bewußtsein werden.
86.
Die ganze theoretische Mangelhaftigkeit bei der wissenschaftlichen Verteidigung der proletarischen Revolution kann, sowohl was den Inhalt als was die Form der Darstellung angeht, auf eine Identifizierung des Proletariats mit der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der revolutionären Machtergreifung zurückgeführt werden.
87.
Die Tendenz, eine Beweisführung der wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit der proletarischen Gewalt durch den Bezug auf wiederholte Experimente der Vergangenheit zu begründen, verdunkelt schon vom Manifest an das Marxsche Denken der Geschichte, indem sie ihn dazu veranlaßt, ein lineares Bild der Entwicklung der Produktionsweisen aufzustellen, die von Klassenkämpfen mitgerissen wird, welche angeblich jedesmal „mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft [...] oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ enden. Aber ebenso wie in der beobachtbaren Realität der Geschichte „die asiatische Produktionsweise“, wie Marx an anderer Stelle betonte, ihre Unbeweglichkeit trotz aller Klassenauseinandersetzungen behalten hat, so wurden auch weder die Barone von den Aufständen der Leibeigenen, noch die Freien von den Sklavenrevolten des Altertums je besiegt. Im linearen Schema ist zunächst die Tatsache aus dem Blickfeld entschwunden, daß die Bourgeoisie die einzige revolutionäre Klasse ist, die jemals gesiegt hat und daß sie zugleich die einzige Klasse ist, für die die Entwicklung der Wirtschaft Grund und Folge ihrer Beschlagnahme der Gesellschaft war. Die gleiche Vereinfachung hat Marx dazu verleitet, die wirtschaftliche Rolle des Staates bei der Verwaltung einer Klassengesellschaft zu vernachlässigen. Wenn die aufsteigende Bourgeoisie die Wirtschaft vom Staat zu befreien schien, dann nur insoweit, als der alte Staat zugleich das Instrument einer Klassenunterdrückung in einer statischen Wirtschaft war. Die Bourgeoisie hat ihre autonome wirtschaftliche Macht in der mittelalterlichen Periode des Schwächerwerdens des Staates, im Moment feudaler Zerstückelung gleichgewichtiger Gewalten entwickelt. Aber der moderne Staat, der durch den Merkantilismus die Entwicklung der Bourgeoisie zu unterstützen begann und der schließlich zur Zeit des „laisse faire, laisser passer“ zu ihrem Staat wurde, wird sich später als Inhaber einer zentralen Macht in der kalkulierten Verwaltung des wirtschaftlichen Prozesses zeigen. Marx konnte jedoch im Bonapartismus diesen Entwurf der modernen staatlichen Bürokratie beschreiben, nämlich die Fusion von Kapital und Staat, die Bildung einer „nationalen Macht des Kapitals über die Arbeit, einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeit“, wo die Bourgeoisie auf jedes geschichtliche Leben verzichtet, das nicht seine Reduzierung auf die wirtschaftliche Geschichte der Dinge ist und gerne „neben den anderen Klassen zur gleichen politischen Nichtigkeit verdammt“ werden will. Hier sind bereits die sozialpolitischen Grundlagen des modernen Spektakels gelegt, das negativ das Proletariat als einzigen Bewerber um das geschichtliche Leben definiert.
88.
Die zwei einzigen Klassen, die tatsächlich der Marxschen Theorie entsprechen, die zwei reinen Klassen, zu denen die gesamte Analyse in Das Kapital hinführt, die Bourgeoisie und das Proletariat, sind auch die beiden einzigen revolutionären Klassen der Geschichte, aber unter verschiedenen Bedingungen: die bürgerliche Revolution hat stattgefunden, die proletarische Revolution ist ein Projekt, das auf der Grundlage der vorangegangenen Revolutionen entstand, jedoch von ihr qualitativ verschieden. Wenn man die Originalität der geschichtlichen Rolle der Bourgeoisie übersieht, verdeckt man die konkrete Originalität dieses proletarischen Projekts, das nur etwas erreichen kann, insofern es seine eigenen Farben trägt und die „gewaltige Größe seiner Aufgaben“ kennt. Die Bourgeoisie ist zur Macht gelangt, weil sie die Klasse der sich entwickelnden Wirtschaft ist. Das Proletariat kann seinerseits die Macht sein, aber nur wenn es zur Klasse des Bewußtseins wird. Das Reifen der Produktivkräfte kann eine solche Macht nicht garantieren, und dies auch nicht auf dem Umweg der gesteigerten Enteignung, die dieses Reifen begleitet. Die jakobinische Eroberung des Staates kann nicht das Instrument des Proletariats sein. Keine Ideologie kann ihm helfen, Teilzwecke in Gesamtzwecke zu verkleiden, denn es kann keine Teilrealität aufbewahren, die ihm tatsächlich gehörte.
89.
Wenn Marx in einer bestimmten Periode seiner Teilnahme am Kampf des Proletariats zu viel von der wissenschaftlichen Vorhersage erwartet hat, so viel, daß er die intellektuelle Basis der Illusionen des Ökonomismus schuf, so wissen wir doch, daß er persönlich ihm nicht verfiel. In einem wohlbekannten Brief vom 7. Dezember 1867, der einen Artikel begleitete, worin er selbst Das Kapital kritisiert und den Engels in die Presse bringen sollte, als ob er von einem Gegner stammte, hat Marx klar die Grenze seiner eigenen Wissenschaft dargelegt: „Die subjektive Tendenz des Verfassers dagegen - er war vielleicht durch seine Parteistellung und Vergangenheit gebunden und verpflichtet dazu -, d.h. die Manier, wie er sich und anderen das Endresultat der jetzigen Bewegung, des jetzigen gesellschaftlichen Prozesses vorstellt, hat mit seiner wirklichen Entwicklung gar nichts zu schaffen.“ Also dadurch, daß er selbst die „tendenziellen Schlußfolgerungen“ seiner objektiven Analyse denunziert und durch die Ironie des „vielleicht“ in Bezug auf die außerwissenschaftlichen Entscheidungen, zu denen er verpflichtet gewesen sei, zeigt Marx gleichzeitig den methodologischen Schlüssel für die Verschmelzung der beiden Aspekte.
90.
Im geschichtlichen Kampf selbst muß die Verschmelzung des Erkennens mit dem Handeln verwirklicht werden, so daß jede dieser Seiten die andere zur Garantie ihrer eigenen Wahrheit macht. Die Herausbildung der proletarischen Klasse als Subjekt ist die Organisation der revolutionären Kämpfe und die Organisation der Gesellschaft im revolutionären Augenblick: hier müssen die praktischen Bedingungen des Bewußtseins vorhanden sein, in denen sich die Theorie der Praxis bestätigt, indem sie zu praktischer Theorie wird. Diese zentrale Frage der Organisation wurde jedoch von der revolutionären Theorie in der Epoche am wenigsten in Betracht gezogen, in der die Arbeiterbewegung entstand, d.h. als diese Theorie noch den aus dem Denken der Geschichte stammenden einheitlichen Charakter besaß (und sie hatte es sich gerade zur Aufgabe gemacht, ihn bis zu einer einheitlichen geschichtlichen Praxis zu entwickeln). Diese Frage ist im Gegenteil der Ort der Inkonsequenz dieser Theorie, die die Wiederbelebung staatlicher und hierarchischer Anwendungsmethoden zuließ, die der bürgerlichen Revolution entlehnt wurden. Die Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die auf der Grundlage dieses Verzichtes der Theorie entwickelt wurden, haben ihrerseits dahin tendiert, die Erhaltung einer einheitlichen Theorie zu verhindern, indem sie diese in spezialisierte und parzellierte Kenntnisse auflösten. Diese ideologische Entfremdung der Theorie ist folglich außerstande, die praktische Bewährung des von ihr verratenen einheitlichen geschichtlichen Denkens wiederzuerkennen, wenn eine solche Bewährung im spontanen Kampf der Arbeiter plötzlich hervortritt; sie kann lediglich dazu beitragen, ihre Äußerung und ihre Erinnerung zu unterdrücken. Diese im Kampf aufgetauchten geschichtlichen Formen sind jedoch gerade das praktische Milieu, das der Theorie fehlte, um wahr zu sein. Sie sind eine Forderung der Theorie; die jedoch nicht theoretisch formuliert worden war. Der Sowjet war keine Entdeckung der Theorie. Und schon die höchste theoretische Wahrheit der Internationalen Arbeiter Assoziation war ihr eigenes arbeitendes Dasein.
91.
Die ersten Erfolge des Kampfes der Internationale brachten sie dazu, sich von den konfusen Einflüssen der herrschenden Ideologie zu befreien, die in ihr fortbestanden. Aber die Niederlage und die Unterdrückung, die sie bald erfuhr, stellten einen Konflikt zwischen zwei Auffassungen der proletarischen Revolution in den Vordergrund, die beide eine autoritäre Dimension beinhalten, durch welche die bewußte Selbstbefreiung der Klasse aufgegeben wird. Tatsächlich war der unversöhnlich gewordene Streit zwischen Marxisten und Bakunisten zweifach, indem er zugleich die Macht in der revolutionären Gesellschaft und die gegenwärtige Organisation der Bewegung betraf, und beim Übergang von dem einen dieser Aspekte zu dem anderen kehren sich die Positionen der Gegner um. Bakunin bekämpfte die lllusion einer Abschaffung der Klassen durch den autoritären Gebrauch der Staatsmacht, weil er die Neubildung einer herrschenden bürokratischen Klasse und die Diktatur der Gelehrtesten oder derer, die dafür gehalten werden, voraussah. Marx, der glaubte, daß ein untrennbares Reifen der wirtschaftlichen Widersprüche und der demokratischen Erziehung der Arbeiter die Rolle des proletarischen Staates auf eine einfache Phase der Legalisierung neuer gesellschaftlicher Beziehungen, die sich objektiv durchsetzen, beschränken würde, denunzierte bei Bakunin und seinen Anhängern den Autoritarismus einer konspirativen Elite, die sich absichtlich über die Internationale gestellt hatte, mit der extravaganten Absicht, der Gesellschaft die unverantwortliche Diktatur der Revolutionärsten oder derer, die sich als solche werden bezeichnet haben, aufzuzwingen. Bakunin sammelte tatsächlich seine Anhänger in einer derartigen Perspektive: „Als unsichtbare Piloten müssen wir den Volkssturm aus seiner Mitte heraus lenken, aber nicht durch eine offensichtliche Gewalt, sondern durch die kollektive Diktatur aller Verbündeten. Durch eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel und ohne offizielles Recht, die aber um so mächtiger ist, als sie nicht den äußeren Schein der Gewalt besitzt“. So haben sich zwei entgegengesetzte Ideologien der Arbeiterrevolution bekämpft, die beide eine zum Teil wahre Kritik enthielten, aber die Einheit des Denkens der Geschichte verloren und sich selbst als ideologische Autorität errichteten. Mächtige Organisationen, wie die deutsche Sozialdemokratie und die Iberische Anarchistische Förderation, haben treu der einen oder der anderen dieser Ideologien gedient; und überall unterschied sich das Ergebnis weit von dem, was gewollt war.
92.
Den Zweck der proletarischen Revolution als unmittelbar gegenwärtig anzusehen, bildet zugleich die Größe und die Schwäche des wirklichen anarchistischen Kampfes (denn in seinen individualistischen Varianten bleiben die Ansprüche des Anarchismus lächerlich). Vom geschichtlichen Denken der modernen Klassenkämpfe behält der kollektivistische Anarchismus einzig die Schlußfolgerung, und seine absolute Forderung nach dieser Schlußfolgerung äußert sich gleichfalls durch seine entschlossene Verachtung der Methode. Seine Kritik des politischen Kampfes ist daher abstrakt geblieben, während seine Wahl des wirtschaftlichen Kampfes selbst nur gemäß der Illusion einer endgültigen Lösung behauptet wird, welche mit einem Schlag am Tag des Generalstreiks oder des Aufstandes auf diesem Boden erkämpft wird. Die Anarchisten haben ein Ideal zu verwirklichen. Der Anarchismus ist die noch ideologische Negation des Staates und der Klassen, d.h. der gesellschaftlichen Bedingungen selbst der abgesonderten Ideologie. Er ist die Ideologie der reinen Freiheit, die alles gleichmacht und jede Idee des geschichtlichen Übels beseitigt. Dieser Gesichtspunkt der Fusion aller Teilforderungen hat dem Anarchismus das Verdienst eingebracht, die Ablehnung aller bestehenden Verhältnisse für die Gesamtheit des Lebens zu repräsentieren und nicht hinsichtlich einer privilegierten kritischen Spezialisierung, aber da diese Fusion im Absoluten, nach der individuellen Laune, vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung, betrachtet wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer allzu leicht merklichen Zusammenhangslosigkeit verdammt. Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine gleiche einfache totale Schlußfolgerung zu wiederholen und wieder aufs Spiel zu setzen, denn diese erste Schlußfolgerung war von Anfang an mit der vollständigen Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden. Bakunin konnte daher im Jahre 1873, als er die Föderation des Jura verließ, schreiben: „In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, daß irgend jemand imstande ist, noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei, die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen.“ Ohne Zweifel behält diese Auffassung vom geschichtlichen Denken des Proletariats diese Gewißheit, daß die Ideen praktisch werden müssen, aber sie verläßt den geschichtlichen Boden, wenn sie voraussetzt, daß die adäquaten Formen für diesen Übergang zur Praxis schon gefunden sind und nicht mehr verändert werden.
93.
Die Anarchisten, die sich ausdrücklich von der Gesamtheit der Arbeiterbewegung durch ihre ideologische Überzeugung unterscheiden, reproduzieren untereinander diese Trennung der Kompetenzen, indem sie einen günstigen Boden für die informelle Herrschaft der Propagandisten und Verteidiger ihrer eigenen Ideologie über jede anarchistische Organisation schaffen, und diese Spezialisten sind im allgemeinen um so mittelmäßiger, als ihre intellektuelle Tätigkeit hauptsächlich darauf ausgeht, einige endgültige Wahrheiten zu wiederholen. Die ideologische Achtung vor der Einstimmigkeit in der Entscheidung hat vielmehr die unkontrollierte Autorität von Spezialisten der Freiheit in der Organisation selbst begünstigt, und der revolutionäre Anarchismus erwartet vom befreiten Volk die gleiche Art von Einstimmigkeit, welche mit den gleichen Mitteln erreicht wird. Im übrigen hat die Weigerung, den Gegensatz zwischen den Bedingungen einer im derzeitigen Kampf gruppierten Minderheit und denen der Gesellschaft freier Individuen in Betracht zu ziehen, eine ständige Trennung der Anarchisten im Moment der gemeinsamen Entscheidung genährt, wie das Beispiel einer Unzahl anarchistischer Aufstände in Spanien zeigt, die örtlich begrenzt waren und örtlich niedergeschlagen wurden.
94.
Die im echten Anarchismus mehr oder weniger ausdrücklich unterhaltene Illusion ist das ständige nahe Bevorstehen einer Revolution, die der Ideologie und der aus ihr abgeleiteten praktischen Organisationsform durch ihre augenblickliche Vollendung Recht geben soll. Der Anarchismus hat 1936 wirklich eine soziale Revolution und den fortgeschrittensten Entwurf einer proletarischen Gewalt geleitet, den es jemals gegeben hat. In diesem Umstande ist noch zu bemerken, daß einerseits das Signal eines allgemeinen Aufstandes durch das Pronunciamento der Armee aufgezwungen worden war. Indem diese Revolution in den ersten Tagen nicht vollendet worden war, nämlich aufgrund der Existenz einer Franquistischen Macht in der Hälfte des Landes, die stark vom Ausland unterstützt wurde, während die restliche internationale proletarische Bewegung bereits besiegt war, und aufgrund des Fortbestandes bürgerlicher Kräfte oder anderer staatssozialistischer Arbeiterparteien im Lager der Republik, zeigte sich andererseits die organisierte Anarchistenbewegung unfähig, die halben Siege der Revolution auszudehnen oder selbst zu verteidigen. Ihre anerkannten Chefs wurden Minister und Geiseln des bürgerlichen Staates, der die Revolution zerschlug, um den Bürgerkrieg zu verlieren.
95.
Der „orthodoxe Marxismus“ der II. Internationale ist die wissenschaftliche Ideologie der sozialistischen Revolution, die ihre ganze Wahrheit mit dem objektiven Prozeß in der Wirtschaft und mit dem Fortschritt einer Anerkennung dieser Notwendigkeit in der von der Organisation erzogenen Arbeiterklasse identisch setzt. Diese Ideologie findet das Vertrauen in die pädagogische Beweisführung wieder, das den utopischen Sozialismus charakterisiert hatte, ergänzt es aber durch eine kontemplative Bezugnahme auf den Lauf der Geschichte: eine derartige Haltung hat jedoch ebenso die Hegelsche Dimension einer totalen Geschichte wie auch das unbewegliche Bild der Totalität verloren, das in der utopischen Kritik (am stärksten bei Fourier) vorhanden war. Aus einer solchen wissenschaftlichen Haltung, der natürlich nichts anderes übrig blieb, als zumindest symmetrische sittliche Alternativen wiederzubeleben, stammen die Albernheiten Hilferdings, wenn er präzisiert, daß die Anerkennung der Notwendigkeit des Sozialismus keine „Anweisung zu praktischem Verhalten ist. Denn etwas anderes ist es, eine Notwendigkeit zu erkennen, etwas anderes, sich in den Dienst dieser Notwendigkeit zu stellen“ (Das Finanzkapital). Diejenigen, die verkannt haben, daß für Marx und das revolutionäre Proletariat das einheitliche geschichtliche Denken von einer anzunehmenden praktischen Haltung nicht zu unterscheiden war, mußten normalerweise Opfer der Praxis werden, die sie gleichzeitig angenommen hatten.
96.
Die Ideologie der sozialdemokratischen Organisation stellte sie unter die Gewalt der Lehrer, die die Arbeiterklasse erzogen, und die angenommene Organisationsform war die adäquate Form dieser passiven Schulung. Die Teilnahme der Sozialisten der II. Internationale an den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen war ohne Zweifel konkret, aber zutiefst unkritisch. Sie wurde im Namen der revolutionären Illusion, gemäß einer offenbar reformistischen Praxis geführt. So sollte die revolutionäre Ideologie gerade durch den Erfolg derer zerschlagen werden, die ihre Träger waren. Die Absonderung der Abgeordneten und der Journalisten in der Bewegung verleitete diejenigen, die ohnehin schon unter den bürgerlichen Intellektuellen abgeworben worden waren, zur bürgerlichen Lebensweise. Die Gewerkschaftsbürokratie machte gerade diejenigen, die aus den Kämpfen der Industriearbeiter heraus abgeworben und aus ihnen herausgezogen worden waren, zu Maklern der als Ware zu ihrem gerechten Preis zu verkaufenden Arbeitskraft. Damit ihrer aller Tätigkeit etwas Revolutionäres behalten hätte, wäre es erforderlich gewesen, daß der Kapitalismus in diesem Moment außerstande gewesen wäre, diesen Reformismus, den er politisch in ihrer legalistischen Agitation tolerierte, wirtschaftlich zu tragen. Eine solche Unverträglichkeit wurde von ihrer Wissenschaft gesichert und von der Geschichte jederzeit widerlegt.
97.
Dieser Widerspruch, dessen Realität Bernstein ehrlich aufzeigen wollte, weil er der Sozialdemokrat war, der von der politischen Ideologie am weitesten entfernt war und sich am offensten der Methodologie der bürgerlichen Wissenschaft angeschlossen hatte, — diese Realität wurde auch von der reformistischen Bewegung der englischen Arbeiter aufgezeigt, indem sie auf eine revolutionäre Ideologie verzichtete —, sollte dennoch erst durch die geschichtliche Entwicklung selbst unwiderlegbar bewiesen werden. Bernstein hatte, obwohl er im übrigen voll von Illusionen war, bestritten, daß eine Krise der kapitalistischen Produktion auf wunderbare Weise die Sozialisten zur Tat zwingen würde, die nur durch eine legitime Salbung die Erbschaft der Revolution antreten wollten. Der Augenblick tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzung, der mit dem ersten Weltkrieg eintrat, bewies zweimal, wenn er auch an Bewußtseinsbildung fruchtbar war, daß die sozialdemokratische Hierarchie die deutschen Arbeiter nicht revolutionär erzogen hatte, sie in keiner Weise zu Theoretikern gemacht hatte: zuerst, als sich die große Mehrheit der Partei dem imperialistischen Krieg anschloß und dann, als sie in der Niederlage die spartakistischen Revolutionäre zermalmte. Der Exarbeiter Ebert glaubte noch an die Sünde, denn er gab zu, die Revolution „wie die Sünde“ zu hassen. Und dieser gleiche Arbeiterführer erwies sich später als guter Vorläufer der sozialistischen Repräsentation, die sich wenig später dem Proletariat in Rußland und anderswo als absoluter Feind entgegenstellen sollte, als er das genaue Programm dieser neuen Entfremdung formulierte: „Sozialismus heißt viel arbeiten.“
98.
Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente und treue Kautskyaner, der die revolutionäre Ideologie dieses „orthodoxen Marxismus“ unter den russischen Bedingungen anwandte, die die reformistische Praxis nicht zuließen, welche im Gegenteil von der II. Internationale durchgeführt wurde. Die äußere Führung des Proletariats, die vermittels einer den zu „Berufsrevolutionären“ gewordenen Intellektuellen unterstellten, disziplinierten, geheimen Partei handelt, besteht hier in einem Beruf, der mit keinem Führungsberuf der kapitalistischen Gesellschaft paktieren will (übrigens war das politische Regime des Zarismus außerstande, eine solche Öffnung zu bieten, deren Basis in einem fortgeschrittenen Stadium der Macht der Bourgeoisie besteht). Sie wird also zum „Beruf der absoluten Führung“ der Gesellschaft.
99.
Der autoritäre ideologische Radikalismus der Bolschewisten hat sich mit dem Krieg und dem Zusammenbruch der internationalen Sozialdemokratie angesichts des Krieges weltweit entfaltet. Das blutige Ende der demokratischen Illusionen der Arbeiterbewegung hatte aus der ganzen Welt ein Rußland gemacht, und der Bolschewismus, der den ersten revolutionären Bruch, den diese Krisenepoche mit sich gebracht hatte, beherrschte, bot dem Proletariat aller Länder sein hierarchisches und ideologisches Modell an, um mit der herrschenden Klasse „russisch zu sprechen“. Lenin hat dem Marxismus der II. Internationale nicht vorgeworfen, eine revolutionäre Ideologie zu sein, sondern keine mehr zu sein.
100.
Derselbe geschichtliche Moment, in dem der Bolschewismus in Rußland für sich selbst siegte, und die Sozialdemokratie siegreich für die alte Welt kämpfte, bezeichnet die vollendete Entstehung einer Ordnung der Dinge, welche im Mittelpunkt der Herrschaft des modernen Spektakels steht: die Arbeiterrepräsentation hat sich radikal der Klasse entgegensetzt.
101.
„In allen früheren Revolutionen“, schrieb Rosa Luxemburg in der Roten Fahne vom 21. Dezember 1918, „traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm [...] In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer „sozialdemokratischen Partei“ in die Schranken [...] Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich“. So entdeckte die radikale Strömung des deutschen Proletariats wenige Tage vor ihrer Zerstörung das Geheimnis der neuen Bedingungen, die der gesamte vorherige Prozeß (zu dem die Arbeiterrepräsentation erheblich beigetragen hatte) geschaffen hatte: die spektakuläre Organisation der Verteidigung der bestehenden Ordnung, das gesellschaftliche Reich des Scheins, wo keine „Kardinalfrage“ mehr „offen und ehrlich“ gestellt werden kann. Die revolutionäre Repräsentation des Proletariats war in diesem Stadium zugleich der Hauptfaktor und das zentrale Ergebnis der allgemeinen Verfälschung der Gesellschaft geworden.
102.
Die Organisation des Proletariats nach dem bolschewistischen Modell, die aus der russischen Rückständigkeit und dem Verzicht der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zur konterrevolutionären Verkehrung geführt wurde, die sie bewußtlos in ihrem Urkeim enthielt; und der wiederholte Verzicht der Masse der europäischen Arbeiterbewegung auf das Hic Rhodus, hic salta der Periode 1918-1920, dieser Verzicht, der die gewaltsame Zerstörung ihrer radikalen Minderheit einschloß, begünstigte die vollständige Entwicklung des Prozesses und so konnte sich dessen verlogenes Ergebnis vor der Welt als die einzige proletarische Lösung behaupten. Die Ergreifung des staatlichen Monopols der Repräsentation und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die bolschewistische Partei rechtfertigte, ließ sie zu dem werden, was sie war: die Partei der Eigentümer des Proletariats, die die vorherigen Formen des Eigentums im wesentlichen beseitigte.
103.
Alle die Bedingungen der Liquidierung des Zarismus, die in der stets unbefriedigenden theoretischen Debatte der verschiedenen Tendenzen der russischen Sozialdemokratie seit zwanzig Jahren in Betracht gezogen wurden — Schwäche der Bourgeoisie, Gewicht der Bauernmehrheit, entscheidende Rolle eines konzentrierten und schlagkräftigen, aber im Lande höchst minoritären Proletariats — zeigten endlich ihre Lösung in der Praxis durch eine Gegebenheit, die in den Hypothesen nicht vorhanden war: die revolutionäre Bürokratie, die das Proletariat führte, gab, indem sie den Staat ergriff, der Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft. Die rein bürgerliche Revolution war unmöglich, die „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ war sinnlos, die proletarische Macht der Sowjets konnte sich nicht gleichzeitig gegen die Klasse der besitzenden Bauern, gegen die nationale und internationale weiße Reaktion und gegen ihre eigene Repräsentation behaupten, welche als Arbeiterpartei der absoluten Herren des Staates, der Wirtschaft, der Rede und bald auch des Denkens entäußert und entfremdet war. Die Theorie der permanenten Revolution von Trotzki und Parvus, der sich Lenin tatsächlich im April 1917 anschloß, war die einzige, die für die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung der Bourgeoisie zurückgebliebenen Länder wahr wurde, aber dies erst nach der Einführung dieses unbekannten Faktors: der Klassengewalt der Bürokratie. Die Konzentration der Diktatur in den Händen der obersten Repräsentation der Ideologie wurde in den zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Führung am konsequentesten von Lenin verteidigt. Lenin hatte gegenüber seinen Gegnern jedesmal insofern Recht, als er die Lösung unterstützte, die die vorangegangenen Entscheidungen der minoritären absoluten Macht implizierten: die den Bauern staatlich verweigerte Demokratie mußte auch den Arbeitern verweigert werden, was darauf hinauslief, sie auch den kommunistischen Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei und schließlich bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu verweigern. Auf dem X. Kongreß, im Moment, in dem der Sowjet von Kronstadt mit Waffen niedergeschlagen und unter Verleumdungen begraben worden war, kam Lenin in der Auseinandersetzung mit den linksradikalen Bürokraten, die in der „Arbeiteropposition“ organisiert waren, zu dem Schluß, dessen Logik Stalin bis hin zu einer vollkommenen Teilung der Welt fortführte: „Hier oder dort mit einem Gewehr, aber nicht mit der Opposition [...] Wir haben genug von der Opposition.“
104.
Die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin eines Staatskapitalismus übriggeblieben war, sicherte nach Kronstadt, zur Zeit der „neuen Wirtschaftspolitik“, zuerst ihre Macht im Inneren durch eine zeitweilige Allianz mit der Bauernschaft, so wie sie sie nach außen verteidigte, indem sie die in den bürokratischen Parteien der III. Internationale eingereihten Arbeiter als Hilfskraft der russischen Diplomatie benutzte, um jede revolutionäre Bewegung zu sabotieren und bürgerliche Regierungen zu unterstützen, von denen sie einen Beistand in der Weltpolitik erwartete (die Macht der Kuomintang im China 1925-1927, die Volksfront in Spanien und Frankreich usw.). Aber die bürokratische Gesellschaft mußte ihre eigene Vollendung mit Hilfe des Terrors über die Bauernschaft fortführen, um die brutalste ursprünglichste kapitalistische Akkumulation der Geschichte durchzuführen. Diese Industrialisierung der stalinistischen Epoche enthüllt die letzte Realität der Bürokratie: Sie ist die Fortsetzung der Macht, der Wirtschaft, die Rettung des Wesentlichen der Warengesellschaft durch die Aufrechterhaltung der Arbeit als Ware. Sie ist der Beweis der unabhängigen Wirtschaft, die die Gesellschaft so weit beherrscht, daß sie für ihre eigenen Ziele die Klassenherrschaft wiederherstellt, die sie notwendig braucht, was mit anderen Worten heißt, daß die Bourgeoisie eine autonome Macht geschaffen hat, die, solange diese Autonomie besteht, so weit gehen kann, daß sie ohne Bourgeoisie auskommt. Die totalitäre Bürokratie ist nicht „die letzte Klasse, die Eigentümer der Geschichte“ wäre, wie Bruno Rizzi meinte, sondern lediglich eine herrschende Ersatzklasse für die Warenwirtschaft. Das geschwächte kapitalistische Privateigentum wird durch ein vereinfachtes, nicht so verschiedenartiges, als kollektives Eigentum der bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt ersetzt. Diese unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist auch der Ausdruck der wirtschaftlichen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive, diesen Entwicklungsrückstand in bestimmten Gegenden der Welt einzuholen. Die nach dem bürgerlichen Modell der Absonderung organisierte Arbeiterpartei hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen Rahmen geschaffen. Anton Ciliga notierte in einem Gefängnis Stalins, daß „die technischen Organisationsprobleme sich als gesellschaftliche Probleme erwiesen“ (Lenin und die Revolution).
105.
Die revolutionäre Ideologie, d.h. die Kohärenz des Getrennten — dessen größte voluntaristische Anstrengung der Leninismus bildet —, die die Verwaltung einer Realität innehat, die sie abweist, wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit in der Inkohärenz gelangen. In diesem Augenblick ist die Ideologie keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt wird, wird zum Wahnsinn. In der totalitären ideologischen Proklamation ist die Realität ebenso wie der Zweck aufgelöst: alles, was sie sagt, ist alles, was ist. Sie ist ein lokaler Primitivismus des Spektakels, dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des Weltspektakels wesentlich ist. Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt wirtschaftlich verändert, wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus: sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.
106.
Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet sie, daß sie nicht existiert, und ihre Stärke dient ihr zunächst dazu, ihre Nichtexistenz zu behaupten. Nur in diesem Punkt ist sie bescheiden, denn ihre offizielle Nichtexistenz muß auch mit dem nec plus ultra der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen, das man gleichzeitig angeblich ihrer unfehlbaren Führung verdanken soll. Die überall zur Schau gestellte Bürokratie muß für das Bewußtsein die unsichtbare Klasse sein, so daß das ganze gesellschaftliche Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch.
107.
Der Stalinismus war die Schreckensherrschaft innerhalb der bürokratischen Klasse selbst. Der Terrorismus, der die Macht dieser Klasse begründet, muß auch diese Klasse treffen, denn sie hat als besitzende Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz, die sie auf jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches Eigentum ist versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewußtseins zur Eigentümerin geworden. Das falsche Bewußtsein behauptet seine absolute Macht nur durch den absoluten Terror, in dem jede wahre Begründung endlich verloren geht. Die Mitglieder der machthabenden bürokratischen Klasse haben nur insofern kollektiv das Besitzungsrecht über die Gesellschaft, als sie bei einer grundlegenden Lüge mitwirken: Sie müssen die Rolle des eine sozialistische Gesellschaft führenden Proletariats spielen; sie müssen die dem Text der ideologischen Untreue treuen Schauspieler sein. Aber die wirkliche Mitwirkung bei diesem Verlogensein muß selbst als eine wahrhaftige Mitwirkung anerkannt werden. Kein Bürokrat kann individuell sein Recht auf die Macht behaupten, denn sich als einen sozialistischen Proletarier zu erweisen, würde heißen, sich als das Gegenteil eines Bürokraten zu zeigen; und sich als einen Bürokraten zu erweisen, ist ihm unmöglich, denn die offizielle Wahrheit der Bürokratie ist ihr Nichtsein. So befindet sich jeder Bürokrat in der absoluten Abhängigkeit einer zentralen Garantie der Ideologie, die eine kollektive Mitwirkung aller der Bürokraten an ihrer „sozialistischen Macht“ anerkennt, welche sie nicht vernichtet. Wenn die Bürokraten insgesamt über alles entscheiden, kann der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person gesichert werden. In dieser Person liegt die einzige praktische Wahrheit der machthabenden Lüge: die unbestreitbare Festsetzung ihrer stets berichtigten Grenze. In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schließlich besitzender Bürokrat ist; d.h. wer als „machthabender Proletarier“ oder als „vom Mikado und Wallstreet gekaufter Verräter“ bezeichnet werden muß. Die bürokratischen Atome finden nur in der Person Stalins das gemeinsame Wesen ihres Rechts. Stalin ist dieser Herr der Welt, der sich auf diese Weise die absolute Person ist, für deren Bewußtsein kein höherer Geist existiert. „Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewußtsein dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden Gewalt, die er gegen das ihm gegenüber stehende Selbst seiner Untertanen ausübt“. Während er die Macht ist, die den Boden der Herrschaft bestimmt, ist er ebenso „das zerstörende Wühlen in diesem Boden“.
108.
Wenn sich die durch den Besitz der absoluten Macht absolut gewordene Theologie von einer parzellierten Kenntnis zu einer totalitären Lüge verwandelt hat, ist das Denken der Geschichte so vollkommen vernichtet worden, daß die Geschichte selbst auf der Ebene der empirischen Kenntnis nicht mehr existieren kann. Die totalitäre bürokratische Gesellschaft lebt in einer immerwährenden Gegenwart, in welcher für sie alles, was geschehen ist, nur als für ihre Polizei zugänglicher Raum existiert. Der schon von Napoleon formulierte Vorsatz, „die Energie der Erinnerungen monarchisch zu leiten“, hat in einer ständigen Manipulation der Vergangenheit nicht nur in ihren Bedeutungen, sondern auch in ihren Tatsachen seine volle Konkretisierung gefunden. Aber der Preis dieser Befreiung von jeder geschichtlichen Realität ist der Verlust des für die geschichtliche Gesellschaft des Kapitalismus unentbehrlichen, rationellen Bezuges. Es ist bekannt, wieviel die wissenschaftliche Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die russische Wirtschaft gekostet hat und sei es auch nur durch den Betrug Lyssenkos. Dieser Widerspruch der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären Bürokratie, die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung des Rationellen gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser Bürokratie gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung. So wie die Bürokratie die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen kann, als es die kapitalistische Entwicklung vermag, so steht sie ihr schließlich ebenfalls in der Industrieproduktion nach, welche autoritär auf der Basis des Irrealismus und der verallgemeinerten Lüge geplant wird.
109.
Die revolutionäre Arbeiterbewegung zwischen den beiden Kriegen wurde durch das vereinte Wirken der stalinistischen Bürokratie und des faschistischen Totalitarismus, der seine Organisationsform der in Rußland probierten totalitären Partei entlehnt hatte, vernichtet. Der Faschismus war eine extremistische Verteidigung der von der Krise und der proletarischen Subversion bedrohten bürgerlichen Wirtschaft, d.h. er war der Belagerungszustand in der kapitalistischen Gesellschaft, durch den sich diese Gesellschaft rettet und sich eine erste Notrationalisierung gibt, indem sie den Staat in ihre Verwaltung massiv eingreifen läßt. Aber eine solche Rationalisierung ist selbst mit der ungeheuren Irrationalität ihres Mittels belastet. Wenn auch der Faschismus die Verteidigung der Hauptpunkte der konservativ gewordenen bürgerlichen Ideologie (die Familie, das Eigentum, die Sittenordnung, die Nation) übernimmt, indem er das Kleinbürgertum mit den Arbeitslosen vereinigt, die aufgrund der Krise verwirrt oder durch die Ohnmacht der sozialistischen Revolution enttäuscht sind, so ist er selbst keineswegs durch und durch ideologisch. Er gibt sich als das, was er ist: eine gewaltsame Auferstehung des Mythos, der die Teilnahme an einer Gemeinschaft verlangt, die durch archaische Pseudowerte definiert wird: die Rasse, das Blut, den Führer. Der Faschismus ist der technisch ausgerüstete Archaismus. Sein verfaulter Ersatz des Mythos wird im spektakulären Zusammenhang der modernsten Mittel des Dressierens und der Täuschung wieder aufgenommen. So ist er einer der Faktoren bei der Herausbildung des modernen Spektakelwesens, so wie ihn sein Anteil an der Zerstörung der alten Arbeiterbewegung zu einer der Gründermächte der gegenwärtigen Gesellschaft macht; aber da der Faschismus auch die kostspieligste Form der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung ist, mußte er normalerweise, als er durch rationellere und stärkere Formen dieser Ordnung beseitigt wurde, vom Vordergrund der Bühne abtreten, auf der die kapitalistischen Staaten die großen Rollen spielen.
110.
Als es der russischen Bürokratie endlich gelungen war, sich der Reste des bürgerlichen Eigentums zu entledigen, die ihre Herrschaft über die Wirtschaft behinderten, diese für ihren eigenen Gebrauch zu entwickeln und im Ausland unter den Großmächten anerkannt zu werden, will sie in Ruhe ihre eigene Welt genießen, und deren Teil von Willkür abschaffen, der auf sie selbst wirkte: sie denunziert den Stalinismus ihres Ursprungs. Aber eine derartige Denunziation bleibt stalinistisch, willkürlich, unerklärt und ständig berichtigt, denn die ideologische Lüge ihres Ursprungs kann niemals offenbart werden. So kann sich die Bürokratie weder kulturell noch politisch liberalisieren, denn ihr Bestehen als Klasse hängt von ihrem ideologischen Monopol ab, das in seiner ganzen Schwere ihren einzigen Eigentumstitel bildet. Die Ideologie hat zwar die Leidenschaft ihrer positiven Behauptung verloren, aber was davon als gleichgültige Trivialität übrigbleibt, hat noch die repressive Funktion, die geringste Konkurrenz zu verbieten, und die Ganzheit des Denkens gefangenzuhalten. Die Bürokratie ist daher mit einer Ideologie verknüpft, an die niemand mehr glaubt. Was terroristisch war, ist lächerlich geworden, aber diese Lächerlichkeit selbst kann sich nur dadurch aufrechterhalten, daß sie im Hintergrund den Terrorismus aufbewahrt, von dem sie sich freimachen möchte. So bekennt sich die Bürokratie gerade in dem Moment, in dem sie auf dem Boden des Kapitalismus ihre Überlegenheit beweisen will, als arme Verwandte des Kapitalismus. So wie ihre tatsächliche Geschichte ihrem Recht widerspricht, und ihre auf plumpe Weise aufrechterhaltene Unwissenheit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen zuwiderläuft, so wird ihr Plan, in der Produktion eines Warenüberflusses mit der Bourgeoisie zu rivalisieren, dadurch behindert, daß ein derartiger Überfluß in sich seine implizierte Ideologie trägt und normalerweise von einer unendlich ausgedehnten Freiheit falscher spektakulärer Wahlmöglichkeiten begleitet wird, von einer Pseudofreiheit, die mit der bürokratischen Ideologie unvereinbar bleibt.
111.
In diesem Moment der Entwicklung bricht der ideologische Eigentumstitel der Bürokratie bereits im Weltmaßstabe zusammen. Die Macht, die sich national als grundlegend internationalistisches Modell etabliert hatte, muß zugeben, daß sie nicht mehr behaupten kann, ihre lügenhafte Kohäsion jenseits jeder nationalen Grenze aufrechtzuerhalten. Die ungleiche Wirtschaftsentwicklung, die Bürokratien mit konkurrierenden Interessen erfahren, denen es gelungen ist, ihren „Sozialismus“ außerhalb eines einzigen Landes zu besitzen, hat zur öffentlichen und vollständigen Auseinandersetzung zwischen der russischen und der chinesischen Lüge geführt. Von diesem Punkt an muß jede Bürokratie, die an der Macht ist, oder jede totalitäre Partei, die sich um die von der stalinistischen Periode in einigen nationalen Arbeiterklassen hinterlassene Macht bewirbt, ihren eigenen Weg gehen. Der weltweite Zerfall der Allianz der bürokratischen Mystifizierung, der zu den Äußerungen der inneren Negation hinzutritt, die sich vor der Welt mit dem Arbeiteraufstand in Ostberlin, der den Bürokraten ihre Forderung nach einer „Metallarbeiterregierung“ entgegensetzte, zu behaupten begannen, und die sogar einmal bis zur Macht der Arbeiterräte in Ungarn führten, erwies sich in letzter Analyse als der ungünstigste Faktor für die heutige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Bourgeoisie ist auf dem Wege, den Gegner zu verlieren, der sie objektiv stützte, indem er jede Negation der bestehenden Ordnung illusorisch vereinte. Eine solche Teilung der spektakulären Arbeit sieht ihrem Ende entgegen, wenn sich die pseudorevolutionäre Rolle ihrerseits teilt. Das spektakuläre Element der Auflösung der Arbeiterbewegung wird selbst aufgelöst.
112.
Die leninistische Illusion hat heute nur noch in den verschiedenen trotzkistischen Richtungen eine Basis, in denen die Identifizierung des proletarischen Projektes mit einer hierarchischen Organisation der Ideologie unerschütterlich die Erfahrungen all ihrer Ergebnisse überlebt. Die Distanz, die den Trotzkismus von der revolutionären Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft trennt, erlaubt ihm auch seine respektvolle Distanz gegenüber Positionen, die bereits falsch waren, als sie sich in einem wirklichen Kampf abnutzten. Trotzki blieb bis 1927 mit der hohen Bürokratie von Grund aus solidarisch und versuchte gleichzeitig, sich ihrer zu bemächtigen, um sie zur Wiederaufnahme einer wirklichen bolschewistischen Aktion im Ausland zu bewegen (es ist bekannt, daß er damals sogar verleumderisch seinen Kampfgefährten Max Eastman verleugnete, um mitzuhelfen, das berühmte „Testament Lenins“ zu verheimlichen, das dieser bekannt gemacht hatte). Trotzki wurde durch seine grundlegende Perspektive verurteilt, denn im Moment, in dem die Bürokratie sich selbst in ihrem Ergebnis als konterrevolutionäre Klasse im Inland erkennt, muß sie sich auch dazu entscheiden, im Ausland im Namen der Revolution tatsächlich konterrevolutionär zu sein, so wie im Inland. Der spätere Kampf Trotzkis für eine IV. Internationale enthält die gleiche Inkonsequenz. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, in der Bürokratie die Macht einer getrennten Klasse anzuerkennen, weil er während der zweiten russischen Revolution ein bedingungsloser Anhänger der bolschewistischen Organisationsform geworden war. Als Lukacs 1923 in dieser Form die endlich gefundene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zeigte, bei der die Proletarier nicht mehr „Zuschauer“ der Ereignisse sind, die in ihrer Organisation geschehen, sondern sie bewußt gewählt und erlebt haben, beschrieb er als tatsächliche Verdienste der bolschewistischen Partei all das, was die bolschewistische Partei nicht war. Lukacs war noch, neben seiner tiefen theoretischen Arbeit, ein Ideologe, der im Namen einer Macht sprach, die auf die vulgärste Weise außerhalb der proletarischen Bewegung stand, und der glaubte und glauben ließ, daß er sich selbst, mit seiner ganzen Persönlichkeit, in dieser Macht befand, als ob er sich in seiner eigenen Macht befände. Während in der Folge offen zu Tage trat, auf welche Weise diese Macht ihre Knechte verleugnet und beseitigt, zeigte Lukacs, der sich ständig selbst verleugnete, mit karikaturaler Deutlichkeit, womit genau er sich identifiziert hatte: mit dem Gegenteil seiner selbst und all dessen, was er in Geschichte und Klassenbewußtsein verteidigt hatte. Lukacs bewahrheitet am besten die Grundregel, an der alle Intellektuellen dieses Jahrhunderts zu beurteilen sind: an dem, was sie achten, läßt sich ganz genau ihre eigene verachtenswerte Realität ermessen. Lenin hatte diese Art von Illusionen über seine Tätigkeit nicht gefördert, denn er gab zu, daß „eine politische Partei nicht ihre Mitglieder überprüfen kann, um festzustellen, ob Widersprüche zwischen deren Philosophie und dem Programm der Partei bestehen“. Die wirkliche Partei, deren Traumporträt Lukacs zur Unzeit dargestellt hatte, war nur für die Ausführung einer präzisen Teilaufgabe kohärent: d.h. für die Ergreifung der Macht im Staat.
113.
Weil die neoleninistische Illusion des heutigen Trotzkismus von der Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft, der bürgerlichen wie der bürokratischen, alle Augenblicke widerlegt wird, findet sie natürlich in den formal unabhängigen „unterentwickelten“ Ländern einen bevorzugten Geltungsbereich, in denen die Illusionen irgendeiner Variante des bürokratischen Staatssozialismus als einfache Ideologie der Herrschaftsentwicklung von den lokalen herrschenden Klassen bewußt manipuliert wird. Die zwitterhafte Zusammensetzung dieser Klassen hängt mehr oder weniger deutlich einer Abstufung auf dem Spektrum Bourgeoisie-Bürokratie an. Ihr Spiel im internationalen Maßstab zwischen diesen beiden Polen der bestehenden kapitalistischen Gewalt und — ebenso ihre ideologischen Kompromisse — insbesondere mit dem Islam — die die zwitterhafte Realität ihrer gesellschaftlichen Basis ausdrücken, nehmen vollends diesem letzten Nebenprodukt des ideologischen Sozialismus jeden Ernst außer dem polizeilichen. Eine Bürokratie konnte sich aus den Stammtruppen des nationalen Kampfes und des Agraraufstandes der Bauern herausbilden: dann ist sie bestrebt, wie in China, das stalinistische Industrialisierungsmodell in einer Gesellschaft anzuwenden, die weniger entwickelt ist als das Rußland von 1917. Eine Bürokratie, die dazu fähig ist, die Nation zu industrialisieren, kann sich aus dem Kleinbürgertum bilden, als Kader der Armee die Macht ergreifen, wie das Beispiel Ägyptens zeigt. An einigen Punkten, wie im Algerien am Ende seines Krieges um die Unabhängigkeit, sucht die Bürokratie, die sich während des Kampfes als parastaatliche Führung gebildet hat, den Gleichgewichtspunkt eines Kompromisses, um mit einer schwachen nationalen Bourgeoisie zu fusionieren. Schließlich bildet sich in den ehemaligen Kolonien des schwarzen Afrikas, die offen mit der westlichen, d.h. amerikanischen und europäischen Bourgeoisie verknüpft bleiben, eine Bourgeoisie — zumeist aus der Macht der traditionellen Stammeshäuptlinge — durch den Besitz des Staates: in diesen Ländern, in denen der ausländische Imperialismus der wahre Herr der Wirtschaft bleibt, wird ein Stadium erreicht, in dem die Compradores als Vergütung für ihren Verkauf der Eingeborenenprodukte den Eingeborenenstaat als Eigentum bekommen haben, welcher zwar gegenüber den lokalen Massen, nicht aber gegenüber dem Imperialismus unabhängig ist. In diesem Fall handelt es sich um eine künstliche Bourgeoisie, die nicht fähig ist zu akkumulieren, sondern die bloß verschwendet und zwar den ihr zukommenden Teil des Mehrwerts aus der lokalen Arbeit ebenso wie die ausländischen Subsidien der Staaten oder der Monopole, die sie schützen. Die Offensichtlichkeit der Unfähigkeit dieser bürgerlichen Klassen, die normale wirtschaftliche Funktion der Bourgeoisie zu erfüllen, führt dazu, daß sich gegenüber jeder dieser Klassen eine Subversion nach dem mehr oder weniger den örtlichen Besonderheiten angepaßten bürokratischen Modell bildet, die die Erbschaft der Bourgeoisie übernehmen will. Aber der Erfolg selbst einer Bürokratie bei ihrem Hauptprojekt der Industrialisierung enthielt notwendig die Perspektive ihres geschichtlichen Scheiterns: wenn sie das Kapital akkumuliert, akkumuliert sie auch das Proletariat, und erzeugt ihre eigene Widerlegung in einem Land, in dem es noch nicht vorhanden war.
114.
In dieser komplexen und furchtbaren Entwicklung, die die Epoche der Klassenkämpfe zu neuen Bedingungen geführt hat, hat das Proletariat der industriellen Länder völlig die Behauptung seiner selbständigen Perspektive und schließlich seine Illusionen, doch nicht sein Sein verloren. Es ist nicht aufgehoben. Seine Existenz in der gesteigerten Entfremdung des modernen Kapitalismus dauert unerbittlich fort: dieses Proletariat besteht aus der ungeheuren Mehrzahl der Arbeiter, die jede Macht über die Bestimmung ihres Lebens verloren haben und sich, sobald sie das wissen, wieder als Proletariat definieren, als das in dieser Gesellschaft wirkende Negative. Dieses Proletariat wird objektiv durch den Prozeß des Verschwindens der Bauernschaft und durch die Ausweitung der Logik in der Fabrikarbeit, die sich auf einen großen Teil der „Dienstleistungen“ und der intellektuellen Berufe erstreckt, verstärkt. Subjektiv ist dieses Proletariat noch von seinem praktischen Klassenbewußtsein entfernt, nicht nur bei den Angestellten, sondern auch bei den Arbeitern, die erst die Machtlosigkeit und die Mystifizierung der alten Politik entdeckt haben. Wenn das Proletariat jedoch entdeckt, daß seine geäußerte eigene Kraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt, nicht mehr nur in der Form seiner Arbeit, sondern auch in der Form der Gewerkschaften, der Parteien oder der staatlichen Macht, die es zu seiner Emanzipierung gebildet hatte, entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche Erfahrung, daß es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung und jeder Spezialisierung der Macht vollständig Feind ist. Es trägt die Revolution, die nichts außerhalb ihrer lassen kann, die Forderung nach der fortwährenden Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit und die totale Kritik der Trennung; dazu muß es die adäquate Form in der Aktion finden. Keine quantitative Verbesserung seines Elends, keine Illusion hierarchischer Integration ist ein dauerhaftes Heilmittel für seine Unzufriedenheit, denn das Proletariat kann sich nicht wahrhaftig in einem besonderen Unrecht anerkennen, das an ihm verübt worden wäre und folglich ebensowenig in der Wiedergutmachung eines besonderen Unrechts oder vieler dieser Unrechte, sondern nur in dem Unrecht schlechthin, an den Rand des Lebens gedrängt zu sein.
115.
Aus den neuen unbegriffenen und von der spektakulären Anordnung verfälschten Zeichen der Negation, die sich in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern mehren, läßt sich bereits diese Schlußfolgerung ziehen, daß eine neue Epoche begonnen hat. Nach dem ersten Versuch der Arbeitersubversion ist es jetzt der kapitalistische Überfluß, der gescheitert ist. Wenn die antigewerkschaftlichen Kämpfe der westlichen Arbeiter zunächst von den Gewerkschaften unterdrückt werden und wenn die aufständischen Strömungen der Jugend einen ersten formlosen Protest erheben, in dem jedoch die Verweigerung der alten spezialisierten Politik, der Kunst und des Alltagslebens unmittelbar eingeschlossen ist, sind das schon die beiden Gesichter eines neuen spontanen Kampfes, der unter verbrecherischer Erscheinungsform beginnt. Es sind die ersten Vorzeichen des zweiten proletarischen Ansturms gegen die Klassengesellschaft. Wenn die verlorenen Posten dieser noch bewegungslosen Armee wieder auf diesem andersgewordenen und gleichgebliebenen Gelände stehen, folgen sie einem neuen „General Ludd“, der sie diesmal zur Zerstörung der Maschinen des erlaubten Konsums losläßt.
116.
„Die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“, hat in diesem Jahrhundert in den revolutionären Arbeiterräten eine deutliche Gestalt angenommen, die in sich alle Funktionen der Entscheidung und der Ausführung konzentrieren und sich vermittels von Vertretern föderieren, die gegenüber der Basis verantwortlich und jederzeit abrufbar sind. Ihre tatsächliche Existenz ist bisher erst ein kurzer Versuch gewesen, der zugleich von den verschiedenen Kräften zur Verteidigung der Klassengesellschaft, zu denen häufig auch ihr eigenes falsches Bewußtsein zu zählen ist, bekämpft und besiegt wurde. Pannekoek betonte gerade die Tatsache, daß die Wahl einer Macht der Arbeiterräte eher „Probleme stellt“ als eine Lösung bringt. Aber diese Macht ist gerade der Ort, wo die Probleme der Revolution des Proletariats ihre wahre Lösung finden können. Sie ist der Ort, wo die objektiven Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins vereinigt sind; die Verwirklichung der aktiven, direkten Mitteilung, wo die Spezialisierung, die Hierarchie und die Trennung aufhören, wo die bestehenden Bedingungen in „Bedingungen der Einheit“ verwandelt worden sind. Hier kann das proletarische Subjekt aus seinem Kampf gegen die Kontemplation hervortreten: sein Bewußtsein ist der praktischen Organisation gleich, die es sich gegeben hat, denn dieses Bewußtsein selbst ist untrennbar von dem kohärenten Eingriff in die Geschichte.
117.
In der Macht der Räte, die jede andere Macht international ersetzen muß, ist die proletarische Bewegung ihr eigenes Produkt und dieses Produkt ist der Produzent selbst. Sie ist sich selbst ihr eigener Zweck. Nur hier wird die spektakuläre Verneinung des Lebens ihrerseits verneint.
118.
Das Auftauchen der Räte war die höchste Realität der proletarischen Bewegung im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, eine Realität, die unbemerkt blieb oder entstellt wurde, weil sie mit dem Rest einer Bewegung verschwand, die durch die Gesamtheit der damaligen geschichtlichen Erfahrung verleugnet und beseitigt wurde. In dem neuen Moment der proletarischen Kritik kehrt dieses Ergebnis als der einzige unbesiegte Punkt der besiegten Bewegung wieder. Das geschichtliche Bewußtsein, das weiß, daß es in ihm seinen einzigen Existenzraum hat, kann es jetzt wiedererkennen, aber nicht mehr an der Peripherie dessen, was zurückströmt, sondern im Zentrum dessen, was steigt.
119.
Eine vor der Macht der Räte bestehende revolutionäre Organisation — die im Kampf ihre eigene Form wird finden müssen — weiß bereits aus all diesen geschichtlichen Gründen, daß sie die Klasse nicht repräsentiert. Sie muß sich selbst nur als eine radikale Trennung von der Welt der Trennung erkennen.
120.
Die revolutionäre Organisation ist der kohärente Ausdruck der Theorie der Praxis, die in nicht-einseitige Kommunikation mit den praktischen Kämpfen tritt und zur praktischen Theorie wird. Ihre eigene Praxis ist die Verallgemeinerung der Kommunikation und der Kohärenz in diesen Kämpfen. In dem revolutionären Augenblick der Auflösung der gesellschaftlichen Trennung muß diese Organisation ihre eigene Auflösung als getrennte Organisation anerkennen.
121.
Die revolutionäre Organisation kann nur die einheitliche Kritik der Gesellschaft sein, d.h. eine Kritik, die an keinem Punkt der Welt mit irgendeiner Form von getrennter Macht paktiert, und eine Kritik, die global gegen alle Aspekte des entfremdeten gesellschaftlichen Lebens ausgesprochen wird. In dem Kampf der revolutionären Organisation gegen die Klassengesellschaft sind die Waffen nichts anderes als das Wesen der Kämpfer selbst: die revolutionäre Organisation kann in sich nicht die Bedingungen der Entzweiung und der Hierarchie wieder erzeugen, die die Bedingungen der herrschenden Gesellschaft sind. Sie muß fortwährend gegen ihre Entstellung im herrschenden Spektakel kämpfen. Die einzige Grenze der Teilnahme an der totalen Demokratie der revolutionären Organisation ist die Anerkennung und die tatsächliche Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder, einer Kohärenz, die sich in der eigentlichen kritischen Theorie und in deren Beziehung zur praktischen Tätigkeit bewähren muß.
122.
Da die auf allen Ebenen immer weitergetriebene Verwirklichung der kapitalistischen Entfremdung es den Arbeitern immer schwieriger macht, ihr eigenes Elend zu erkennen und zu benennen und sie dadurch vor die Alternative stellt, entweder ihr ganzes Elend oder nichts abzulehnen, hat die revolutionäre Organisation lernen müssen, daß sie die Entfremdung nicht mehr in entfremdeten Formen bekämpfen kann.
123.
Die proletarische Revolution hängt ganz und gar von dieser Notwendigkeit ab, daß die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, daß die Arbeiter zu Dialektikern werden, und daß sie der Praxis ihr Denken aufprägen; sie verlangt daher von den Männern ohne Eigenschaften sehr viel mehr als die bürgerliche Revolution von den qualifizierten Männern verlangte die sie zu ihrer Durchführung beauftragte: denn das von einem Teil der bürgerlichen Klassen erzeugte, parzellierte und ideologische Bewußtsein hatte jenen zentralen Teil des gesellschaftlichen Lebens, die Wirtschaft, zur Grundlage, in der diese Klasse bereits an der Macht war. Die eigene Entwicklung der Klassengesellschaft zur spektakulären Organisation des Nicht-Lebens führt folglich das revolutionäre Projekt dazu, sichtbar zu dem zu werden, was es schon wesentlich war.
124.
Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären Ideologie Feind und sie weiß, daß sie es ist.
5. Kapitel ZEIT UND GESCHICHTE
„Oh, edle Herrn, des Lebens Zeit ist kurz:
Wir treten Kön’ge nieder, wenn wir leben.“
Shakespeare (Henry IV)
125.
Der Mensch, „das negative Wesen, welches nur ist, insofern es Sein aufhebt“, ist mit der Zeit identisch. Die Aneignung seiner eigenen Natur durch den Menschen ist ebenfalls seine Ergreifung der Entfaltung des Universums. „Die Geschichte selbst ist ein wichtiger Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen.“ (Marx). Umgekehrt hat diese „Naturgeschichte“ eine tatsächliche Existenz nur durch den Prozeß einer menschlichen Geschichte, des einzigen Teils, der dieses geschichtliche Ganze wiederfindet, wie das moderne Teleskop, das in der Zeit durch seine Reichweite die fliehenden Nebelflecken an der Peripherie des Weltalls einholt. Die Geschichte hat immer existiert, aber nicht immer in ihrer geschichtlichen Form. Die Zeitigung des Menschen, wie sie durch die Vermittlung einer Gesellschaft stattfindet, entspricht einer Vermenschlichung der Zeit. In dem geschichtlichen Bewußtsein äußert sich die bewußtlose Bewegung der Zeit und wird wahr.
126.
Die eigentlich geschichtliche Bewegung beginnt, wenn auch noch verborgen, in der langsamen und unmerklichen Bildung „der wirklichen Natur des Menschen“, dieser „in der menschlichen Geschichte — dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft — werdenden Natur“, aber die Gesellschaft, die sich dann einer Technik und einer Sprache bemeistert hat, ist sich, wenn sie auch bereits das Produkt ihrer eigenen Geschichte ist, nur einer immerwährenden Gegenwart bewußt. In dieser Gesellschaft wird jede Kenntnis, die auf das Gedächtnis der Ältesten beschränkt ist, stets von Lebenden getragen. Weder der Tod noch die Zeugung werden als ein Gesetz der Zeit begriffen. Die Zeit steht still, wie ein geschlossener Raum. Wenn eine komplexere Gesellschaft dazu kommt, sich der Zeit bewußt zu werden, besteht ihre Arbeit vielmehr darin, diese Zeit zu leugnen, denn sie sieht in der Zeit nicht das, was vergeht, sondern das, was wiederkommt. Die statische Gesellschaft organisiert die Zeit nach ihrer unmittelbaren Erfahrung der Natur, im Modell der zyklischen Zeit.
127.
Die zyklische Zeit ist bereits in der Erfahrung der Nomadenvölker vorherrschend, denn vor ihnen finden sich in jedem Moment ihrer Wanderung die gleichen Bedingungen wieder: Hegel bemerkt, daß „das Herumschweifen der Nomaden nur formell ist, weil es in einförmige Kreise beschränkt ist“. Die Gesellschaft, die sich örtlich festsetzt und dabei durch die Einrichtung individualisierter Orte dem Raum einen Inhalt gibt, findet sich dadurch selbst im Inneren dieser Ortsbestimmung eingeschlossen. Die zeitliche Rückkehr zu Orten, die sich gleichen, ist jetzt die reine Wiederkehr der Zeit an einem gleichen Ort, die Wiederholung einer Reihe von Gesten. Der Übergang vom Nomadentum der Hirten zur seßhaften Landwirtschaft ist das Ende der inhaltslos-trägen Freiheit, der Beginn der mühevollen Arbeit. Die von dem Rhythmus der Jahreszeiten beherrschte agrarische Produktionsweise überhaupt ist die Basis der völlig ausgebildeten Wiederkehr des Gleichen. Der Mythos ist die einheitliche Konstruktion des Denkens, das die gesamte kosmische Ordnung um die Ordnung herum garantiert, welche diese Gesellschaft tatsächlich bereits innerhalb ihrer Grenzen verwirklicht hat.
128.
Die gesellschaftliche Aneignung der Zeit, die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, entwickeln sich in einer in Klassen geteilten Gesellschaft. Die Macht, die sich über der Knappheit der Gesellschaft der zyklischen Arbeit gebildet hat, die Klasse, die diese gesellschaftliche Arbeit organisiert und sich deren begrenzten Mehrwert aneignet, eignet sich ebenso den zeitlichen Mehrwert ihrer Organisation der gesellschaftlichen Zeit an: sie besitzt für sich allein die irreversible Zeit des Lebendigen. Der einzige Reichtum, den es konzentriert in dem Bereich der Macht geben kann, um materiell für festlichen Aufwand ausgegeben zu werden, wird dabei auch als Vergeudung einer geschichtlichen Zeit der Oberfläche der Gesellschaft ausgegeben. Die Eigentümer des geschichtlichen Mehrwerts besitzen die Kenntnis und den Genuß der erlebten Ereignisse. Diese Zeit, die von der kollektiven Organisation der Zeit getrennt ist, welche mit der wiederholten Produktion der Grundlage des gesellschaftlichen Lebens vorherrscht, fließt oberhalb ihrer eigenen statischen Gemeinschaft. Es ist die Zeit des Abenteuers und des Krieges, in der die Herren der zyklischen Gesellschaft ihre persönliche Geschichte durchlaufen; es ist ebenso die Zeit, die in dem Zusammenstoß zwischen fremden Gemeinschaften erscheint, die Störung der unveränderlichen Ordnung der Gesellschaft. Die Geschichte ereignet sich folglich wie ein fremder Faktor vor den Menschen, wie etwas, das sie nicht gewollt haben und gegen das sie sich abgeschirmt glaubten. Aber auf diesem Umweg kehrt auch die negative Unruhe des Menschlichen zurück, die am Ursprung selbst der ganzen Entwicklung stand, welche eingeschlafen war.
129.
Die zyklische Zeit ist in sich selbst die Zeit ohne Konflikt. Aber in dieser Kindheit der Zeit ist der Konflikt angelegt: die Geschichte kämpft zunächst, um die Geschichte in der praktischen Tätigkeit der Herren zu sein. Oberflächlich schafft diese Geschichte Irreversibles; ihre Bewegung bildet die Zeit selbst, die sie ausschöpft, im Inneren der unerschöpflichen Zeit der zyklischen Gesellschaft.
130.
Die „kalten Gesellschaften“ sind diejenigen, die ihren Teil Geschichte aufs äußerste verlangsamt haben; die ihren Gegensatz zu der natürlichen und menschlichen Umgebung und ihre inneren Gegensätze in ständigem Gleichgewicht gehalten haben. Wenn die extreme Verschiedenartigkeit der zu diesem Zweck errichteten Institutionen von der Plastizität der Selbstschöpfung der menschlichen Natur zeugt, so erscheint dieses Zeugnis selbstverständlich nur dem außerhalb stehenden Beobachter, dem aus der geschichtlichen Zeit zurückgekehrten Ethnologen. In jeder dieser Gesellschaften hat eine endgültige Strukturierung die Veränderung ausgeschlossen. Der absolute Konformismus der bestehenden gesellschaftlichen Bräuche, mit denen sich alle die menschlichen Möglichkeiten für immer identifiziert finden, kennt als äußere Grenze nur die Furcht, in das formlose Tierwesen zurückzufallen. Hier müssen die Menschen gleichbleiben, um im Menschlichen zu bleiben.
131.
An der Schwelle einer Periode, die bis zum Erscheinen der Industrie keine tiefgehenden Erschütterungen mehr erfahren wird, bezeichnet die Geburt der politischen Macht, die in Beziehung zu den letzten großen Revolutionen der Technik — wie dem Eisenguß — zu stehen scheint, den Moment, der die Blutsverwandtschaft aufzulösen beginnt. Von nun an tritt die Aufeinanderfolge der Generationen aus der Sphäre des rein natürlichen Zyklischen heraus, um zu gerichtetem Ereignis, zu Aufeinanderfolge von Mächten zu werden. Die irreversible Zeit ist die Zeit desjenigen, der herrscht; und die Dynastien sind deren erstes Maß. Die Schrift ist ihre Waffe. In der Schrift erreicht die Sprache ihre volle unabhängige Wirklichkeit als Vermittlung zwischen bewußten Wesen. Aber diese Unabhängigkeit ist mit der allgemeinen Unabhängigkeit der getrennten Macht, als der die Gesellschaft bildenden Vermittlung, identisch. Mit der Schrift erscheint ein Bewußtsein, das nicht mehr in der unmittelbaren Beziehung zwischen den Lebenden getragen und übertragen wird: ein unpersönliches Gedächtnis, das der Verwaltung der Gesellschaft. „Die Schriftstücke sind die Gedanken des Staates; die Archive sein Gedächtnis.“ (Novalis.)
132.
Die Chronik ist der Ausdruck der irreversiblen Zeit der Macht und auch das Instrument, das das voluntaristische Fortschreiten dieser Zeit, von ihrem früheren Verlauf ab, aufrechterhält; denn diese Orientierung der Zeit muß mit der Kraft jeder einzelnen Macht zusammenbrechen; und sie fällt wieder der gleichgültigen Vergessenheit der den Bauernmassen allein bekannten zyklischen Zeit anheim, welche sich in dem Zusammenbruch der Reiche und ihrer Chronologien niemals verändern. Die Besitzer der Geschichte haben in die Zeit einen Sinn gesetzt: eine Richtung, die auch eine Bedeutung ist. Aber diese Geschichte entfaltet sich und vergeht gesondert: sie läßt die Tiefe der Gesellschaft unbewegt, denn sie ist gerade das, was von der gemeinsamen Realität getrennt bleibt. In dieser Hinsicht läßt sich die Geschichte der Reiche des Orients für uns auf die Geschichte der Religionen zurückführen: diese wieder verfallenen Chronologien haben nur die scheinbar autonome Geschichte der Illusionen, die sie umhüllten, hinterlassen. Die Herren, die unter dem Schutz des Mythos das Privateigentum an der Geschichte im Besitz halten, besitzen es zunächst in der Art der Illusion: in China und Ägypten hatten sie lange Zeit das Monopol der Unsterblichkeit der Seele, wie ihre ersten anerkannten Dynastien die imaginäre Anordnung der Vergangenheit sind. Aber dieser illusorische Besitz der Herren ist auch der ganze zu jener Zeit mögliche Besitz einer gemeinsamen Geschichte und ihrer eigenen Geschichte. Die Erweiterung ihrer tatsächlichen Macht geht mit einer allgemeinen Verbreiterung des illusorischen mythischen Besitzes einher. All dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß die Herren in genau dem Maße, wie sie es übernahmen, mythisch die Permanenz der zyklischen Zeit zu garantieren — wie zum Beispiel in den jahreszeitlichen Riten der chinesischen Kaiser —, sich selbst von derselben relativ befreit haben.
133.
Wenn die unerklärte dürre Chronologie der vergötterten Macht, die zu ihren Dienern spricht, und die nur als irdische Ausführung der Gebote des Mythos verstanden werden will, überwunden werden kann und zur bewußten Geschichte wird, muß die wirkliche Teilnahme an der Geschichte von umfassenden Gruppen erlebt worden sein. Aus dieser praktischen Mitteilung zwischen denjenigen, die sich als die Besitzer einer einzelnen Gegenwart anerkannt haben, die den qualitativen Reichtum der Ereignisse als ihre Tätigkeit und als den Ort, worin sie standen — ihre Epoche —, erfuhren, entsteht die allgemeine Sprache der geschichtlichen Mitteilung. Diejenigen, für die die irreversible Zeit existiert hat, entdecken in ihr zugleich die Denkwürdigkeit und das Drohen der Vergessenheit: „Herodot aus Halikarnaß legt hier die Ergebnisse seiner Untersuchung vor, damit die Zeit nicht die Werke der Menschen auslöscht?“
134.
Das Nachdenken über die Geschichte ist nicht zu trennen von dem Nachdenken über die Macht. Griechenland war dieser Moment, in dem die Macht und deren Veränderung diskutiert und begriffen wurden, die Demokratie der Herren der Gesellschaft. Hier bestand das Gegenteil der Bedingungen, die der despotische Staat kannte, in dem die Macht im unzugänglichen Dunkel seines konzentriertesten Punktes stets nur mit sich selbst abrechnete: durch die Palastrevolution, die bei Erfolg wie bei Mißerfolg gleichermaßen außer Diskussion stehen. Jedoch existierte die aufgeteilte Macht der griechischen Gemeinschaften nur in der Verausgabung eines gesellschaftlichen Lebens, dessen Produktion getrennt und statisch in der Sklavenklasse verblieb. Nur diejenigen, die nicht arbeiten, leben. Bei der Teilung der griechischen Gemeinschaften, und bei dem Kampf um die Ausbeutung der fremden Städte, wurde das Prinzip der Trennung, das jede von ihnen im Inneren begründete, nach außen getragen. Griechenland, das die Weltgeschichte erträumt hatte, gelang es nicht, sich angesichts der Invasion zu vereinen; es gelang ihm nicht einmal, die Kalender seiner unabhängigen Städte zu vereinigen. In Griechenland ist die geschichtliche Zeit bewußt geworden, aber noch nicht selbstbewußt.
135.
Nach dem Verschwinden der örtlich günstigen Bedingungen, die die griechischen Gemeinschaften gefunden hatten, wurde der Rückschritt des westlichen geschichtlichen Denkens nicht von einer Wiederherstellung der ehemaligen mythischen Organisationen begleitet. In dem Aufeinanderstoßen der Mittelmeervölker, in der Bildung und im Zusammenbruch des römischen Staats, tauchten halbgeschichtliche Religionen auf, die zu grundlegenden Faktoren des neuen Bewußtseins der Zeit und zur neuen Rüstung der getrennten Macht wurden.
136.
Die monotheistischen Religionen waren ein Kompromiß zwischen dem Mythos und der Geschichte, zwischen der zyklischen Zeit, die noch die Produktion beherrschte und der irreversiblen Zeit, in der die Völker aufeinanderstoßen und sich wieder zusammensetzen. Die aus dem Judentum hervorgegangenen Religionen sind die abstrakte universelle Anerkennung der irreversiblen Zeit, die nun zwar demokratisiert ist und allen offensteht, aber nur im Illusorischen. Die Zeit ist ganz und gar auf ein einziges letztes Ereignis hin orientiert: „Das Reich Gottes ist nah.“ Diese Religionen sind auf dem Boden der Geschichte entstanden und haben sich auf ihm festgesetzt. Aber noch dort bleiben sie in radikalem Gegensatz zur Geschichte. Die halbgeschichtliche Religion führt in die Zeit einen qualitativen Ausgangspunkt ein, die Geburt Christi, die Flucht Mohammeds, aber ihre irreversible Zeit — die eine tatsächliche Akkumulation einleitet, die im Islam die Gestalt einer Eroberung und im Christentum der Reformation die Gestalt einer Vermehrung des Kapitals wird annehmen können — ist im religiösen Denken in Wirklichkeit wie eine Zählung gegen den Strich umgekehrt: das Warten in der abnehmenden Zeit auf den Zugang zur wahren anderen Welt, das Erwarten des Jüngsten Gerichts. Die Ewigkeit ist aus der zyklischen Zeit herausgetreten. Sie ist ihr Jenseits. Sie ist das Element, das die Irreversibilität der Zeit herabsetzt, das die Geschichte in der Geschichte selbst abschafft, indem sie sich als ein reines punktuelles Element, in das die zyklische Zeit zurückgekehrt und verschwunden ist, auf die andere Seite der irreversiblen Zeit stellt. Bossuet sagt noch: „Und mittels der Zeit, die vergeht, gehen wir in die Ewigkeit ein, die nicht vergeht.“
137.
Das Mittelalter, diese unvollendete mythische Welt, deren Vollkommenheit außerhalb ihrer selbst lag, ist der Moment, in dem die zyklische Zeit, die noch den Hauptteil der Produktion regelt, von der Geschichte wirklich untergraben wird. Eine gewisse irreversible Zeitlichkeit wird allen als Individuen zuerkannt, in der Aufeinanderfolge der Lebensalter, in dem Leben, das als eine Reise angesehen wird, als Durchgang ohne Rückkehr durch eine Welt, deren Sinn anderswo liegt: der Pilger ist der Mensch, der aus dieser zyklischen Zeit heraustritt, um tatsächlich dieser Reisende zu sein, der jeder Mensch als Zeichen ist. Das persönliche geschichtliche Leben findet seine Vollendung stets in der Sphäre der Macht, in der Teilnahme an den von der Macht geführten Kämpfen und an den Kämpfen im Streit um die Macht; aber die irreversible Zeit der Macht wird ins Unendliche geteilt bei der allgemeinen Vereinigung der gerichteten Zeit der christlichen Zeitrechnung, in einer Welt des bewaffneten Vertrauens, in der sich das Spiel der Herren um die Treue und das Bestreiten der schuldigen Treue dreht. Diese feudale Gesellschaft, die aus dem Zusammentreffen der „kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst“ und der „in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte“ (Die deutsche Ideologie) entstand — und zur Organisation dieser Produktivkräfte muß man ihre religiöse Sprache zählen —, hat die Herrschaft über die Gesellschaft zwischen der Kirche und der staatlichen Macht geteilt, die ihrerseits in den komplexen Beziehungen von Lehnsherrlichkeit und Vasallenschaft der Grundlehen und der städtischen Gemeinden unterteilt war. In dieser Verschiedenartigkeit des möglichen geschichtlichen Lebens enthüllte sich die irreversible Zeit, durch welche bewußtlos die Tiefe der Gesellschaft mitgerissen wurde, die von der Bourgeoisie in der Warenproduktion, in der Gründung und Ausdehnung der Städte, in der kommerziellen Entdeckung der Erde — dem praktischen Experimentieren, das jede mythische Organisation des Kosmos für immer zerstört — erlebte Zeit, allmählich als die unbekannte Arbeit der Epoche, als die große offizielle geschichtliche Unternehmung dieser Welt mit den Kreuzzügen gescheitert war.
138.
Im Herbst des Mittelalters wird die irreversible Zeit, die auf die Gesellschaft übergreift, von dem an der alten Ordnung haftenden Bewußtsein in der Form einer Zwangsvorstellung vom Tod empfunden. Darin liegt die Melancholie der Auflösung einer Welt, der letzten, in der sich die Sicherheit des Mythos noch der Geschichte das Gleichgewicht hielt; und für diese Melancholie bewegt sich alles Irdische nur in Richtung auf seinen Verfall. Die großen Aufstände der Bauern Europas sind auch ihr Versuch einer Antwort auf die Geschichte, die sie gewaltsam aus dem patriarchalischen Schlaf riß, den die feudale Vormundschaft gewährleistet hatte. Es ist die millenaristische Utopie der irdischen Verwirklichung des Paradieses, in der in den Vordergrund tritt, was am Anfang der halbgeschichtlichen Religion stand, als die christlichen Gemeinden, wie der jüdische Messianismus, von dem sie herkamen, jene Antworten auf die Unruhen und das Unglück der Epoche, die unmittelbar bevorstehende Verwirklichung des Reichs Gottes erwarteten und in der antiken Gesellschaft einen Faktor der Unruhe und der Subversion beitrugen. Als das Christentum schließlich die Macht im Kaiserreich mitbesaß, widerlegte es zu rechter Zeit als bloßen Aberglauben all das, was von dieser Hoffnung übriggeblieben war: dies ist die Bedeutung der Augustinischen Behauptung, dem Archetyp aller satisfecit der modernen Ideologie, wonach die eingesessene Kirche bereits seit langem dieses Reich war, von dem man gesprochen hatte. Der soziale Aufstand des millenaristischen Bauerntums definiert sich natürlich zunächst als ein Wille zur Zerstörung der Kirche. Aber der Millenarismus entfaltet sich in der geschichtlichen Welt und nicht auf dem Boden des Mythos. Die modernen revolutionären Hoffnungen sind nicht, wie Norman Cohn in „Das Ringen um das Tausendjährige Reich“ zu beweisen glaubt, irrationale Folgen der religiösen Leidenschaft des Millenarismus. Es ist ganz im Gegenteil der Millenarismus, ein revolutionärer Klassenkampf, der zum letzten Mal die Sprache der Religion gebraucht, der bereits eine moderne revolutionäre Tendenz ist, welcher noch das Bewußtsein fehlt, nur geschichtlich zu sein. Die Millenaristen mußten verlieren, weil sie die Revolution nicht als ihr eigenes Tun anerkennen konnten. Die Tatsache, daß sie um zu handeln ein äußeres Zeichen der Entscheidung Gottes abwarten, ist die Übersetzung ins Denken einer Praxis, in der die aufständischen Bauern Anführern folgen, die nicht aus ihren eigenen Reihen stammen. Die Bauernklasse konnte kein richtiges Bewußtsein darüber erreichen, wie die Gesellschaft funktionierte und wie ihr eigener Kampf zu führen war: weil der Bauernklasse diese Bedingungen der Einheit in ihrer Handlung und in ihrem Bewußtsein fehlten, ist es zu erklären, daß sie ihr Projekt in den Bildern des Gartens von Eden ausdrückte und ihre Kriege eben diesen Bildern gemäß führte.
139.
Der neue Besitz am geschichtlichen Leben, die Renaissance, die im Altertum ihre Vergangenheit und ihr Recht findet, trägt in sich den freudigen Bruch mit der Ewigkeit. Ihre irreversible Zeit ist die Zeit der unendlichen Akkumulation der Kenntnisse und das geschichtliche Bewußtsein, das aus der Erfahrung der demokratischen Gemeinschaften und der Kräfte, die sie zerstören, entstanden ist, fängt mit Machiavelli wieder an, über die entheiligte Macht nachzudenken, das Unaussprechliche über den Staat auszusprechen. In dem überschäumenden Leben der italienischen Städte, in der Kunst der Feste, erfährt sich das Leben als Genießen des Vergehens der Zeit. Aber dieses Genießen des Vergehens mußte auch selbst vergänglich sein. Das Lied von Lorenzo de’ Medici, das Burckhardt als „eine wehmütige Ahnung der kurzen Herrlichkeit der Renaissance selbst“ betrachtet, ist das Eigenlob, das sich dieses zerbrechliche Fest der Geschichte hielt: „Wie schön die Jugend ist — die so bald vergeht.“
140.
Die ständige Bewegung der Monopolisierung des geschichtlichen Lebens durch den Staat der absoluten Monarchie, der Übergangsform zur vollständigen Herrschaft der Bürgerklasse, läßt in seiner Wahrheit erscheinen, was die neue irreversible Zeit der Bourgeoisie ist. Die Bourgeoisie ist mit der zum ersten Mal vom Zyklischen befreiten Zeit der Arbeit verknüpft. Die Arbeit ist mit der Bourgeoisie zur Arbeit geworden, die die geschichtlichen Bedingungen verändert. Die Bourgeoisie ist die erste herrschende Klasse, für die die Arbeit ein Wert ist. Und die Bourgeoisie, die jedes Privileg abschafft und nur den Wert anerkennt, der aus der Ausbeutung der Arbeit entspringt, hat gerade mit der Arbeit ihren eigenen Wert als herrschende Klasse identisch gesetzt und macht den Fortschritt der Arbeit zu ihrem eigenen Fortschritt. Die Klasse, die die Waren und das Kapital akkumuliert, verändert ständig die Natur, indem sie die Arbeit selbst verändert, indem sie deren Produktivität entfesselt. Jedes gesellschaftliche Leben hat sich bereits in der ornamentalen Armut des Hofes konzentriert, dem Schmuck der kalten staatlichen Verwaltung, die im „Königsberuf“ gipfelt; und jede besondere geschichtliche Freiheit mußte ihrem Verlust zustimmen. Die Freiheit des irreversiblen zeitlichen Spiels der Feudalherren hat sich in ihren letzten verlorenen Schlachten mit den Kriegen der Fronde oder der Erhebung der Schotten für Karl-Eduard verbraucht. Die Welt hat sich von Grund auf verändert.
141.
Der Sieg der Bourgeoisie ist der Sieg der zutiefst geschichtlichen Zeit, weil sie die Zeit der wirtschaftlichen Produktion ist, die die Gesellschaft fortwährend und von Grund auf verändert. Solange die agrarische Produktion die Hauptarbeit bleibt, nährt die zyklische Zeit, die auf dem Grund der Gesellschaft gegenwärtig bleibt, die verbündeten Kräfte der Tradition, die die Bewegung hemmen. Aber die irreversible Zeit der bürgerlichen Wirtschaft rottet diese Überreste auf der ganzen weiten Welt aus. Die Geschichte, die bis dahin als die alleinige Bewegung der Individuen der herrschenden Klasse erschien und folglich als Geschichte von Ereignissen geschrieben wurde, wird jetzt als die allgemeine Bewegung begriffen, und in dieser strengen Bewegung werden die Individuen aufgeopfert. Die Geschichte, die ihre Grundlage in der politischen Wirtschaft entdeckt, kennt jetzt die Existenz dessen, was ihr Unbewußtes war, das aber trotzdem noch das Unbewußte bleibt, das sie nicht ans Licht ziehen kann. Nur diese blinde Vorgeschichte, ein neues Fatum, das kein Mensch beherrscht, wurde durch die Warenwirtschaft demokratisiert.
142.
Die Geschichte, die in der ganzen Tiefe der Gesellschaft gegenwärtig ist, tendiert dahin, sich an der Oberfläche zu verlieren. Der Triumph der irreversiblen Zeit ist auch ihre Verwandlung in die Zeit der Dinge, weil die Waffe zu ihrem Sieg gerade die Serienproduktion von Gegenständen nach den Gesetzen der Ware war. Das Hauptprodukt, das die Wirtschaft von einem seltenen Luxusartikel in ein gefährliches Konsumgut verwandelte, ist daher die Geschichte, aber lediglich als Geschichte der abstrakten Bewegung der Dinge, die jeden qualitativen Gebrauch des Lebens beherrscht. Während die frühere zyklische Zeit einen wachsenden Teil von Individuen und Gruppen erlebter geschichtlicher Zeit in sich trug, tendiert die Herrschaft der irreversiblen Zeit der Produktion dahin, diese erlebte Zeit gesellschaftlich abzuschaffen.
143.
So machte die Bourgeoisie die Gesellschaft mit einer irreversiblen geschichtlichen Zeit bekannt und zwang sie ihr auf, verweigert ihr aber deren Gebrauch. „Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr“, weil die Klasse der Besitzer der Wirtschaft, die nicht mit der Wirtschaftsgeschichte brechen kann, auch jede andere irreversible Verwendung der Zeit als eine unmittelbare Bedrohung verdrängen muß. Die herrschende Klasse, die aus Spezialisten des Besitzes der Dinge besteht, die dadurch selbst ein Besitz der Dinge sind, muß ihr Schicksal mit der Aufrechterhaltung dieser verdinglichten Geschichte verknüpfen, mit der Permanenz einer neuen Unbeweglichkeit in der Geschichte. Zum ersten Mal ist der Arbeiter, der an der Basis der Gesellschaft steht, der Geschichte nicht materiell fremd, denn irreversibel bewegt sich jetzt die Basis der Gesellschaft. In der Forderung, die geschichtliche Zeit, die es macht, zu erleben, findet das Proletariat das einfache, unvergeßliche Zentrum seines revolutionären Projektes; und jeder der bis heute zerschlagenen Versuche, dieses Projekt durchzuführen, kennzeichnet einen möglichen Ausgangspunkt des geschichtlichen neuen Lebens.
144.
Die irreversible Zeit der Bourgeoisie, der Herrin der Macht, präsentierte sich zunächst unter ihrem eigenen Namen, als einen absoluten Ursprung, als das Jahr 1 der Republik. Aber die revolutionäre Ideologie der allgemeinen Freiheit, die die letzten Reste der mythischen Organisation der Werte und jede traditionelle Regelung der Gesellschaft beseitigt hatte, ließ bereits den wirklichen Willen sichtbar werden, den sie mit einem römischen Gewand bekleidet hatte: die verallgemeinerte Handelsfreiheit. Als die Gesellschaft der Ware dann herausfand, daß sie die Passivität wiederherzustellen hatte, die sie gründlich hatte erschüttern müssen, um ihre eigene reine Herrschaft zu erreichten, fand sie in dem „Christentum, mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, [...] die entsprechendste Religionsform“ (Das Kapital). Die Bourgeoisie hat darauf mit dieser Religion einen Kompromiß geschlossen, der sich auch in der Vorstellung der Zeit ausdrückt: als ihr eigener Kalender aufgegeben wurde, schmiegte sich ihre irreversible Zeit wieder der christlichen Zeitrechnung an, deren Folge sie fortsetzte.
145.
Mit der Entstehung des Kapitalismus wird die irreversible Zeit weltweit vereinheitlicht. Die Weltgeschichte wird Wirklichkeit, denn die ganze Welt wird unter der Entwicklung dieser Zeit versammelt. Aber die Geschichte, die überall und zugleich dieselbe ist, ist erst noch die innergeschichtliche Ablehnung der Geschichte. Es ist die in gleiche abstrakte Stücke geschnittene Zeit der wirtschaftlichen Produktion, die sich auf dem ganzen Planeten als der gleiche Tag äußert. Die vereinheitlichte irreversible Zeit ist die Zeit des Weltmarkts und folglich die des Weltspektakels.
146.
Die irreversible Zeit der Produktion ist zunächst das Maß der Waren. Daher ist die Zeit, die sich offiziell über die ganze Weite der Welt hin als die allgemeine Zeit der Gesellschaft behauptet, indem sie nur die spezialisierten Interessen bedeutet, aus denen sie gebildet wird, nur eine besondere Zeit.
6. Kapitel DIE SPEKTAKULÄRE ZEIT
„Nichts gehört unser, als nur die Zeit, in welcher selbst der lebt, der keine Wohnung hat.“ Balthasar Gracian (Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit).
147.
Die Zeit der Produktion, die Zeit als Ware, ist eine unendliche Akkumulation von äquivalenten Intervallen. Sie ist die Abstraktion der irreversiblen Zeit, deren Abschnitte alle auf dem Chronometer ihre alleinige quantitative Gleichheit beweisen müssen. Diese Zeit ist in ihrer ganzen Wirklichkeit, was sie in ihrer Austauschbarkeit ist. Bei dieser gesellschaftlichen Herrschaft der Zeit als Ware ist „die Zeit alles, der Mensch nichts mehr; er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit“ (Das Elend der Philosophie). Es ist die entwertete Zeit, die vollständige Umkehrung der Zeit als „Raum der menschlichen Entwicklung“.
148.
Die allgemeine Zeit der menschlichen Nichtentwicklung existiert auch unter dem ergänzenden Aspekt einer konsumierbaren Zeit, die von dieser bestimmten Produktion aus zum täglichen Leben der Gesellschaft als eine pseudozyklische Zeit zurückkehrt.
149.
Die pseudozyklische Zeit ist in Wirklichkeit nur die konsumierbare Verkleidung der Zeit der Produktion, der Zeit als Ware. Sie enthält deren wesentlichen Charaktere: austauschbare homogene Einheiten und die Abschaffung der qualitativen Dimension. Aber als Nebenprodukt dieser Zeit, die zur Herstellung — und Aufrechterhaltung — der Rückständigkeit des konkreten täglichen Lebens bestimmt ist, muß sie mit Pseudowertungen besetzt sein und in einer Folge scheinbar individualisierter Momente erscheinen.
150.
Die pseudozyklische Zeit ist die Zeit des Konsums des modernen wirtschaftlichen Überlebens, des vermehrten Überlebens, worin das tägliche Erlebte ohne Entscheidungsgewalt und unterworfen bleibt, aber nicht mehr der natürlichen Ordnung, sondern der in der entfremdeten Arbeit entwickelten Pseudonatur; und so findet diese Zeit ganz natürlich den alten zyklischen Rhythmus wieder, der das Überleben der vorindustriellen Gesellschaften regelte. Die pseudozyklische Zeit stützt sich auf die Überreste der zyklischen Zeit und stellt aus ihnen zugleich neue homologe Zusammensetzungen her: den Tag und die Nacht, die wöchentliche Arbeit und Ruhe, die Wiederkehr der Ferienzeiten.
151.
Die pseudozyklische Zeit ist eine Zeit, die von der Industrie verändert worden ist. Die Zeit, die ihre Basis in der Produktion der Waren hat, ist selbst eine konsumierbare Ware, die alles, was sich vorher, während der Auflösungsphase der alten einheitlichen Gesellschaft in Privatleben, Wirtschaftsleben und politisches Leben gegliedert hatte, sammelt. Die gesamte konsumierbare Zeit der modernen Gesellschaft wird schließlich als Rohmaterial neuer verschiedenartiger Produkte verarbeitet, die sich auf dem Markt als gesellschaftlich organisierte Zeitanwendungen durchsetzen. „Das Produkt, das in einer für die Konsumtion fertigen Form existiert, kann von neuem zum Rohmaterial eines anderen Produkts werden“. (Das Kapital)
152.
In seinem fortgeschrittensten Bereich kommt der konzentrierte Kapitalismus immer mehr zum Verkauf von „komplett ausgestatteten“ Zeitblöcken, von denen jeder eine einzige vereinheitlichte Ware bildet, die eine bestimmte Zahl verschiedener Waren in sich integriert hat. So kann in der sich ausdehnenden Wirtschaft der „Dienstleistungen“ und der Freizeit die Zahlungsformel „alles inbegriffen“ auftauchen, für die spektakuläre Wohnung, die kollektiven Pseudoreisen der Ferien, das Abonnement auf den kulturellen Konsum und den Verkauf selbst der Geselligkeit in der Form von „erregenden Gesprächen“ und „Begegnungen mit Persönlichkeiten“. Diese Art spektakulärer Ware, die natürlich nur in Funktion der zunehmenden Knappheit der entsprechenden Wirklichkeiten Geltung haben kann, gehört ebenso natürlich zu den schrittmachenden Artikeln der Modernisierung der Verkaufstechniken, indem sie auf Kredit zahlbar ist.
153.
Die konsumierbare pseudozyklische Zeit ist die spektakuläre Zeit, als Zeit des Konsums der Bilder im engen Sinn und zugleich, in ihrem ganzen Ausmaß, ein Bild des Konsums der Zeit. Die Zeit des Konsums der Bilder, das Medium aller Waren, ist untrennbar das Feld, auf dem die Instrumente des Spektakels ihre volle Wirkung ausüben, und das Ziel, das diese Instrumente global als Ort und zentrale Gestalt aller besonderen Arten des Konsums darstellen: es ist bekannt, daß der ständige Zeitgewinn, den die moderne Gesellschaft erstrebt — sei es durch die Schnelligkeit der Beförderungsmittel oder durch den Gebrauch von Fertigsuppen — für die Bevölkerung der Vereinigten Staaten positiv darin zum Ausdruck kommt, daß allein das Zuschauen des Fernsehens sie durchschnittlich zwischen drei und sechs Stunden täglich beschäftigt. Das gesellschaftliche Bild des Konsums der Zeit wird seinerseits ausschließlich von den Momenten der Freizeit und der Ferienzeit beherrscht, Momente, die von fern vorgestellt werden und die, wie jede spektakuläre Ware, durch Postulat begehrenswert sind. Diese Ware wird hier ausdrücklich als der Moment des wirklichen Lebens ausgegeben, dessen zyklische Wiederkehr es abzuwarten gilt. Aber in diesen dem Leben zugewiesenen Momenten selbst ist es noch das Spektakel, das sich zu sehen und zu reproduzieren gibt und dabei eine noch stärkere Intensität erreicht. Was als das wirkliche Leben vorgestellt wurde, erweist sich lediglich als das Leben, das noch wirklicher spektakulär ist.
154.
Diese Epoche, die sich selbst ihre Zeit wesentlich als die beschleunigte Wiederkehr vielfältiger Festlichkeiten zeigt, ist ebenso eine Epoche ohne Feste. Was in der zyklischen Zeit der Moment der Teilnahme einer Gemeinschaft an der luxuriösen Verausgabung des Lebens war, ist der Gesellschaft ohne Gemeinschaft und ohne Luxus unmöglich. Wenn ihre allgemein verbreiteten Pseudofeste, Parodien des Dialogs und der Gabe, zu einer wirtschaftlichen Mehrausgabe anregen, bringen sie nur die stets das Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierende Enttäuschung ein. Die Zeit des modernen Überlebens muß sich im Spektakel um so nachdrücklicher anpreisen als sich ihr Gebrauchswert vermindert hat. Die Wirklichkeit der Zeit ist durch die Werbung für die Zeit ersetzt worden.
155.
Während der Konsum der zyklischen Zeit der alten Gesellschaften mit der wirklichen Arbeit dieser Gesellschaften übereinstimmte, steht der pseudozyklische Konsum der entwickelten Wirtschaft im Widerspruch zu der abstrakten irreversiblen Zeit ihrer Produktion. Während die zyklische Zeit die wirklich erlebte Zeit der unbeweglichen Illusion war, ist die spektakuläre Zeit die illusorisch erlebte Zeit der sich verändernden Wirklichkeit.
156.
Was stets neu im Produktionsprozeß der Dinge ist, findet sich nicht im Konsum wieder, der die erweiterte Wiederkehr des Gleichen bleibt. Weil die tote Arbeit weiterhin über die lebendige Arbeit herrscht, herrscht in der spektakulären Zeit die Vergangenheit über die Gegenwart.
157.
Als andere Seite des Mangels des allgemeinen geschichtlichen Lebens hat das individuelle Leben noch keine Geschichte. Die Pseudoereignisse, die sich in der spektakulären Dramatisierung drängen, sind nicht von denjenigen erlebt worden, die über sie informiert sind; und außerdem gehen sie mit jedem Pulsschlag der spektakulären Maschinerie in der Inflation ihres beschleunigten Ersatzes verloren. Andererseits steht das, was wirklich erlebt wurde, in keiner Beziehung zu der offiziellen irreversiblen Zeit der Gesellschaft, und in direktem Gegensatz zu dem pseudozyklischen Rhythmus des konsumierbaren Nebenprodukts dieser Zeit. Dieses individuell Erlebte des getrennten täglichen Lebens bleibt ohne Sprache, ohne Begriff, ohne kritischen Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit, die nirgendwo aufbewahrt ist. Es wird nicht mitgeteilt. Es ist unbegriffen und vergessen zugunsten des falschen spektakulären Gedächtnisses für das Undenkwürdige.
158.
Das Spektakel, als gegenwärtige gesellschaftliche Organisation der Lähmung der Geschichte und des Gedächtnisses, des Verzichtes auf die Geschichte, der sich auf der Grundlage der geschichtlichen Zeit aufbaut, ist das falsche Bewußtsein von der Zeit.
159.
Um die Arbeiter zu dem Stand „freier“ Produzenten und Konsumenten von Zeit als Ware hinzuführen, war die Vorbedingung die gewaltsame Enteignung ihrer Zeit. Die spektakuläre Wiederkehr der Zeit ist erst von dieser ersten Enteignung des Produzenten an möglich geworden.
160.
Der unreduzierbare biologische Teil, der in der Arbeit als Abhängigkeit von dem natürlichen Zyklischen des Wachens und des Schlafens wie auch in der Handgreiflichkeit der individuellen irreversiblen Zeit des Lebensverschleißes vorhanden bleibt, ist für die moderne Produktion nur nebensächlich; und als solche werden diese Elemente in den offiziellen Proklamationen der Produktionsbewegung und der konsumierbaren Trophäen, die die erschwingliche Äußerung dieses unaufhörlichen Sieges sind, vernachlässigt. Das im verfälschten Zentrum der Bewegung seiner Welt immobilisierte zuschauende Bewußtsein kennt in seinem Leben keinen Übergang mehr zu seiner Verwirklichung und zu seinem Tod. Wer darauf verzichtet hat, sein Leben zu verausgaben, darf sich nicht mehr seinen Tod eingestehen. Die Werbung der Lebensversicherungen gibt lediglich zu verstehen, daß der schuldig ist, wer stirbt, ohne die Regulierung des Systems nach diesem wirtschaftlichen Verlust gesichert zu haben; und die Werbung des american way of death betont seine Fähigkeit, bei dieser Begegnung den größten Teil des Scheins des Lebens aufrechtzuerhalten. An der gesamten übrigen Front der Werbebombardierungen ist es rundweg verboten zu altern. Danach würde es darauf ankommen, bei jedem ein „Jugend-Kapital“ zu bewahren, das, obschon es nur wenig benutzt worden ist, nicht beanspruchen kann, die dauerhafte und kumulative Realität des Finanzkapitals zu erwerben. Diese gesellschaftliche Abwesenheit des Todes ist mit der gesellschaftlichen Abwesenheit des Lebens identisch.
161.
Die Zeit ist die notwendige Entäußerung, wie Hegel zeigte, die Sphäre, in der sich das Subjekt verwirklicht, indem es sich verliert, anders wird, um die Wahrheit seiner selbst zu werden. Aber ihr Gegenteil ist gerade die herrschende Entfremdung, die der Produzent einer fremden Gegenwart erfährt. In dieser räumlichen Entfremdung trennt die Gesellschaft das Subjekt an der Wurzel von der Tätigkeit, die sie ihm raubt, zunächst aber von seiner eigenen Zeit. Die überwindbare gesellschaftliche Entfremdung ist gerade diejenige, die die Möglichkeiten und die Risiken der lebendigen Entäußerung in der Zeit verwehrt und versteinert hat.
162.
Hinter den erscheinenden Moden, die einander an der tändelhaften Oberfläche der kontemplierten pseudozyklischen Zeit vernichten und wiederzusammensetzen, besteht der große Stil der Epoche stets in dem, was durch die offensichtliche und geheime Notwendigkeit der Revolution orientiert wird.
163.
Die natürliche Grundlage der Zeit, die sinnliche Gegebenheit des Verfließens der Zeit, wird menschlich und gesellschaftlich, indem sie für den Menschen existiert. Der bornierte Stand der menschlichen Praxis, die Arbeit in ihren verschiedenen Stadien, hat bis heute die Zeit als zyklische Zeit und als irreversible getrennte Zeit der Wirtschaftsproduktion vermenschlicht und auch entmenscht. Das revolutionäre Projekt einer klassenlosen Gesellschaft, eines verallgemeinerten geschichtlichen Lebens, ist das Projekt eines Absterbens des gesellschaftlichen Zeitmaßes zugunsten eines ludistischen Modells irreversibler Zeit der Individuen und Gruppen, eines Modells, in dem gleichzeitig verbündete unabhängige Zeiten vorhanden sind. Es ist das Programm einer totalen Verwirklichung des Kommunismus, der „alles von den Individuen unabhängig Bestehende“ abschafft, in der Sphäre der Zeit.
164.
Die Welt besitzt schon den Traum von einer Zeit, von der sie jetzt das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu erleben.
7. Kapitel DIE RAUMORDNUNG
„Und wer Herr einer bisher freien Stadt wird und sie nicht vernichtet, mag darauf gefaßt sein, von ihr vernichtet zu werden. Denn die Bürger können sich bei einer Empörung stets auf ihre Freiheit und alte Verfassung berufen, welche weder die Zeit noch empfangene Wohltaten in ihrem Gedächtnis auszulöschen vermögen. Was für Maßregeln und Verkehrungen auch der Eroberer trifft: wenn er die Einwohner nicht auseinanderreißt und zerstreut, vergessen sie ihre Freiheit und Verfassung nie.“ Machiavelli (Der Fürst).
165.
Die kapitalistische Produktion hat den Raum vereinheitlicht, der von keinen Außengesellschaften mehr begrenzt ist. Diese Vereinheitlichung ist zugleich ein extensiver und intensiver Prozeß der Banalisierung. So wie die Akkumulation der für den abstrakten Raum des Marktes in Serie produzierten Waren alle regionalen und gesetzlichen Schranken und alle korporativen Beschränkungen des Mittelalters, die die Qualität der handwerksmäßigen Produktion aufrechterhielten, brechen mußte, mußte sie auch die Autonomie und die Qualität der Orte auflösen. Diese Macht der Homogenisierung ist die schwere Artillerie, die alle chinesischen Mauern in den Grund geschossen hat.
166.
Um immer identischer mit sich selbst zu werden, um sich der unbeweglichen Eintönigkeit möglichst weit zu nähern, wird der freie Raum der Ware nunmehr ständig verändert und wiederaufgebaut.
167.
Diese Gesellschaft, die die geographische Entfernung abschafft, nimmt im Inneren die Entfernung als spektakuläre Trennung wieder auf.
168.
Das Nebenprodukt der Warenzirkulation, die als Konsum betrachtete menschliche Zirkulation, d.h. der Tourismus, läßt sich im wesentlichen auf die Muße zurückführen, das zu besichtigen, was banal geworden ist. Die wirtschaftliche Erschließung des Besuchs verschiedener Orte ist bereits von selbst die Garantie ihrer Äquivalenz. Dieselbe Modernisierung, die der Reise die Zeit entzogen hat, hat ihr auch die Realität des Raums entzogen.
169.
Die Gesellschaft, die ihre ganze Umgebung modelliert, hat sich eine spezielle Technik geschaffen, um die konkrete Basis dieser Aufgabengruppe zu bearbeiten: ihr Territorium selbst. Der Urbanismus ist diese Inbesitznahme der natürlichen und menschlichen Umwelt durch den Kapitalismus, der, indem er sich logisch zur absoluten Herrschaft entwickelt, jetzt das Ganze des Raums als sein eigenes Bühnenbild umarbeiten kann und muß.
170.
Das kapitalistische Erfordernis, das im Urbanismus als sichtbarer Vereisung des Lebens befriedigt wird, kann — mit Hegelschen Worten gesagt — als die absolute Vorherrschaft „des ruhigen Nebeneinander des Raums“ über „das unruhige Werden im Nacheinander der Zeit“ ausgedrückt werden.
171.
Wenn alle technischen Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft als trennungschaffende Kräfte zu verstehen sind, handelt es sich im Fall des Urbanismus um die Ausrüstung ihrer allgemeinen Basis, um die Bearbeitung des für ihre Entfaltung geeigneten Bodens; um die Technik der Trennung selbst.
172.
Der Urbanismus ist die moderne Ausführung der ununterbrochenen Aufgabe, die die Klassenherrschaft sicherstellt: die Aufrechterhaltung der Atomisierung der Arbeiter, die durch die städtischen Produktionsbedingungen gefährlich zusammengebracht worden waren. Der ständige Kampf, der gegen alle Aspekte dieser Möglichkeit der Begegnung geführt werden mußte, findet im Urbanismus sein bevorzugtes Feld. Die Bemühung aller etablierten Mächte seit den Erfahrungen der französischen Revolution, die Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Straßen zu vermehren, gipfelt schließlich in der Abschaffung der Straße. „Mit den Massenkommunikationsmitteln über große Entfernungen hat sich herausgestellt, daß die Isolierung der Bevölkerung ein viel wirksameres Mittel der Kontrolle ist“, stellt Lewis Mumford in The City in History fest, wo er eine „von nun an bestehende Einbahnwelt“ beschreibt. Aber die allgemeine Isolierungsbewegung, die die Realität des Urbanismus ist, muß auch eine kontrollierte Wiedereingliederung der Arbeiter nach den planbaren Erfordernissen der Produktion und des Konsums enthalten. Die Integration in das System muß die isolierten Individuen als gemeinsam isolierte Individuen wieder in Besitz nehmen: die Betriebe wie die Kulturzentren, die Feriendörfer wie die großen Wohnsiedlungen sind speziell für die Ziele dieser Pseudogemeinschaftlichkeit organisiert, die das vereinzelte Individuum auch in die Familienzelle begleitet: die verallgemeinerte Verwendung von Empfängern der Spektakelbotschaft bewirkt, daß seine Vereinzelung von den herrschenden Bildern bevölkert wird, von Bildern, die erst durch diese Vereinzelung ihre volle Macht erreichen.
173.
Zum ersten Mal ist eine neue Architektur, die in jeder früheren Epoche der Befriedigung der herrschenden Klassen vorbehalten war, direkt den Armen zugedacht. Das formale Elend und die riesenhafte Ausdehnung dieser neuen Wohnungserfahrung sind die Folge ihres Massencharakters, den sowohl ihre Bestimmung als auch die modernen Konstruktionsbedingungen einschließen. Die autoritäre Entscheidung, die abstrakt den Raum zu einem Raum der Abstrakten anordnet, steht natürlich im Zentrum dieser modernen Konstruktionsbedingungen. Die gleiche Architektur erscheint überall dort, wo die Industrialisierung der in dieser Hinsicht zurückgebliebenen Länder beginnt, als der neuen gesellschaftlichen Existenzweise — die es dort ansässig zu machen gilt — adäquates Terrain. Die überschrittene Wachstumsschwelle der materiellen Macht der Gesellschaft und die Verzögerung der bewußten Beherrschung dieser Macht treten im Urbanismus genauso offen zu Tage wie in den Fragen der thermonuklearen Bewaffnung und der Geburtenfrequenz — und im letzteren Fall geht es so weit, daß die Möglichkeit einer Manipulation der Erblichkeit bereits erreicht worden ist.
174.
Der gegenwärtige Moment ist bereits derjenige der Selbstzerstörung des städtischen Milieus. Die Zersplitterung der Städte auf das Land, das durch „formlose Massen städtischer Überbleibsel“ (Lewis Mumford) überwachsen wird, wird unmittelbar von den Erfordernissen des Konsums geleitet. Die Diktatur des Automobils, des Schrittmacherproduktes der ersten Phase des Warenüberflusses, hat sich durch die Herrschaft der Autobahn, die die alten Zentren sprengt und eine immer mehr geförderte Versprengung gebietet, in das Gelände eingeprägt. Zugleich polarisieren sich vorübergehend die Momente der unvollendeten Reorganisation des städtischen Gefüges um die „Distributionsfabriken“ herum, um die riesigen Supermarkets, die auf dem nackten Gelände, auf einem Parkplatz-Sockel, errichtet sind; und diese Tempel des überstürzten Konsums fliehen selbst in der zentrifugalen Bewegung, die sie wieder abstößt, sobald sie ihrerseits zu überlasteten Sekundärzentren geworden sind, weil sie zu einer teilweisen Neuzusammensetzung der Ballung geführt haben. Aber die technische Organisation des Konsums steht lediglich im Vordergrund der allgemeinen Auflösung, die die Stadt auf diese Weise dahingebracht hat, daß sie sich selbst konsumiert.
175.
Die Wirtschaftsgeschichte, die sich ganz und gar um den Gegensatz Stadt — Land herum entwickelt hat, hat eine Erfolgsstufe erreicht, die die beiden Seiten gleichzeitig vernichtet. Die heutige Lähmung der gesamten geschichtlichen Entwicklung zugunsten der alleinigen Fortsetzung der selbständigen Bewegung der Wirtschaft macht den Moment, in dem die Stadt und das Land zu verschwinden beginnen, nicht zur Aufhebung ihrer Entzweiung, sondern zu ihrem gleichzeitigen Zusammenbruch. Die gegenseitige Abnutzung der Stadt und des Landes, das Produkt des Versagens der geschichtlichen Bewegung, durch die die bestehende städtische Wirklichkeit überwunden werden sollte, erscheint in der eklektischen Mischung ihrer zerlegten Bestandteile, die die in der Industrialisierung fortgeschrittensten Zonen überdeckt.
176.
Die Weltgeschichte ist in den Städten entstanden, und sie ist in dem Moment des entscheidenden Sieges der Stadt über das Land mündig geworden. Marx sieht es als eines der größten revolutionären Verdienste der Bourgeoisie an, daß „sie das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen hat“, deren Luft freimacht. Aber wenn die Geschichte der Stadt die Geschichte der Freiheit ist, so war sie auch die Geschichte der Tyrannei, der staatlichen Verwaltung, die das Land und die Stadt selbst kontrolliert. Die Stadt konnte bisher nur der Kampfplatz der geschichtlichen Freiheit sein und nicht deren Besitz. Die Stadt ist das Milieu der Geschichte, weil sie zugleich Konzentration der gesellschaftlichen Macht, die das geschichtliche Unternehmen möglich macht, und Bewußtsein der Vergangenheit ist. Die gegenwärtige Tendenz zur Liquidierung der Stadt äußert daher nur auf eine andere Weise die Verzögerung bei der Unterordnung der Wirtschaft unter das geschichtliche Bewußtsein und bei einer Vereinigung der Gesellschaft, die die Mächte wieder ergreift, die sich von ihr abgehoben haben.
177.
„Das Land bringt gerade die entgegengesetzte Tatsache, die Isolierung und Vereinzelung, zur Anschauung“ (Die deutsche Ideologie). Der Urbanismus, der die Städte zerstört, baut ein neues Pseudo-Land auf, in dem die natürlichen Verhältnisse des alten Landes genauso wie die direkten und direkt in Frage gestellten gesellschaftlichen Verhältnisse der geschichtlichen Stadt verloren sind. Eine neue künstliche Bauernschaft wird durch die Bedingungen der Siedlung und der spektakulären Kontrolle in dem heutigen „geordneten Raum“ geschaffen: die Verstreuung im Raum und die bornierte Mentalität, die stets die Bauernschaft daran gehindert haben, eine unabhängige Aktion zu unternehmen und sich als schöpferische geschichtliche Macht zu behaupten, bilden wieder die Merkmale der Produzenten — und die Bewegung einer Welt, die sie selbst erzeugen, bleibt ihnen genauso unerreichbar, wie es der natürliche Rhythmus der Arbeiten für die Agrargesellschaft war. Aber wenn diese Bauernschaft, die die unerschütterliche Basis des „orientalischen Despotismus“ war und deren Zersplitterung selbst nach der bürokratischen Zentralisierung rief, als Produkt der Wachstumsbedingungen der modernen staatlichen Bürokratisierung wieder auftaucht, muß ihre Apathie diesmal geschichtlich erzeugt und erhalten worden sein; die natürliche Unwissenheit hat dem organisierten Spektakel des Irrtums Platz gemacht. Die „neuen Städte“ der technologischen Pseudobauernschaft prägen in das Terrain deutlich den Bruch mit der geschichtlichen Zeit ein, auf die sie aufgebaut sind; ihr Motto kann lauten: „Hier selbst wird nie etwas geschehen und hier ist nie etwas geschehen“. Weil die Geschichte, die es in den Städten zu befreien gilt, in ihnen noch nicht befreit worden ist, gerade darum beginnen die Kräfte der geschichtlichen Abwesenheit, ihre eigene exklusive Landschaft zusammenzustellen.
178.
Die Geschichte, die diese dämmernde Welt bedroht, ist auch die Kraft, die der erlebten Zeit den Raum unterwerfen kann. Die proletarische Revolution ist diese Kritik der menschlichen Geographie, durch die die Individuen und die Gemeinschaften die Landschaften und die Ereignisse konstruieren müssen, die der Aneignung nicht mehr nur ihrer Arbeit, sondern ihrer gesamten Geschichte entsprechen. In diesem bewegten Raum des Spiels und der freigewählten Variationen der Spielregeln kann die Autonomie des Ortes wiedergefunden werden, ohne eine neue ausschließende Bindung an den Boden einzuführen, und dadurch die Wirklichkeit der Reise und des als Reise verstandenen Lebens zurückbringen, einer Reise, die in sich selbst all ihren Sinn hat.
179.
Die größte revolutionäre Idee über den Urbanismus ist selbst weder urbanistisch noch technologisch oder ästhetisch. Es ist die Entscheidung, den Raum nach den Bedürfnissen der Macht der Arbeiterräte, der anti-staatlichen Diktatur des Proletariats, des vollstreckbaren Dialogs vollständig wiederaufzubauen. Und die Macht der Räte, die nur wirklich sein kann, wenn sie die Totalität der bestehenden Bedingungen verändert, wird sich, wenn sie anerkannt werden will und sich selbst in ihrer Welt erkennen will, keine geringere Aufgabe stellen können.
8. Kapitel DIE NEGATION UND DER KONSUM IN DER KULTUR
„Wir werden eine politische Revolution erleben? Wir, die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein Freund, Sie glauben, was Sie wünschen? Wenn ich Deutschland nach seiner bisherigen und nach seiner gegenwärtigen Geschichte beurteile, so werden Sie mir nicht einwerfen, seine ganze Geschichte sei verfälscht, und seine ganze jetzige Öffentlichkeit stelle nicht den eigentlichen Zustand des Volkes dar. Lesen Sie die Zeitungen, welche Sie wollen, überzeugen Sie sich, daß man nicht aufhört - und Sie werden zugeben, daß die Zensur niemand hindert aufzuhören -, die Freiheit und das Nationalglück zu loben, welches wir besitzen?“ Ruge (Brief an Marx, März 1843).
180.
Die Kultur ist, in der in Klassen geteilten geschichtlichen Gesellschaft, die allgemeine Sphäre der Erkenntnis und der Vorstellungen des Erlebten; d.h. sie ist jenes Vermögen der Verallgemeinerung, das getrennt besteht, als Teilung der intellektuellen Arbeit und als intellektuelle Arbeit der Teilung. Die Kultur hat sich von der Einheit der Gesellschaft des Mythos abgehoben, „wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen?“ (Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems). Indem sie ihre Unabhängigkeit gewinnt, fängt die Kultur eine imperialistische Bewegung der Bereicherung an, die gleichzeitig der Niedergang ihrer Unabhängigkeit ist. Die Geschichte, die die relative Autonomie der Kultur und die ideologischen Illusionen über diese Autonomie schafft, drückt sich auch als Kulturgeschichte aus. Und die gesamte Eroberungsgeschichte der Kultur läßt sich als die Geschichte der Offenbarung ihrer Unzulänglichkeit, als ein Fortgang zu ihrer Selbstauflösung begreifen. Die Kultur ist der Ort der Suche nach der verlorenen Einheit. Bei dieser Suche nach der Einheit ist die Kultur als getrennte Sphäre gezwungen, sich selbst zu verneinen.
181.
Der Kampf zwischen Tradition und Neuerung, der das innere Entwicklungsprinzip der Kultur der geschichtlichen Gesellschaften ist, kann nur durch den ständigen Sieg der Neuerung fortgeführt werden. Die Neuerung in der Kultur wird indessen von nichts anderem getragen, als von der totalen geschichtlichen Bewegung, die, indem sie sich ihrer Totalität bewußt wird, nach der Aufhebung ihrer eigenen kulturellen Voraussetzungen strebt und auf die Abschaffung jeder Trennung hingeht.
182.
Der Aufschwung der Erkenntnisse der Gesellschaft, der das Begreifen der Geschichte als das Herz der Kultur beinhaltet, gelangt zu einer unwiderruflichen Selbsterkenntnis, die durch die Zerstörung Gottes ausgedrückt wird. Aber diese „Voraussetzung aller Kritik“ ist zugleich auch die erste Verpflichtung zu einer endlosen Kritik. Wo keine Verhaltensregel mehr fortbestehen kann, wird die Kultur durch jedes ihrer Resultate ihrer Auflösung näher gebracht. Wie die Philosophie im Augenblick, in dem sie ihre volle Autonomie erlangt hat, muß jede autonom gewordene Disziplin zusammenbrechen, und zwar zunächst als Anspruch kohärenter Erklärung der gesellschaftlichen Totalität und schließlich sogar als innerhalb ihrer eigenen Grenzen brauchbare parzellierte Instrumentierung. Der Mangel an Rationalität der getrennten Kultur ist das Element, das sie zu verschwinden verdammt, denn in ihr ist der Sieg des Rationellen bereits als Forderung vorhanden.
183.
Die Kultur ist aus der Geschichte entstanden, die die Lebensart der alten Welt aufgelöst hat, aber als getrennte Sphäre ist sie noch nichts weiter, als das Verständnis und die sinnliche Kommunikation, die in einer teilweise geschichtlichen Gesellschaft partiell bleibt. Sie ist der Sinn einer allzuwenig sinnigen Welt.
184.
Das Ende der Kulturgeschichte äußert sich auf zwei entgegengesetzten Seiten: im Projekt ihrer Aufhebung in der totalen Geschichte und in der Veranstaltung ihrer Aufrechterhaltung als toter Gegenstand in der spektakulären Kontemplation. Die eine dieser Bewegungen hat ihr Schicksal mit der gesellschaftlichen Kritik, und die andere das ihre mit der Verteidigung der Klassenherrschaft verknüpft.
185.
Jede der beiden Seiten des Endes der Kultur existiert einheitlich sowohl in allen Aspekten der Erkenntnisse als in allen Aspekten der sinnlichen Vorstellungen — existiert also in dem, was die Kunst im allgemeinsten Sinne war. Im ersten Fall stehen einander die Akkumulation fragmentarischer Kenntnisse, die darum unbrauchbar werden, weil die Billigung der bestehenden Bedingungen auf ihre eigenen Kenntnisse schließlich verzichten muß, und die Theorie der Praxis gegenüber, die die einzige Inhaberin der Wahrheit aller Kenntnisse ist, indem sie als einzige über das Geheimnis ihres Gebrauchs verfügt. Im zweiten Fall stehen einander die kritische Selbstzerstörung der alten gemeinsamen Sprache der Gesellschaft und ihre künstliche Wiederzusammensetzung im Warenspektakel, die illusorische Vorstellung des Nichterlebten gegenüber.
186.
Die Gesellschaft muß, wenn sie die Gemeinschaft der Gesellschaft des Mythos verliert, alle Bezugspunkte einer wirklich gemeinsamen Sprache verlieren, bis zu dem Moment, da die Entzweiung der untätigen Gemeinschaft durch das Gelangen zur wirklichen geschichtlichen Gemeinschaft überwunden werden kann. Sobald sich die Kunst, die diese gemeinsame Sprache der gesellschaftlichen Untätigkeit war, zur unabhängigen Kunst im modernen Sinn herausbildet, wenn sie aus ihrem ursprünglichen religiösen Universum hervortaucht und zur individuellen Produktion getrennter Werke wird, erfährt sie als besonderer Fall die Bewegung, die die Geschichte der gesamten getrennten Kultur beherrscht. Ihre unabhängige Behauptung ist der Anfang ihrer Auflösung.
187.
Daß die Sprache der Kommunikation verloren wurde, dies wird positiv durch die moderne Auflösungsbewegung aller Kunst, durch ihre formale Vernichtung ausgedrückt. Was diese Bewegung negativ ausdrückt, ist die Tatsache, daß eine gemeinsame Sprache wiedergefunden werden muß — nicht mehr in der einseitigen Schlußfolgerung, die für die Kunst der geschichtlichen Gesellschaft immer zu spät kam, und anderen von dem sprach, was ohne wirklichen Dialog erlebt wurde, und diese Mangelhaftigkeit des Lebens zuließ —, aber auch daß diese Sprache in der Praxis wiedergefunden werden muß, die die direkte Tätigkeit und deren Sprache in sich vereint. Es geht darum, die Gemeinsamkeit des Dialogs und das Spiel mit der Zeit, die von dem poetisch-künstlerischen Werk vorgestellt wurden, tatsächlich zu besitzen.
188.
Wenn die unabhängig gewordene Kunst ihre Welt in leuchtenden Farben malt, ist ein Moment des Lebens alt geworden, und mit leuchtenden Farben läßt er sich nicht verjüngen, sondern nur in der Erinnerung wachrufen. Die Größe der Kunst beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung des Lebens zu erscheinen.
189.
Die geschichtliche Zeit, die auf die Kunst übergreift, hat sich vom Barock an zunächst in der Sphäre der Kunst selbst ausgedrückt. Das Barock ist die Kunst einer Welt, die ihr Zentrum verloren hat: die vom Mittelalter anerkannte letzte mythische Ordnung im Kosmos und in der irdischen Regierung — die Einheit des Christentums und das Gespenst eines Kaiserreichs — ist zusammengebrochen. Die Kunst der Veränderung muß in sich das ephemere Prinzip tragen, das sie in der Welt vorfindet. Sie hat, so sagt Eugenio d’Ors, „das Leben gegen die Ewigkeit“ gewählt. Das Theater und das Fest, das theatralische Fest, sind die herrschenden Momente der barocken Gestaltung, in der jeder besondere künstlerische Ausdruck seinen Sinn erst durch seine Verweisung auf das Bühnenbild eines konstruierten Ortes erhält, auf eine Konstruktion, die ihr eigenes Vereinigungszentrum sein muß: und dieses Zentrum ist das Vergehen, das als bedrohtes Gleichgewicht in die dynamische Unordnung von allem eingeschrieben ist. Die manchmal übertriebene Wichtigkeit, die der Begriff des Barocks in der zeitgenössischen ästhetischen Diskussion erhalten hat, äußert das Bewußtwerden der Unmöglichkeit eines künstlerischen Klassizismus: die Anstrengungen, die zugunsten eines normativen Klassizismus oder Neoklassizismus seit drei Jahrhunderten unternommen wurden, führten lediglich zu kurzen, künstlichen Konstruktionen, die die äußere Sprache des Staates sprachen, die Sprache der absoluten Monarchie oder der revolutionären Bourgeoisie im römischen Gewand. Von der Romantik bis zum Kubismus folgte dem allgemeinen Verlauf des Barocks schließlich eine immer stärker individualisierte Kunst der Negation, die sich fortwährend erneuerte, bis zur vollständigen Zerstückelung und Negation der künstlerischen Sphäre. Das Verschwinden der geschichtlichen Kunst, die mit der internen Kommunikation einer Elite verknüpft war, die ihre halbunabhängige gesellschaftliche Basis in den teilweise ludistischen Bedingungen hatte, die die letzten Aristokratien noch erlebten, äußert auch die Tatsache, daß der Kapitalismus die erste Klassenherrschaft erfährt, die ihren Mangel an jeder ontologischen Qualität bekennt; und deren Macht, die in der bloßen Wirtschaftsverwaltung wurzelt, ebenso der Verlust jeder menschlichen Meisterschaft ist. Das Barock als Ganzes, das für die künstlerische Schöpfung eine seit langem verlorene Einheit ist, findet sich gewissermaßen im jetzigen Konsum der gesamten künstlerischen Vergangenheit wieder. Die geschichtliche Kenntnis und Anerkennung der ganzen Kunst der Vergangenheit, die zurückblickend zur Weltkunst erhoben wird, relativieren sie zu einer globalen Unordnung, die ihrerseits auf einer höheren Stufe einen barocken Bau bildet, in dem die Produktion einer barocken Kunst selbst und all ihre Wiedererscheinungen verschmelzen müssen. Zum ersten Mal können die Künste aller Zivilisationen und aller Epochen allesamt gekannt und zugelassen werden. Diese „Er-Innerung“ der Geschichte der Kunst ist, indem sie möglich wird, auch das Ende der Welt der Kunst. In dieser Epoche der Museen, wenn es keine künstlerische Kommunikation mehr geben kann, können alle alten Momente der Kunst gleichermaßen zugelassen werden, denn kein Moment der Kunst leidet mehr, bei dem gegenwärtigen Verlust der Kommunikationsbedingungen überhaupt, unter dem Verlust seiner besonderen Kommunikationsbedingungen.
190.
In der Epoche ihrer Auflösung ist die Kunst als negative Bewegung, die die Aufhebung der Kunst in einer geschichtlichen Gesellschaft verfolgt, in der die Geschichte noch nicht erlebt wird, eine Kunst der Veränderung und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen Veränderung. Je grandioser ihre Forderung ist, um so mehr liegt ihre wahre Verwirklichung jenseits ihrer. Diese Kunst ist gezwungenermaßen Avantgarde und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden.
191.
Der Dadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen, die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. Sie sind, wenn auch nur auf eine relativ bewußte Weise, Zeitgenossen des letzten großen Sturmangriffs der revolutionären proletarischen Bewegung; und das Scheitern dieser Bewegung, das sie gerade im künstlerischen Feld, dessen Hinfälligkeit sie proklamiert hatten, eingeschlossen hielt, ist der Hauptgrund für ihre Immobilisierung. Der Dadaismus und der Surrealismus sind zugleich geschichtlich miteinander verknüpft und stehen im Gegensatz zueinander. In diesem Gegensatz, der für jede der beiden Strömungen auch den konsequentesten und radikalsten Teil ihres Beitrags bildet, erscheint die innere Unzulänglichkeit ihrer Kritik, die von der einen wie von der anderen nur einseitig entwickelt wurde. Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind.
192.
Der spektakuläre Konsum, der die alte Kultur, die angepaßte Wiederholung ihrer negativen Äußerung mit inbegriffen, gefroren konserviert, wird offen in seinem kulturellen Bereich zu dem, was er implizit in seiner Gesamtheit ist: die Kommunikation des Unmitteilbaren. Die höchste Zerstörung der Sprache kann hier flach als ein offizieller positiver Wert anerkannt werden, denn es geht nur darum, eine Versöhnung mit dem herrschenden Zustand der Dinge zur Schau zu tragen, bei dem jede Kommunikation freudig als abwesend proklamiert wird. Die kritische Wahrheit dieser Zerstörung, als wirkliches Leben der modernen Kunst und Dichtung ist natürlich versteckt, denn das Spektakel, dessen Funktion darin besteht, in der Kultur die Geschichte in Vergessenheit zu bringen, wendet in der Pseudoneuheit seiner modernistischen Mittel gerade die Strategie an, die es im Grunde ausmacht. So kann sich eine Schule der Neo-Literatur als neu ausgeben, die einfach zugibt, daß sie das Geschriebene um seiner selbst willen betrachtet. Sonst versucht die modernste — und mit der repressiven Praxis der allgemeinen Organisation der Gesellschaft am engsten verbundene — Tendenz der spektakulären Kultur, neben der bloßen Proklamation der hinreichenden Schönheit der Auflösung des Kommunizierbaren, durch „Gesamtkunstwerke“ aus den aufgelösten Elementen ein komplexes neokünstlerisches Milieu wiederzusammenzusetzen; besonders gilt das für die Bemühungen der Integrierung der künstlerischen Trümmer und der technisch-ästhetischen Zwitter im Urbanismus. Dies ist, auf die Ebene der spektakulären Pseudokultur, die Übertragung jenes allgemeinen Projekts des entwickelten Kapitalismus, den Teilarbeiter als „fest in die Gruppe integrierte Persönlichkeit“ wieder zu ergreifen, eine Tendenz, die von den jüngeren amerikanischen Soziologen beschrieben wurde (Riesman, Whyte usw.). Es ist überall dasselbe Projekt einer Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit.
193.
Die Kultur, die ganz und gar zur Ware geworden ist, muß auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. Clark Kerr, einer der fortgeschrittensten Ideologen dieser Tendenz, hat errechnet, daß der komplexe Produktions-, Distributions- und Konsumprozeß der Kenntnisse schon 29 % des amerikanischen Nationalprodukts jährlich mit Beschlag belegt; und er sieht voraus, daß die Kultur in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spielen wird, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Kraftwagen und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Eisenbahn gespielt wurde.
194.
Die Gesamtheit der Kenntnisse, die sich zur Zeit als Denken des Spektakels fortentwickelte, muß eine Gesellschaft rechtfertigen, die keine Rechtfertigungen hat, und sich zu einer allgemeinen Wissenschaft des falschen Bewußtseins herausbilden. Sie ist ganz durch die Tatsache bedingt, daß sie ihre eigene materielle Grundlage im spektakulären System weder denken kann noch will.
195.
Das Denken der gesellschaftlichen Organisation des Scheins wird seinerseits durch die verallgemeinerte Hilfs-Kommunikation, die es verteidigt, verdunkelt. Es weiß nicht, daß der Konflikt der Vater aller Dinge seiner Welt ist. Die Spezialisten der Macht des Spektakels, einer Macht, die im Inneren seines Systems einer Sprache ohne Antwort absolut ist, sind durch ihre Erfahrung der Verachtung und des Gelingens der Verachtung absolut korrumpiert; denn sie finden ihre Verachtung durch die Kenntnis des verachtungswerten Menschen bestätigt, der der Zuschauer wirklich ist.
196.
In dem spezialisierten Denken des spektakulären Systems findet eine neue Teilung der Aufgaben je nachdem statt, wie die Vervollkommnung dieses Systems selbst neue Probleme stellt: auf der einen Seite unternimmt die moderne Soziologie, die die Trennung allein mit Hilfe der begrifflichen und materiellen Instrumente der Trennung studiert, die spektakuläre Kritik des Spektakels; auf der anderen Seite bildet sich in den verschiedenen Disziplinen, in denen sich der Strukturalismus einwurzelt, die Apologie des Spektakels zum Denken des Nichtdenkens, zum berechtigten Vergessen der geschichtlichen Praxis heraus. Dennoch sind die falsche Verzweiflung der undialektischen Kritik und der falsche Optimismus der reinen Werbung des Systems als unterwürfiges Denken identisch.
197.
Die Soziologie, die zunächst in den Vereinigten Staaten damit begonnen hat, die mit der jetzigen Entwicklung geschaffenen Existenzbedingungen zur Diskussion zu stellen, hat zwar zahlreiche empirische Gegebenheiten anführen können, erkennt jedoch in keiner Weise die Wahrheit ihres eigenen Gegenstandes, weil sie nicht in ihm selbst die Kritik findet, die ihm immanent ist. Infolgedessen stützt sich die aufrichtig reformistische Tendenz dieser Soziologie lediglich auf die Moral, den gesunden Menschenverstand, auf höchst unpassende Appelle an die Mäßigung usw. Weil eine derartige Kritik das Negative, das im Zentrum ihrer Welt steht, nicht erkennt, beschreibt sie lediglich mit Nachdruck eine Art negativen Überschusses, der ihr beklagenswerterweise die Oberfläche dieser Welt zu überfüllen scheint, wie eine irrationelle parasitäre Wucherung. Dieser entrüstete gute Wille, der es selbst als solcher nicht weiter bringt als die äußere Form des Systems zu tadeln, hält sich für kritisch und vergißt dabei den wesentlich apologetischen Charakter seiner Voraussetzungen und seiner Methode.
198.
Diejenigen, die die Aufforderung zur Verschwendung in der Gesellschaft des wirtschaftlichen Überflusses als absurd oder gefährlich denunzieren, wissen nicht, wozu die Verschwendung dient. Sie verurteilen mit Undankbarkeit, im Namen der wirtschaftlichen Rationalität die treuen irrationellen Wächter, ohne welche die Gewalt dieser wirtschaftlichen Rationalität zusammenbrechen würde. Boorstin z.B., der in „Image“ den Warenkonsum des amerikanischen Spektakels beschreibt, erreicht niemals den Begriff des Spektakels, weil er glaubt, das Privatleben oder die Idee der „ehrlichen Ware“ aus dieser unheilvollen Übertreibung ausklammern zu können. Er versteht nicht, daß die Ware selbst die Gesetze gemacht hat, deren „ehrliche“ Anwendung ebenso zur besonderen Realität des Privatlebens führt wie zu ihrer späteren Rückeroberung durch den gesellschaftlichen Konsum von Bildern.
199.
Boorstin beschreibt die Übertreibungen einer Welt, die uns fremd geworden ist, als Übertreibungen, die unserer Welt fremd sind. Aber die „normale“ Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, auf die er sich implizite bezieht, wenn er die oberflächliche Herrschaft der Bilder, in der Sprache des psychologischen und moralischen Urteils, als das Produkt „unserer extravaganten Ansprüche“ bezeichnet, besitzt weder in seinem Buch noch in seiner Epoche irgendeine Realität. Gerade weil für Boorstin das wirkliche menschliche Leben, von dem er spricht, in der Vergangenheit liegt, mit Einschluß der Vergangenheit der religiösen Ergebung, kann er nicht die ganze Tiefe einer Gesellschaft des Bildes begreifen. Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft.
200.
Die Soziologie, die glaubt, eine getrennt funktionierende industrielle Rationalität von der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens absondern zu können, kann bis dahin gehen, daß sie von der globalen industriellen Bewegung die Techniken der Reproduktion und der Übertragung absondert. So findet Boorstin den Grund der Ergebnisse, die er ausmalt, in dem unglücklichen, gleichsam zufälligen Zusammentreffen eines zu großen technischen Apparates zur Verbreitung der Bilder mit einer zu großen Anziehungskraft, die die Pseudo-Sensation auf die Menschen unserer Epoche ausübt. So läge der Grund für das Spektakel in der Tatsache, daß der moderne Mensch zu sehr Zuschauer sei. Boorstin begreift nicht, daß das Wuchern von vorgefertigten „Pseudoereignissen“, das er denunziert, aus der einfachen Tatsache hervorgeht, daß die Menschen in der massiven Realität des jetzigen gesellschaftlichen Lebens selbst keine Ereignisse erleben. Gerade weil die Geschichte selbst in der modernen Gesellschaft wie ein Gespenst umgeht, findet man Pseudogeschichte, die auf allen Ebenen des Konsums des Lebens gebaut wird, um das bedrohte Gleichgewicht der heutigen eingefrorenen Zeit zu erhalten.
201.
Die Behauptung der endgültigen Stabilität einer kurzen Frostperiode der geschichtlichen Zeit ist die unleugbare, bewußtlos und bewußt proklamierte Grundlage der heutigen Tendenz einer strukturalistischen Systematisierung. Der Standpunkt, den das antigeschichtliche Denken des Strukturalismus einnimmt, ist der der ewigen Gegenwart eines Systems, das nie geschaffen wurde und nie enden wird. Der Traum der Diktatur einer unbewußten vorgegebenen Struktur über jede gesellschaftliche Praxis konnte mißbräuchlich aus den Strukturmodellen gezogen werden, welche die Linguistik und die Ethnologie ausgearbeitet hatten (ja sogar die Funktionsanalyse des Kapitalismus), Modelle, die bereits unter diesen Umständen mißverstanden wurden, einfach deshalb, weil ein akademisches Denken schnell befriedigter mittlerer Angestellter, das vollständig in dem bewundernden Lob des bestehenden Systems versunken ist, jede Realität einfach auf die Existenz des Systems zurückführt.
202.
Zum Verständnis der „strukturalistischen“ Kategorien, wie überhaupt bei jeder historischen sozialen Wissenschaft, ist immer festzuhalten, daß die Kategorien Daseinsformen, Existenzbedingungen ausdrücken. Sowenig man den Wert eines Individuums nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man diese bestimmte Gesellschaft bewerten — und bewundern —, indem man die Sprache, in der sie zu sich selbst spricht, als unbestreitbar wahr annimmt. „Ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens [...] erklären [...]“ Die Struktur ist das Kind der gegenwärtigen Macht. Der Strukturalismus ist das vom Staat garantierte Denken, das die gegenwärtigen Bedingungen der spektakulären „Mitteilung“ als ein Absolutes denkt. Seine Art, den Code der Botschaften an sich selbst zu studieren, ist lediglich das Produkt und die Anerkennung einer Gesellschaft, in der die Mitteilung in der Form einer Kaskade hierarchischer Signale besteht. Es ist demnach nicht der Strukturalismus, der zum Beweis der übergeschichtlichen Gültigkeit der Gesellschaft des Spektakels dient; es ist im Gegenteil die Gesellschaft des Spektakels, die sich als massive Realität durchsetzt und zum Beweis des kalten Traums des Strukturalismus dient.
203.
Ohne Zweifel kann der kritische Begriff des Spektakels auch in irgendeiner soziologisch-politischen rhetorischen Hohlformel verbreitet werden, um abstrakt alles zu erklären und zu denunzieren, und so der Verteidigung des spektakulären Systems dienen. Denn es ist evident, daß keine Idee über das bestehende Spektakel, sondern lediglich über die bestehenden Ideen vom Spektakel hinausführen kann. Zur wirklichen Zerstörung der Gesellschaft des Spektakels bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten. Die kritische Theorie des Spektakels ist nur wahr, indem sie sich mit der praktischen Strömung zur Negation in der Gesellschaft vereinigt, und diese Negation, die Wiederaufnahme des revolutionären Klassenkampfes, wird sich ihrer selbst bewußt werden, indem sie die Kritik des Spektakels entwickelt, die die Theorie ihrer wirklichen Bedingungen, der praktischen Bedingungen der gegenwärtigen Unterdrückung ist, und die umgekehrt das Geheimnis dessen enthüllt, was sie zu sein vermag. Diese Theorie erwartet keine Wunder von der Arbeiterklasse. Sie betrachtet die neue Formulierung und Verwirklichung der proletarischen Forderungen als eine langwierige Aufgabe. Um zwischen theoretischem und praktischem Kampf künstlich zu unterscheiden — denn auf der hier definierten Grundlage läßt sich die Herausbildung und die Mitteilung einer derartigen Theorie schon nicht ohne eine strenge Praxis begreifen —, es steht fest, daß der dunkle und schwierige Marsch der kritischen Theorie auch zum Schicksal der auf Gesellschaftsebene handelnden praktischen Bewegung werden muß.
204.
Die kritische Theorie muß sich in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs, die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt ist. Sie ist Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein „Nullpunkt des Schreibens“, sondern seine Umkehrung. Sie ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation.
205.
In ihrem Stil selbst ist die Darlegung der dialektischen Theorie nach den Regeln der herrschenden Sprache und für den von ihnen anerzogenen Geschmack ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in der positiven Verwendung der bestehenden Begriffe zugleich auch das Verständnis ihrer wiedergefundenen fließenden Bewegung, ihren notwendigen Untergang einschließt.
206.
Dieser Stil, der seine eigene Kritik enthält, muß die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik über ihre ganze Vergangenheit ausdrücken. Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dialektischen Theorie den negativen Geist, der in ihr steckt. Die Wahrheit ist nicht „so, wie das Werkzeug von dem dortigen Gefäße wegbleibt [...]“ (Hegel.) Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik. Die Umkehrung des Genitivs ist dieser in der Form des Denkens aufbewahrte Ausdruck der geschichtlichen Revolutionen, der als der epigrammatische Stil Hegels betrachtet wurde. Als der junge Marx, dem systematischen Gebrauch Feuerbachs entsprechend, den Ersatz des Subjekts durch das Prädikat empfahl, gelangte er zu der konsequentesten Anwendung dieses aufrührerischen Stils, der aus der Philosophie des Elends das Elend der Philosophie hervorzieht. Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu. Die Entwendung wurde bereits von Kierkegaard bewußt gebraucht und dabei von ihm selbst denunziert: „Wie du dich aber auch drehen und wenden magst: wie der Saft immer in der Speisekammer endet, so kommst du immer dahin, ein kleines Wort einzumischen, das nicht dein Eigentum ist und das durch die Erinnerung stört, die es erweckt.“ (Philosophische Brocken.) Es ist die Verpflichtung zur Entfernung von dem, was zur offiziellen Wahrheit verfälscht wurde, die diese Anwendung der Entwendung bestimmt, zu der sich Kierkegaard in dem gleichen Buch auf folgende Weise bekennt: „Nur eine Bemerkung will ich noch machen in Bezug auf deine vielen Anspielungen, die alle darauf abzielten, daß ich entlehnte Äußerungen in das Gesagte mischte. Ich leugne nicht, daß dies der Fall ist, und will jetzt auch nicht verheimlichen, daß es mit Absicht geschah und daß ich im nächsten Abschnitt dieses Stückes, falls ich je einen solchen schreibe, im Sinn habe, die Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen und dem Problem ein historisches Kostüm anzuziehen.“
207.
Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte trägt dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige.
208.
Die Entwendung ist das Gegenteil des Zitats, der theoretischen Autorität, die stets bereits deswegen verfälscht ist, weil sie Zitat geworden ist; weil sie zu einem aus seinem Zusammenhang, aus seiner Bewegung und schließlich aus seiner Epoche als globalem Bezugsrahmen und aus der bestimmten Option, die es innerhalb dieses Bezugsrahmens war — sei diese richtig oder irrig erkannt — gerissenen Fragment geworden ist. Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Antiideologie. Sie erscheint in der Kommunikation, die weiß, daß sie nicht beanspruchen kann, irgendeine Garantie in sich selbst und endgültig zu besitzen. Sie ist, im höchsten Grad, die Sprache, die kein früherer und überkritischer Bezugspunkt bestätigen kann. Ihre eigene Kohärenz, in ihr selbst und mit den praktikablen Tatsachen, kann im Gegenteil den früheren Wahrheitskern, den sie wiederbringt, bestätigen. Die Entwendung hat ihre Sache auf nichts gestellt, was außerhalb ihrer eigenen Wahrheit als gegenwärtiger Kritik liegt.
209.
Was sich in der theoretischen Formulierung offen als entwendet darstellt, indem es jede dauerhafte Autonomie der Sphäre des ausgedrückten Theoretischen widerlegt, dadurch daß es in sie durch diese Gewaltsamkeit die Tat eintreten läßt, die jede bestehende Ordnung stört und beseitigt, weist darauf hin, daß dieses Bestehen des Theoretischen in sich selbst nichts ist, daß es sich erst mit der geschichtlichen Handlung kennen muß und mit der geschichtlichen Korrektur, welche seine echte Treue ist.
210.
Allein die wirkliche Negation der Kultur bewahrt deren Sinn. Sie kann nicht mehr kulturell sein. So ist sie das, was irgendwie auf der Ebene der Kultur bleibt, dies aber in einem ganz anderen Sinn.
211.
In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur — ihre Erkenntnis wie ihre Poesie — beherrscht, und insofern sie sich nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte theoretische Kritik geht allein der vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis entgegen.
9. Kapitel DIE MATERIALISIERTE IDEOLOGIE
„Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ Hegel (Phänomenologie des Geistes)
212.
Die Ideologie ist im konfliktorischen Verlauf der Geschichte die Grundlage des Denkens einer Klassengesellschaft. Die ideologischen Fakten waren niemals nur bloße Hirngespinste, sondern das entstellte Bewußtsein der Realitäten und als solche wirkliche Faktoren, die ihrerseits eine wirklich entstellende Wirkung ausübten; um so mehr verschmilzt die mit dem konkreten Gelingen der autonom gewordenen Wirtschaftsproduktion eintretende Materialisierung der Ideologie in der Form des Spektakels praktisch die gesellschaftliche Realität und eine Ideologie, die das ganze Wirkliche nach ihrem Modell zuschneiden konnte.
213.
Wenn sich die Ideologie, die der abstrakte Wille zum Allgemeinen und seine Illusion ist, durch die allgemeine Abstraktion und die tatsächliche Diktatur der Illusion in der modernen Gesellschaft legitimiert findet, ist sie nicht mehr der voluntaristische Kampf des Parzellierten, sondern sein Triumph. Von da an nimmt der ideologische Anspruch eine Art seichte positivistische Genauigkeit an: er ist nicht mehr eine geschichtliche Wahl, sondern eine Evidenz. In dieser Behauptung haben sich die besonderen Namen der Ideologien verflüchtigt. Selbst der Teil der im eigentlichen Sinn ideologischen Arbeit im Dienst des Systems faßt sich nur noch als Anerkennung eines „epistemologischen Sockels“ auf, der jenseits jedes ideologischen Phänomens stehen will. Die materialisierte Ideologie selbst ist namenlos, so wie ohne nennbares geschichtliches Programm. Das heißt mit anderen Worten, daß die Geschichte der Ideologien zu Ende ist.
214.
Die Ideologie, deren ganze innere Logik sie zur „totalen Ideologie“ im Sinne Mannheims hinführte, der Despotismus des Fragments, das sich als Pseudowissen eines erstarrten Ganzen durchsetzt, als totalitäre Vision, ist jetzt im immobilisierten Spektakel der Nichtgeschichte vollendet. Ihre Vollendung ist auch ihre Auflösung in der Gesamtheit der Gesellschaft. Mit der praktischen Auflösung dieser Gesellschaft muß auch die Ideologie verschwinden, die letzte Unvernunft, die den Zugang zum geschichtlichen Leben blockiert.
215.
Das Spektakel ist die Ideologie schlechthin, weil es das Wesen jedes ideologischen Systems in seiner Fülle darstellt und äußert: die Verarmung, die Unterjochung und die Negation des wirklichen Lebens. Das Spektakel ist materiell „der Ausdruck der Trennung und der Entfremdung zwischen Mensch und Mensch“. Die neue Potenz des wechselseitigen Betrugs, die sich in ihm konzentriert hat, hat ihre Grundlage in dieser Produktion, durch die „mit der Masse der Gegenstände das Reich der fremden Wesen wächst, denen der Mensch unterjocht ist“. Das ist das höchste Stadium einer Expansion, die das Bedürfnis gegen das Leben umgedreht hat. „Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert“. (Ökonomisch-philosophische Manuskripte.) Das Spektakel weitet das Prinzip, das Hegel in der Jenaer Realphilosophie als dasjenige des Geldes auffaßt, auf das gesamte gesellschaftliche Leben aus, es ist „das sich in sich bewegende Leben des Toten“.
216.
Im Gegensatz zu dem in den Thesen über Feuerbach zusammengefaßten Projekt, die Verwirklichung der Philosophie in der Praxis, die die Entgegensetzung zwischen Idealismus und Materialismus aufhebt, erhält das Spektakel die ideologischen Charaktere des Materialismus und des Idealismus und setzt sie in dem Pseudokonkreten seines Universums durch. Die kontemplative Seite des alten Materialismus, der die Welt als Vorstellung und nicht als Tätigkeit auffaßt — und der letzten Endes die Materie idealisiert —, ist im Spektakel vollendet, wo konkrete Dinge automatisch Herren über das gesellschaftliche Leben sind. Umgekehrt vollendet sich auch die geträumte Tätigkeit des Idealismus im Spektakel durch die technische Vermittlung von Zeichen und Signalen — die letzten Endes ein abstraktes Ideal materialisieren.
217.
Der von Gabel (Ideologie und Schizophrenie) aufgestellte Parallelismus von Ideologie und Schizophrenie muß in den Zusammenhang dieses wirtschaftlichen Prozesses der Materialisierung der Ideologie gestellt werden. Was die Ideologie bereits war, ist die Gesellschaft geworden. Die Ausschaltung der Praxis, und das falsche antidialektische Bewußtsein, das sie begleitet, das ist es, was in jeder Stunde des dem Spektakel unterworfenen, täglichen Lebens durchgesetzt wird; was als eine systematische Organisation des „Versagens der Begegnungsfunktion“ und als deren Ersatz durch ein halluzinatorisches gesellschaftliches Faktum zu begreifen ist: das falsche Bewußtsein der Begegnung, die „Illusion der Begegnung“. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr von den anderen anerkannt werden kann, wird jedes Individuum unfähig, seine eigene Realität anzuerkennen. Die Ideologie ist zu Hause; die Trennung hat ihre Welt gebaut.
218.
„In den klinischen Bildern der Schizophrenie“, sagt Gabel, „gehen Verfall der Dialektik der Ganzheit (mit der Auflösung als äußerster Form) und Verfall des Werdens (mit der Katatonie als äußerster Form) sehr gut zusammen.“ Das zuschauende Bewußtsein, als Gefangener eines verflachten Universums, das durch den Bildschirm des Spektakels beschränkt ist, hinter den sein eigenes Leben verschleppt worden ist, kennt nur noch die Scheingesprächspartner, die es einseitig mit ihrer Ware und der Politik ihrer Ware unterhalten. Das Spektakel in seiner ganzen Ausdehnung ist sein eigenes „Spiegelzeichen“. Hier wird der Scheinabgang eines verallgemeinerten Autismus inszeniert.
219.
Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen An- und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins sichergestellten wirklichen Anwesenheit der Falschheit. Wer passiv sein täglich fremdes Schicksal erleidet, wird daher zu einem Wahnsinn getrieben, der illusorisch auf dieses Schicksal reagiert, indem er sich mit magischen Techniken behilft. Die Anerkennung und der Konsum der Waren stehen im Zentrum dieser Pseudoantwort auf eine Mitteilung ohne Antwort. Das Bedürfnis nach Nachahmung, das der Konsument empfindet, ist genau das infantile Bedürfnis, das durch alle Aspekte seiner wesentlichen Enteignung bedingt wird. Nach den Worten, die Gabel auf einer ganz anderen pathologischen Ebene anwendet, „kompensiert hier das anormale Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen, ein quälendes Gefühl, am Rande des Lebens zu stehen“.
220.
Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein. Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der Wahn in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen beansprucht. Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muß viel mehr zu warten wissen.
221.
Sich von den materiellen Grundlagen der verkehrten Wahrheit zu emanzipieren, darin besteht die Selbstemanzipation unserer Epoche. Diese „geschichtliche Aufgabe, [...] die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“ kann weder das isolierte Individuum noch die den Manipulationen unterworfene, atomisierte Menge vollbringen, sondern immer noch die Klasse, die fähig ist, die Auflösung aller Klassen zu sein, indem sie die Macht auf die entfremdungsauflösende Form der verwirklichten Demokratie zurückführt, auf den Rat, in dem die praktische Theorie sich selbst kontrolliert und ihre Aktion sieht. Nur dort, wo die Individuen „unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft sind“; nur dort, wo sich der Dialog bewaffnet hat, um seinen eigenen Bedingungen zum Sieg zu verhelfen.
Guy Debord 1967
Edition Nautilus, Hamburg, 1978. Autorisierte Ausgabe Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Hassestr. 22-205 Hamburg 80. 1. Auflage 1978 ISBN 3-921523-36-2 Satz: Bärbel Skupch, Würzburg
Originaltext: http://www.labandavaga.antifa.net/node/55