Gewalt
Ein Mensch, der, ohne die Geschichte unseres Geschlechtes zu kennen, Gelegenheit hätte, sich an den herrlichen Friedenswerken der modernen Gesellschaft, an den materiellen und intellektuellen Grosstaten der heute lebenden Generation, an den grossartigen Errungenschaften unserer neuzeitigen Kultur zu erfreuen und zu erheben, würde gewiss staunen über die ausserordentlich hervorragende Rolle, welche, aller Zivilisation ungeachtet, die Gewalt noch immer in unserem öffentlichen und privaten Leben spielt.
Wohin wir blicken, überall starren uns die Instrumente der Gewalt entgegen. In der Kinderstube die Rute, im Gerichtssaal das Richtschwert, und was dazwischen liegt, ist Kampf und Streit, ist ein heisses Ringen um die selten beneidenswerte Existenz. Mittelst der Rute soll die keimende Individualität den bestehenden Verhältnissen angepasst werden. Wenn aber der Versuch misslingt, wenn die Kollision unvermeidlich ist, dann tritt das Richtschwert in Funktion. Es vollendet die Arbeit, welche die Rute nicht zu vollbringen vermochte, indem es zerbricht, was nicht zu biegen war.
Wohin wir gehen — allenthalben vernehmen wir die Diktate der Gewalt. Denn unsere gesellschaftlichen und privaten Zustände und Einrichtungen sind solcher Art, dass es langwieriger, oft recht grausamer Dressur bedarf, um ein armes Menschenkind dermassen zu „zivilisieren", dass es in diese Einrichtungen hineinpasst. Der individuelle Wille kommt nur da in Betracht, wo er die Macht zu seiner Verfügung hat, den Diktaten der Gewalt zu trotzen, resp. selbst Gewalt zu üben.
Und was wir tun, wir tun es entweder unter dem Schutze der Gewalt, wodurch wir zur Vermehrung ihres Einflusses beitragen, oder wir tun es — offen oder heimlich — der Gewalt zum Trotz, stellen also der Gewalt die Gewalt entgegen. Gewalt ist die Losung des Tages. Aber nicht die Gewalt des kühnen Einzelnen, des Usurpators, des Tyrannen. Es ist die organisierte, systematisierte und legalisierte Gewalt der Massen, die Diktatur der Klugen, die die Gemeinschaftlichkeit ihrer Interessen zusammengeführt, es ist die Klassenherrschaft, die Herrschaft der besitzenden Klasse.
Unsere Zivilisation mit ihren materiellen und intellektuellen Schätzen ist zwar das Werk der ganzen Menschengesellschaft, aber die besitzende Klasse unserer Zeit hat die Möglichkeit ihrer Nutzniessung fast ausschliesslich für sich ursurpiert, ohne von derselben immer den richtigen Gebrauch zu machen. Weil nun aber in den Reihen der besitzlosen Klassen sich stets Elemente bemerkbar machen, welche mit der ihnen zugewiesenen Rolle als Arbeitstiere, intellektuelle Paupers und moralische Kretins keineswegs zufrieden, wohl aber entschlossen sind, an den Genüssen unserer reichen Kultur teilzunehmen, sehen sich die Herren der Welt genötigt, Gewalt anzuwenden, um sich und ihre Position gegen die Anmassungen des „Gesindels" zu schützen.
Weil die Machthaber Ursache haben, für ihr gestohlenes und geraubtes Eigentum zu fürchten, darum lassen sie der Proletarierjugend das „göttliche" Gebot einprügeln: „Du sollst nicht stehlen." Wenn die grossen Moralisten der Gesellschaft sich bemühen würden, die Ursache des Diebstahls, den Mangel, aus der Welt zu schaffen, wenn sie darauf verzichten würden, obiges Gebot tagtäglich in der umfangreichsten Weise selbst zu übertreten, wenn sie aufhören würden, den Diebstahl geschäftsmässig zu betreiben, dann bedürfte es bald keiner Gewalt mehr, um das Eigentumsrecht des Einzelnen gegen fremde Eingriffe zu schützen.
Solange jedoch der auf dem Wege der wirtschaftlichen Ausbeutung betriebene Diebstahl die ökonomische Grundlage der Gesellschaft bildet, müssen die Stützen der Gesellschaft die Resultate ihrer widerspruchsvollen Wirtschaft mit in den Kauf nehmen. Der Grossdiebstahl, die Beraubung des Volkes seitens der privilegierten Klasse, zieht den Kleindiebstahl, die Beraubung der Räuber durch die Beraubten nach sich, trotz „göttlicher" Gebote, weltlicher Gesetze und brutaler Gewalt.
Die Unwissenheit derer, welche die Gewalt der Gesellschaftsgötter zu befürchten haben, ist ein so wesentliches Moment in dem auf Gewalt gegründeten Gesellschaftssystem, dass seine Beseitigung dieses selbst in Frage stellen würde. Der natürliche Gegner der Unwissenheit ist das Wissen, welches seinem Widerpart auf dem Wege der Belehrung beizukommen sucht.
Da nun aber die herrschende Klasse ohne die Unwissenheit nicht zu existieren vermag, hat sie ein lebhaftes Interesse daran, die Belehrung derselben womöglich zu verhindern. und wenn sie auch auf diesem Gebiete mit Faktoren zu rechnen hat, die sich ihrer Kontrolle zu entziehen wissen, so fehlt es ihr doch keineswegs an Mitteln, den Lehrern des Volkes Hindernisse in den Weg zu legen, die der Tätigkeit und den Absichten dieser Leute nichts weniger als förderlich sind.
Indem die herrschende Klasse bestimmt, was der Jugend gelehrt und wie es ihr gelehrt werden soll, indem sie einesteils infolge ihrer ökonomischen Machtstellung und anderenteils mittelst politischer Demagogie, literarischer Brunnen Vergiftung und geistiger Nahrungsmittel Verfälschung auch die geistige Lebenshaltung der Volksmassen kontroliert, übt sie nicht minder Gewalt aus, als wenn sie ihre Opfer im Kerker begräbt.
Aber selbst in den Reihen der Besitzlosen spielt die Gewalt noch immer eine grosse Rolle. Die Gewalt verleiht dem Hauspascha die Möglichkeit, Frau und Kinder zu tyrannisieren. Wo kleinliche Meinungsverschiedenheiten durch sachliche Argumentation erledigt werden könnten, da werden nicht selten Vernunftgründe durch Faustschläge substitiert.
Und wenn die Denkenden unter den Arbeitern sich vereinigen, um ihre gemeinsamen Interessen gemeinsam zu vertreten, da sehen sie sich nicht selten genötigt, ihren weniger intelligenten oder schlecht unterrichteten Klassengenossen gegenüber Zwang anzuwenden, um ein geschlossenes, wirkungsvolles Vorgehen zu ermöglichen.
Gewalt ist der ausschlaggebende Faktor im modernen Gesellschaftsleben. Und dieser Faktor wird so lange ausschlaggebend sein, als die Daseinsbedingungen in der Gesellschaft Gegenstand der Spekulation sein können, also der Kontrolle der Gesellschaft entzogen bleiben.
Eine auf der Basis der Gleichberechtigung aller ihrer Glieder begründete Gesellschaft, die ihre Existenzmittel in ihrer Gewalt hat und keine Klassengensätze, keinen Grossdiebstahl und keine Bevormundung irgend welcher Art kennt, bedarf nicht der Gewalt, um existenzfähig zu bleiben. Die Interessengemeinschaft ist das Band, das ihre Glieder zusammenhält. An die Stelle der Gewalt tritt die Vernunft.
Aus: Der freie Arbeiter, 4. Jahrgang, Nr. 4, 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.