Schwarz-Rot in Chiapas

Oder: Wie anarchistisch ist der Zapatismus? Ein Zwischenresümee zum 10. Jahrestag des Aufstandes

„Was wir wollen, ist der Sozialismus!“ sagt ein vermummter mit Hut in den tagesthemen – es muss wohl der gewesen sein, den die linke Öffentlichkeit später als „Comandante Tacho“ kennen lernt. Es war ein Abend Anfang Januar 1994, und das war die erste Botschaft aus dem Lakandonischen Urwald. Eine Region im Süden Mexikos, über die wir bis dahin noch nie etwas gehört hatten, und das WG-Wohnzimmer war erfüllt mit Begeisterung. „Ist der Zapatismus ein Anarchismus?“ war einige Jahre später in sartrescher Diktion in dieser Zeitung einmal gefragt worden (vgl. GWR 221, Sept.1997). Für uns war die Sache klar: Ja! Und zwar nicht nur, weil auch die Zapatistas schwarz-rote Fahnen zu ihren Zeichen zählten. Erst recht aber, als die ersten Texte aus Chiapas eintrafen und die doch recht einfache Mitteilung aus den Fernsehnachrichten um die mittlerweile so viel gerühmte poetische Sprachgewalt ergänzte. Aber hatten wir recht?

Das zehnjährige Jubiläum des zapatistischen Aufstandes am 1.Januar ist wohl ein gebührender Anlass, um sich die Frage nach Überschneidungen in zapatistischen und anarchistischen Ideen und Praktiken erneut zu stellen. Dabei ist der Zapatismus als einheitliche Bewegung ebenso wenig vorstellbar und nach Merkmalen abzufragen – John Holloway nennt ihn deshalb „antidefinitorisch“ – wie der Anarchismus. Die Folge ist beiderseits allerdings nicht Beliebigkeit.

Als Konsequenz aus dem Scheitern der meisten lateinamerikanischen Guerilla-Bewegungen konzipierten die Zapatistas ihr Umgehen mit Demokratie und Macht neu. Trotz der notwendig militärischen Organisation der EZLN ist die zapatistische Bewegung eine betont basisdemokratische. Der Avantgarde-Anspruch, den frühere Milizionäre auch und gerade gegenüber der eigenen bäuerlichen Basis raushängen ließen, wird strikt zurückgewiesen. Diese Ablehnung taucht in verschiedenen, von Subcomandante Marcos erzählten Geschichten auf, die vom gegenseitigen Zuhören handeln und diesen Begriff auch als Wert für die hiesige Linke wieder evident gemacht haben. Von den ersten sechs Gueriller@s im lakandonischen Urwald im Gespräch mit den Campesin@as Anfang der 1980er Jahre über die Entscheidung zum bewaffneten Aufstand bis hin zur Umstrukturierung der Gemeinden im August 2003, die Basisdemokratie ist ein nicht weg zu denkender Bestandteil der zapatistischen Geschichte und Gegenwart. Aus der Kritik am Repräsentationsgedanken sind auch im Anarchismus immer wieder Konzepte der Basisdemokratie entwickelt worden, und zwar sowohl in von der Münchener Bohéme beeinflussten Siedlungsanarchismus zu Beginn des letzten Jahrhunderts, wie auch im massenorientierten Anarchosyndikalismus etwas später. Wurden im Rätemodell neue Formen basisgebundener Befugnisse gesucht und praktiziert, entwickelten die Zapatistas mit dem Prinzip des „gehorchend Befehlen“ ähnliche Methoden, um die klassische Stellvertreterpolitik abzuschaffen. Auch wenn es zwischenzeitlich mal so aussah, als hätte sich die zapatistische Institutionenkritik allein auf die Einrichtungen der langjährigen Regierungspartei PRI bezogen, so muss doch konstatiert werden, dass auch der Zapatismus hier durchaus grundsätzlich gesprochen hatte. Das bedeutet konkret, dass auch nach dem Regierungswechsel staatliche Hilfe von den zapatistischen Gemeinden verweigert wird. Und programmatisch heißt es, dass der zapatistische Kampf von Beginn an nicht auf die Erlangung der Staatsmacht gerichtet war. Damit zogen sich die Zapatistas die Kritik von marxistischen und kommunistischen Linken zu, der auch AnarchistInnen schon seit Bakunins Rauswurf aus der Ersten Internationale (1872) aus dem gleichen Grund ausgesetzt waren. Die Ablehnung der „Staatsillusion“ – die Vorstellung, über die (revolutionäre oder reformistische) Erlangung der Staatsmacht egalitäre Verhältnisse schaffen zu können –, die Holloway als „das Neue“ des Zapatismus ausmacht, ist eins der anarchistischen essentials. Organisationsmodell und Geschichtsauffassung der KommunistInnen ablehnend, haben Anarchisten wie Gustav Landauer immer auf die freie Vereinbarung gesetzt und die Offenheit des historischen Prozesses betont. Letztlich gegen jene vermeintlichen Gewissheiten setzten auch die Zapatistas ihr „preguntando caminamos“ (fragend schreiten wir voran). Auch im Revolutionskonzept also, prozesshaft gedacht und nicht als den einen Sturm auf den Palast entworfen, finden sich deutliche Gemeinsamkeiten.

Überhaupt hat der Zapatismus, was die linke Theorie betrifft, auf gewissen Gebieten geradezu eine „Libertarisierung“ bewirkt: In Auseinandersetzung mit dem zapatistischen Politikverständnis sind marxistische Intellektuelle wie beispielsweise besagter John Holloway oder auch W.F.Haug und Joachim Hirsch verstärkt dazu übergegangen, sich vom starren Blick auf die Produktionsverhältnisse zu lösen und andere Lebensbereiche für relevant zu halten. Was als Reproduktionsbereich nur unter ferner liefen thematisiert wurde, wird nun zu einem zentralen Fokus der politischen Auseinandersetzungen. Seit Emma Goldman hatten anarchistische – neben feministischen – Bewegungen angemahnt, dass Herrschaftslosigkeit immer auch die Arbeit an sich selbst erfordert. Für dieses, alle Lebensbereiche umfassende Konzept von Politik hatten die Zapatistas schon deutliche Zeichen gesetzt, indem sie im machistischen Mexiko dem Aufstand ein revolutionäres Frauengesetz vorausgeschickt und bis heute die Frauenforderung umgesetzt haben, die autonomen Gemeinden alkoholfrei zu halten. Die Würde der und des einzelnen, zentrales Moment im Zapatismus wie in libertär inspirierten Befreiungsbewegungen (u.a. auch bei Gandhi), wird als Teil alltäglicher Kämpfe begriffen.

Aber da der Zapatismus keine Theorie ist, sondern sich – in den Bergen von Chiapas, aber auch weltweit – vor allem als Bewegung konstituiert, sind vor allem auch die Mobilisierungskräfte zu betonen, die er freigesetzt hat. Obwohl es der Anarchismus war, der mehr noch als die kommunistische Bewegung die Transnationalisierung auf seine Fahnen geschrieben hatte, ist doch die Geschichte einer die nationalstaatlichen Grenzen überschreitenden libertären Bewegung eher die eines oftmaligen Scheiterns. Von (wohlwollend betrachtet) kleinen Ausnahmen in den 1920er und 1930er Jahren, ist anarchistischen Bewegungen doch nie annähernd eine solche Aktivierung gelungen, wie die Zapatistas mit den beiden Interkontinentalen Treffen 1996 und 1997 haben lostreten können. Einer der wesentlichen Anschübe für die weltweite Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung, das musste selbst der Spiegel zur Kenntnis nehmen, ging von Chiapas aus.

Bei der Frage um die anarchistischen Elemente im Zapatismus kann es also auch nicht um eine metropolitane Schablone gehen, die über Indígena-Aktivitäten im Trikont gelegt wird. Eher umgekehrt: So wie die Zapatistas zum Widerstand vor Ort aufgerufen haben, statt klassische Solidaritätsarbeit zu verlangen, können sich anarchistische Ideen am zapatistischen Beispiel auf ihre Aktualität prüfen lassen. „Ist der Anarchismus ein Zapatismus?“ müsste es dann heißen, und angesichts der Tatsache, dass wir auch zehn Jahre nach dem ermutigenden tagesthemen-Abend noch in die Netze des Widerstands gegen Herrschaft und Neoliberalismus verstrickt sind, könnte die Antwort hier ebenfalls lauten: Ja!

Oskar Lubin

Aus: "Graswurzelrevolution" Nr. 285, Januar 2004

Der Text wurde uns freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt.


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