Der Sozialismus in der deutschen Arbeiterbewegung

I.

Es ist eine fast allgemeine Anschauung, dass der in der Arbeiterbewegung tätige Arbeiter auch Sozialist sei und sein müsse, Sozialist, als welcher wiederum ohne Weiteres ein Sozialdemokrat verstanden wird.

So kommt es, dass Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie nur als verschiedene Bezeichnungen derselben Sache angesehen werden, ein Umstand, der zu zahlreichen Missverständnissen führt.

Man hat sich daran gewöhnt, von einer Arbeiterbewegung schlechthin zu reden und man hat damit einen Fehler gemacht insofern, als es sehr verschiedenartige Bewegungen, oder richtiger: Bestrebungen sind, die dadurch trotz ihres teilweise grundverschiedenen Charakters in einen Topf geworfen werden.

Abgesehen von den unter nationaler Flagge segelnden Reformbestrebungen, wie sie in den alten Hirsch-Dunkerschen Ortsvereinen vertreten werden, abgesehen auch von den christlich-sozialen Bestrebungen, wie sie von einem nicht unerheblichen Teil der deutschen Bergarbeiter gepflegt werden, ringen in den sogen. „modernen" Arbeiterbewegungen zwei grundsätzlich durchaus verschiedene Strömungen um die Vorherrschaft: die politische und die wirtschaftliche oder gewerkschaftliche.

Nur dem Fernstehenden, der von dem langjährigen Ringen beider Richtungen nichts bemerkt, kann es scheinen, als sei letztere der ersteren willenlos untergeordnet, als seien die gewerkschaftlichen Organisationen nichts als Werkzeuge der politischen Körperschaften, etwa des sozialdemokratischen Parteivorstandes oder der Reichstagsfraktion; das ist zum Glück nicht der Fall, selbst dort nicht, wo persönliche Neigungen gewerkschaftlicher Organisationsleiter aus diesen oder jenen Gründen besonders parteipolitischen Idealen nachgehen.

Auf seiten der Nurpolitiker freilich gehen die Absichten vielfach dahin, aus der gewerkschaftlichen Armee der deutschen Arbeiter ein Hilfskorps für politische Kämpfe zu machen. Eduard Bernstein hat bei Gelegenheit einer Betrachtung über die misslungene belgische Wahlrechtesbewegung davor gewarnt, die von den Belgiern unglücklich geführte Waffe des Generalstreiks zu unterschätzen; er wies auf den Wert hin, den der Generalstreik etwa einmal für die Durchsetzung des allgemeinen Landtagswahlrechts in Preussen haben könne oder werde. Bernstein hat damit den Standpunkt vertreten, den die politischen Arbeiterführer dem wirtschaftlichen Kampf gegenüber einnehmen: dieser ist ihnen ein Mittel zur Erlangung politischer Macht, die Gewerkschaftsbewegung nicht viel mehr als ein Rückhalt in der Wahlkampagne.

Seit langer Zeit kämpft man von gewerkschaftlicher Seite gegen diese Anschauung an. Trotz der Vernachlässigung, welche seit dem Umsichgreifen von Wahlagitation und Parteikampf die gewerkschaftliche Organisation betroffen, hat es nie an Stimmen gefehlt, die auf die überragende Bedeutung des wirtschaftlichen Kampfes hinwiesen.

Grosse Berufsverbinde stehen infolge solcher Meinungsverschiedenheiten mit der politischen Führerschaft auf gespanntem Fusse. Bekannt ist die unausgesetzt schwelende, ab und zu grimmig losbrechende Polemik für und gegen den deutschen Buchdruckerverband, und wenn auch gerade diese Organisation ihre Ziele nicht eben hoch steckt und gewiss nicht den Weg genommen hat, der geeignet ist die Arbeiter zu befreien und aus der Lohnknechtschaft zu erlösen, so ist sie doch in nüchterner Verfolgung ihrer Interessen immer noch in ansteigender Linie geblieben, wahrend der Partei eines nach dem anderen ihrer hochgesteckten Ziele verloren ging auf dem Wege in die parlamentarische Wüste.

Aber auch in weiten Kreisen anderer Arbeiterverbände herrscht Unzufriedenheit über allerlei Rücksichtnahme auf die politische Partei und macht sich häufig genug in heftigen inneren Kämpfen bemerkbar.

Beiden Richtungen in der deutschen Arbeiterbewegung gemeinsam ist der Mangel des sozialistischen Zieles. Der Sozialismus ist dem deutschen Arbeiter sprachlich sehr geläufig, wirklich aber etwas Unbekanntes. Und obgleich seit mehr als drei Jahrzehnten eine ungeheure Summe von Arbeit darangesetzt worden ist, die deutsche Arbeiterklasse zur Entwicklung und Verstärkung einer im Namen des Sozialismus begründeten Partei heranzuziehen, ist ihr doch das Wesen des Sozialismus heute so unbekannt wie nur je.

Die im Dienste der deutschen Arbeiterpartei unternommene Schulung der deutschen Arbeiter, häufig — und oft nicht mit Unrecht — gerühmt, beschrankt sich ausschliesslich auf formelle Fragen des politischen Gebietes. Über die Fragen des Wahlrechts und der Gesetzgebung, des Zollsystems und selbst der höfischen Diplomatie ist der Sozialdemokratie einigermassen orientiert, und wenn das an sich nicht gerade als überflüssig angesehen zu werden braucht, — schlimm und gefährlich ist die Schattenseite dieser Tatsache: dass der deutsche Arbeiter fremd und hilflos den Fragen gegenübersteht, welche die Umwandlung der gegenwärtigen, der sogenannten kapitalistischen Wirtschaftsweise in andere, vernünftige und Allen gerecht werdende Formen betreffen. Obgleich der von Karl Marx und Friedrich Engels, den geistigen Vätern der deutschen Arbeiterpartei, gelehrte ökonomische Materialismus die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft als bestimmend für den ganzen staatlichen, sozialen und ethischen Aufbau derselben hinstellt, eine Lehre, deren Einseitigkeiten und Unrichtigkeiten hier ausser Betracht bleiben können, — sind die führenden Anhänger dieser Lehre nur in sehr bescheidenen Grenzen tätig gewesen, die wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft vorzubereiten.

Die Sozialdemokratie hat vermocht, das Volk für das demokratische Ideal aufzurufen, — sie hat es unterlassen, den deutschen Arbeitern die Grundlehren des Sozialismus nahezubringen. Die deutsche Gewerkschaftsbewegung, soweit sie selbständig, unabhängig von der politischen Bewegung geblieben ist, hat ihre Aufgabe darin gesehen, die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse zu heben oder doch wenigstens vor weiterem Niedergang zu bewahren. Je nach Zeit und Umständen haben die Gewerkschaften durch Lohnkämpfe oder — besonders in neuerer Zeit, angesteckt durch den politischen Opportunismus — auf dem Wege tariflicher Vereinbarung Vorteile zu erringen gesucht, die für den Augenblick gewiss oft einen erfreulichen Gewinn brachten, die aber nichts weniger bedeuteten als ein Vorwärtsrücken auf dem Wege zum Sozialismus.

Die Organisationen der deutschen Arbeiter, die auf Grund ihrer numerischem Stärke einen gewaltigen Einfluss für die Verbreitung sozialistischen Ideen ausüben könnten, sind weit davon entfernt, mehr zu erstreben als mässige Erhöhungen der Löhne und bescheidene Verkürzung der Arbeitszeit gewiss zwei gute Dinge, aber vom sozialistischen Standpunkte angesehen schliesslich nur haltlose Pflaster auf dem Riss der gesellschaftlichen Gegensätze.

Nichts gibt es im Rahmen der deutschen Arbeiterbewegung, das notwendiger und wichtiger ist, als die Interessierung der Arbeiter für das Um- und Neuformen auf wirtschaftlichem Gebiete, als die Verbreitung sozialistischer Grundlehren.

II.

„Das zwanzigste Jahrhundert wird die Ära der Föderationen eröffnen oder die Menschheit wird wiederum in ein tausendjähriges Fegefeuer hinabstürzen. Das wahre Problem ist in Wirklichkeit nichtmehr das politische, sondern das ökonomische." Im Jahre 1863 schrieb Proudhon diesen Satz in seinem „Principe federatif" nieder. Das schmähliche Fiasko der durch die Februarrevolution des Jahres 1848 ans Ruder gelangten Demokratie, die sich unfähig zeigte, die ökonomischen Forderungen, welche in dieser Revolution eine ausschlaggebende Rolle gespielt, ihrer Erfüllung auch nur um Haaresbreite in nähern, war entscheidend für die völlige Klärung seiner antipolitischen Ideen gewesen. Es ist ein Beweis der Ruhe und des Scharfblicks des grossen Franzosen, dass er den Beginn der allgemeineren Wirkung seiner Prinzipien auf ein halbes Jahrhundert hinaus taxierte.

Die deutsche Arbeiterbewegung, in der die Feldzeichen der Freiheit bei jeder Gelegenheit stolz geschwungen werden, weiss gleichwohl nichts von den Ideen Proudhons, der den Sozialismus auf der Freiheit begründet wissen will, der dem Wohlstand Aller die Freiheit des Einzelnen voraussetzt. Lassalle, der Wecker des deutschen Proletariats, beschwor den unheilvollen politischen Rausch der Demokratie herauf, Marx, welcher vor allen anderen der erwachenden Bewegung den geistigen Gehalt gab, bannte sie, durch intolerantesten Doktrinarismus jede gesunde Entwicklung auf Jahrzehnte hinaus lähmend, in die Form eines starren Zentralismus; es wird, wenn die Lethargie der deutschen Arbeiterbewegung sieh endlich zu lösen beginnt, die Aufgabe aller Freunde einer freien Kultur sein, den Ideen Proudhons Geltung zu verschaffen.

Der Marxismus mit seiner Lehre von der automatischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zur „Expropriation der Expropriateure" musste, nachdem eine Anzahl geschickter Parteiführer die Massen damit gewonnen, auf die Gemüter eine geradezu einschläfernde Wirkung ausüben. Was sollte man tun, wenn die Entwicklung der Dinge ja doch sicher dem Untergang des Kapitalismus entgegenging?

Wir müssen die Klinke der Gesetzgebung zu ergreifen bestrebt sein - antworteten zunächst die Parteiführer - um bei dem grossen Kladderadatsch glatt und sicher die Leitung des Staates des Bourgeoisie entreissen zu können. Für „Staat" setzte man anfangs „Gesellschaft", und an Stelle der heutigen „praktischen Mitarbeit" im Reichstag wie in den Landtagen, im Gemeinde- wie im Kirchenrat, pflegte man die, je nach Zeit und Umständen offene oder gedeckte Propaganda der sozialen Revolution. Es gab eine Zeit, wo die Führer der Sozialdemokratie, wenn man ihnen revolutionäre Tendenzen vorwarf, nicht, das Gegenteil beteuernd, an ihre Brust schlugen. Und gerade in dieser Zeit war der faktische Einfluss der Partei am stärksten. Allein der Kladderadatsch kam nicht zur vorausberechneten Zeit, die revolutionäre Phrase begann lächerlich zu werden, das „Brüllen auf Kommando" erscholl immer seltener, längst war zu hören, dass nicht Löwen es verübten: und heute steht die deutsche Arbeiter-Partei staatserhaltend wie die anderen da, einzig durch stärkere Bockbeinigkeit in der Opposition sich von ihnen unterscheidend.

Die Beschränkung der Parteitätigkeit auf die politische Mitarbeit hat bei allen numerischen, Stimmkasten-Erfolgen, und bei Erzielung aller möglichen staatlichen Reformen den nicht zu verschmerzenden Nachteil bewirkt, dass die deutschen Arbeiter noch heute ökonomischen Problemen so indifferent gegenüberstehen wie je. Und wenn hier und dort das Interesse an ökonomischen Fragen zu erwachen beginnt, wenn die Experimente, auf wirtschaftlichem Gebiete in sozialistischem Sinne neue Formen zu schaffen, allmählich auch in sozialdemokratischen Kreisen Beachtung und Teilnahme sich erzwingen, geschieht es trotz der stillen oder gar ausgesprochenen Verachtung marxistischer Doktrinäre.

Die Ära der Föderationen ist die Ära des freien Sozialismus. Erwartet der marxistische, der demokratische Sozialismus vom Zentralismus eine demokratisch-autoritäre Neu-Regelung der Produktions- und Konsumtionsverhältnisse, so will der freie Sozialismus vor allem die Initiative des Einzelnen so weit nur möglich gewahrt wissen; Dezentralisation, Auflösung der staatlichen Macht, Selbständigkeit der Produktionsgruppen, allseitige Bewegungsfreiheit in der Produktion wie im Waren - Austausch.

Die moderne Genossenschaftsbewegung mit ihrer durch eigene Hilfe geschaffenen Organisation wirtschaftlicher Interessengruppen hilft nicht wenig die Arbeiterbewegung aus der Stagnation erheben und an Stelle  der unentwegten politischen Negation verständige Tätigkeit auf dem Gebiete neuer wirtschaftlicher Formen setzen.

Noch liegt auch die deutsche Gewerkschaftsbewegung im Banne des Zentralismus, der, je fester er seinen Ring geschlossen, um so entschiedener alle wirtschaftlichen Aktionen gehemmt hat. Die Ära der Föderationen ist gekommen, wenn der feste Ring dieses Zentralismus gesprengt ist. Der Arbeiter wird dem freien Sozialismus leicht gewonnen sein, wenn er durch die von seinen fortgeschrittenen Kampfgenossen geschaffene Neuordnung von Eigentums-, Produktions- und Austausch-Verhältnissen zu der Erkenntnis gedrängt wird, dass nicht über Nacht, mit grossem Kladderadatsch oder mit gemütlicher, freundlicher Übereinstimmung der feudalen und bourgeoisen Fossilien das Schlaraffenland etabliert wird, sondern dass es seiner Hilfe und seiner Intelligenz selbst überall und schon jetzt bedarf, um eine freie und ihm gerecht werdende Gesellschaftsordnung zu schaffen.

Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 13 und Nr. 14, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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