Gaston Kirsch - Im Schattenlicht. Soziale Basisbewegungen in Lateinamerika betreiben ebenso wie staatslinke Parteien nationaltümelnd platte Anti-Gringo-Rhetorik

In den kargen Bergen wehten mexikanische Fahnen, als der örtliche Organisator Hermelindo Pérez am 14. Februar 2006 in Ixtepec im mexikanischen Bundesstaat Puebla eine Veranstaltung eröffnete, die rund 200 indigenisierte KleinbäuerInnen aufmerksam verfolgten. Nicht der Kampf gegen ihre soziale und rassistische Ausgrenzung stand dabei im Mittelpunkt: „Unser heutiger Kampf soll sich nicht auf den Kampf von oben konzentrieren, sondern auf die Einheit des totonakischen Volkes. Die Parteien PRI, PAN, PRD und PT spielen sich dort die Bälle zu, das ist die Macht der Schweinerei. Wir haben eine andere Macht, eine Macht des Einbeziehens, des Teilens, eine würdige Macht, eine Kraft des Volkes.“

Die Entttäuschung darüber, dass auch die sozialdemokratische PRD im Bundesparlament nicht mit der Bevormundung und Ausgrenzung der indigenisierten Unterklassen gebrochen hat und die Folgen von Freihandel und Deregulierung weiterhin unmittelbar die Lebensverhältnisse verschlechtern, endet im romantischen Rückbezug auf ein indigenes Volk der Totonaken. Hermelindo Pérez: „Das totonakische Volk, ebenso wie alle indigenen Völker Lateinamerikas, hat es ertragen ... das neoliberale kapitalistische System ist sehr hart hier in den totonakischen Haushalten.“

Zu Beginn des Jahres brach Marcos, „Delegierter Null“ des zapatistischen EZLN im Rahmen der „Anderen Kampagne“ zu einer Rundreise zu Basisbewegungen quer durch Mexiko auf. Nun sprach er in Ixtepec: „Sag den Totonaken, erklärten meine Chefs, wenn diese Reichen und Mächtigen gewinnen, werden wir kein Vaterland mehr haben ... Frag die Totonaken, ob sie diese Erde lieben, diesen Boden, der Mexiko genannt wird. Wenn sie mit ja antworten, aus ihrer Geschichte, als indigenes Volk wie wir, mögen sie sich uns anschließen. Nicht nur uns als Zapatisten, sondern auch den Arbeitern, Bauern, die keine Indigenen sind, Frauen, ... all denjenigen, die arbeiten in diesem Land und die wir fragen, ob sie nicht für unser Vaterland kämpfen wollen, das Mexiko ist.“

Marcos warb für das außerparlamentarische Bündnis mit dem EZLN: „Vereint können wir diejenigen besiegen, welche unsere Heimat zerstören wollen.“

Die ganze Ambivalenz der Programmatik des EZLN wurde einmal mehr deutlich: Das Changieren zwischen einem antirassistischen Kampf gegen den Aussschluß aus dem mexikanischen Sozialstaat und einer indigenistischen Identitätspolitik, welche kleine Völker als politische Subjekte in der großen Nation beschwört.

Etwas klarere Worte zu den sozialen Konflikten kamen bei diesem Treffen von Maricela, Vertreterin der unabhängigen Nahua-Organisation aus Ayatosco in Guerrero: „Wir sind der Ausbeutung müde, und wir sind gegen das Kazikentum und die Mächtigen“. Die Bekämpfung der Kaziken, der lokalen Ausbeuter in den indigenisierten Gruppen, ist auch Teil der emanzipatorischen Praxis der EZLN, fällt aber in den großen Erklärungen unter den Tisch.

In der „Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“, der programmatischen Schrift der EZLN, welche die „Andere Kampagne“ inhaltlich begründete, wurde die notwendige Kritik der Privatisierungen mit nationalen Phrasen zugetextet: „Und sie wollen auch die Sozialversicherung privatisieren, und die Elektrizität, und das Wasser, und die Wälder und alles, bis von Mexiko nichts mehr übrigbleibt und unser Land nur noch Wüstland ist, oder ein Vergnügungspark für die Reichen der Welt, und die Mexikaner und Mexikanerinnen sollen ihre Diener sein, davon abhängig, was ihnen angeboten wird, ein armseliges Leben, ohne Wurzeln, ohne Kultur, ohne Vaterland eben. Das heißt, das die Neoliberalisten Mexiko töten wollen, unsere mexikanische Heimat.“

Im nachkolonialen Machtgefüge in Bolivien ist es ein befreiendes, ein emotional bewegendes Symbol gegen den Rassismus, dass ein indigenisierter Kokabauer die Präsidentenschärpe umgehängt bekam. Evo Morales hatte dabei Tränen in den Augen, die linke Faust erhoben und die rechte Hand auf dem Herzen. Morales schilderte, wie ihm in seiner ersten Zeit als Abgeordneter 1997 Schläge angedroht wurden, als er durch die Straßen der von den Reichen dominierten Innenstadt von La Paz zu Fuß zum Parlament ging.

In ihren Antrittsreden benannten Evo Morales und sein Vizepräsident Alvaro García dass, worüber vornehm zu schweigen bisher Konsens war: Den Ausschluß der jahrhundertelang diskriminierten, indigenisierten kleinbäuerlichen und proletarischen Bevölkerungsmehrheit aus dem Staat. In weiten Teiles des Landes, etwa auf dem kargen, unwirtlichen Hochland, dort wo ein Großteil der indigenisierten Unterklassen lebt, ist der Staat bisher bestenfalls mit rudimentär ausgestatteten Elementarschulen und Polizeiposten präsent. Wer arm und kleinbäuerlich lebt, gilt als Indigener. Wer es als Armer in die großen Städte des Tieflandes schafft, gilt als Mestize. Zusammen 85% der Bevölkerung, die bisher von den Zentren der Macht ausgeschlossen waren. „Wir wollen dem kolonialen Staat ein Ende bereiten“, erklärte Evo Morales: „Alle Bolivianer haben das Recht, besser zu leben, aber ohne andere zu zerstören oder der Sklaverei zu unterwerfen“. Das Land könne auf der Basis des Rohstoffreichtums entwickelt werden, so Morales: „Wenn wir es intelligent anstellen und das Vaterland lieben, wird Bolivien besser sein als die Schweiz“.

Dass seine Partei MAS, Bewegung zum Sozialismus, eher ein Zusammenschluss von sozialen Bewegungen ist, wurde neben seiner Nationaltümelei ebenfalls deutlich: „Dieses Parlament wird die Armee der nationalen Befreiung sein, der Schlacht für die zweite Unabhängigkeit. Wenn dass hier nicht getan wird, werden es die sozialen Bewegungen tun.“

Der Vizepräsident Alvaro García sass bis 1995 im Gefängnis, weil er in den 80er Jahren in dem mittlerweile aufgelösten indigenistischen EGTK, der Guerrillaarmee Túpac Katari, gekämpft hat. Es ist bekannt, dass er diese Zeit nicht bereut: „Nur meine Methoden sind heute anders“. Mit Schlips und Anzug zeigte er sich bei seiner Amtseinführung als Meister des geschliffenen Wortes: „Jetzt sind die indigenen Völker an der Reihe, die ehrenwertesten, die wahren Vertreter unseres Vaterlandes, die Leitung der Nation einzunehmen und uns auf einen Weg des Wohlstandes zu führen, einen Weg der Einheit und der nationalen Integration.“

Im Schlußsatz seiner Rede wurde einmal mehr das gleiche Changieren zwischen indigenistischer Identitätspolitik und einem antirassistischen Kampf gegen die Ausgrenzung der Unterklassen aus Staat und Gesellschaft deutlich: „Mit dem Kopf der indigenen Völker wird Bolivien groß sein, weil Bolivien alles ist, was wir haben, und Bolivien sind wir alle.“

Alvaro García hat dafür das Konzept eines „andinen Kapitalismus“ entwickelt: Starker Staatssektor, Förderung von Genossenschaften und kleineren Betrieben. Die Entwicklung des Landes und ein Aufbau sozialer Leistungen sollen durch eine höhere Besteuerung, gerade auch der internationalen Konzerne, die Rohstoffe fördern, und Einnahmen aus Staatsbetrieben finanziert werden.

Der „andine Kapitalismus“ bricht selbstredend nicht mit der Logik kapitalistischer Vergesellschaftung. Die parlamentarische Linke kann in Bolivien etwas Reichtum umverteilen und Zugang zu staatlichen Leistungen und Ressourcen für bisher davon Ausgeschlossene anstreben. Linke an der Regierung können der nationalen Bourgeoisie und internationalen Konzernen etwas wegnehmen, wenn die sozialen Bewegungen der Unterklassen den dafür nötigen gesellschaftlichen Druck aufbauen können.

Die Entgegensetzung von „Einfachheit und Radikalität“ sozialer Bewegungen kontra Neoliberalismus und Korruption von Regierungslinken, die eh nur Teil der Oligarchie sind, ist eine verkürzte Staats- und Kapitalismuskritik, welche die Fallstricke von Basisbewegungen ignoriert. Dem gegenüber gibt es etwa in Nicaragua eine notwendige Kritik der NGOs, die ja gemeinhin zu den Basisbewegungen gezählt werden. Die feministische Sandinistin Sofía Montenegro schrieb dazu in der nicaraguanischen Zeitschrift envío: „Die Repräsentation der NGO, mit ihren Hilfsgeldern, haben mit ihrer Arbeit nicht versucht, soziale Subjekte zu bilden, sondern soziale Klienten zu gewinnen, und haben eine fragmentierte und konkurrierende Repräsentation hervorgebracht.“

Der Kapitalismus mit seinem Zwang, sich zu verkaufen, wirkt eben auch in NGOs und Basisgruppen hinein. Der Staat als verdinglichtes gesellschaftliches Kräfteverhältnis ist für Linke schwieriges Terrain. Parlamentsmehrheiten spiegeln nunmal nicht den entscheidenden Teil der Machtverhältnisse wider. Die Eroberung der Staatsmacht ist keine Garantie für eine erfolgreiche soziale Revolution. Wenn die basisorientierte Linke aber programmatisch mit der Vorstellung der Nation und einem auf Anti-Gringo-Positionen verkürzten Antikapitalismus nicht bricht, bekommt die Emanzipation arg Schlagseite, so gut ihre Staatskritik auch sein mag.

Notwendig wäre es, sich die ökonomischen Rahmenbedingungen zu vergegenwärtigen, in denen sich linke Bewegungen und Regierungen heute abmühen - wie ausführlich in dem Buch „Postfordistische Guerrilla – Vom Mythos nationaler Befreiung“ nachgelesen werden kann. Linke haben, vereinfacht gesprochen, gegenwärtig zwei Alternativen, auf die postfordistische Reorganisation des Weltmarktes zu reagieren: Sie können sich für das Mitkonkurrieren entscheiden, für das gegenseitige Unterbieten von Peripheriestaaten in den Ausbeutungsbedingungen, der Schaffung von Freihandelszonen und anderem mehr. Sie kann aber auch von der fordistischen Illusion Abstand nehmen, daß mit der Eroberung des Staatsapparates der Kapitalismus überhaupt abgeschafft oder dessen Macht über zentrale Apparate gebändigt werden könne, und auf eine Gegenmacht von unten setzen.

Die einzige Hoffnung für Linke an der Regierung kann nur ein massiver gesellschaftlicher Druck durch radikale soziale Basisbewegungen sein. Gegen die kapitalistische Vergesellschaftung zu handeln heißt unter den heutigen Bedingungen, die Selbstorganisierung der Ausgebeuteten voranzubringen und mit allen Herrschaftsideologien und -verhältnissen zu brechen: Befreiung statt Nation, Kapitalismus und Patriarchat. Eine radikale Linke kann sich nur sich unabhängig von staatlicher Alimentierung entwickeln. Und genau das versucht beispielhaft die „Andere Kampagne“ des EZLN. Trotzdem gibt es keinen Grund, den EZLN nicht da zu kritisieren, wo er in dieselben Fallen tappt wie linke Regierungsparteien. Das Motorrad, mit dem er durch Mexiko zu den Versammlungen reist, hat Marcos „Sombraluz“ genannt: Schattenlicht. Warum so tun, als ob der EZLN das reine Licht der Erkenntnis verbreitet? Es ist ein Versuch, der eine ernsthafte Auseinandersetzung ohne Beschönigung verdient.

Originaltext: Direke Aktion Nr. 174 (März/April 2006, PDF). "Digitalisiert" von www.anarchismus.at


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