Der Anarchismus in der Schule

Bei Beurteilung dieses Aufsatzes ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Verfasser selber Lehrer ist, dass er nicht auf umfassendes theoretisches Wissen Anspruch machen kann, und dass er nie länger als für ein paar Tage die Grenzen seines Heimatlandes, der Schweiz, überschritten hat. Er kennt die Licht- und Schattenseiten seines Berufs und hofft, man werde es ihm nicht als dünkelhafte Berufseitelkeit auslegen, wenn seine Meinung dahin geht, man habe in der bisherigen theoretischen Behandlung anarchistischer Fragen die Bedeutung der Schule fast ignoriert, auf jeden Fall viel zu nebensächlich behandelt.

Auch der verbissenste Anhänger der in meinen Augen scheusslich blöden materialistischen Geschichtsauffassung wird zugeben müssen, dass der Mensch eben doch nicht bloss ein Stück Materie, im Sinne eines Steines z.B. ist. Gewiss wird er durch die Verhältnisse gewaltig beeinflusst; aber das, was wir nun einmal als "Geist" bezeichnen, — es mag nun im übrigen seinen Grund haben worin es will, — spielt eine bedeutende Bolle. Den Menschen bilden Heredität und Milien. Gut, aber er vermag auch sein Milien in weitgehendem Masse zu beeinflussen. Und auch all das, was man von der Vererbung weiss, dürfte über die Bedeutung einer höchst wahrscheinlichen Hypothese doch nicht sehr weit hinausgehen.

Ohne Zweifel gilt es, die ökonomischen Verhältnisse von Grund aus umzubauen; aber eben so wichtig scheint mir das Heraufkommen und Heranwachsen eines neuen, anders denkenden Menschengeschlechts. Dies betont zu haben, scheint mir das Hauptverdienst Nietzsches zu sein. Freilich denke ich dabei nicht an eine Züchtung im plump zoologisch-darwinistischen Sinne. Vielmehr dürfte es sich hier um eine Verfeinerung und Erhöhung der Psyche handeln, von der ich mir vieles verspreche. Denn trotz Lotzes Meinung, dass der Geist ein Schmarotzer des Körpers sei, glaube ich, dass ein hochstehender, feinfühlender, seelischer Organismus sich recht wohl mit einem kräftigen, gesunden Körper vertragen kann, wenn nicht spitzfindig tüftelnde Spezialisierung mit geistiger Reife und Blüte verwechselt wird.

Neue „Menschen" in dem genannten Sinne, wenn nicht zu schaffen, so doch deren Erstehung zu fördern, darin sehe ich die Hauptaufgabe der Schule und hierin liegt auch die weittragende Bedeutung der Schule für unsere anarchistische Lebensaufgabe.

In unseren Tagen ist alles reguliert, reglementiert, durch Tausende von Vorschriften, Gesetzen und Gesetzlein eingeengt und eingezwängt. Ein freies Atmen ist kaum mehr möglich. Unser Ziel ist aber die Freiheit, schrankenlose Freiheit. Nur in ihr können geistig höherstehende Menschen ihre Kräfte entfalten, was in ihnen liegt zum Besten aller ausreifen und hervorbrechen lassen. Es ist ein Irrtum, zu wähnen, unsere Gesetze seien es, die die Mehrzahl der Menschen von verbrecherischen Schritten im engeren und weiteren Sinne abhalten. Ach, die Gesetze! Wer ein einigermassen heller Kopf ist, und wer auch nur das geringste Interesse daran hat, der umgeht sie mit Leichtigkeit. Auch ist es ein alter Witz, dass alle unsere Paragraphen in letzter Linie doch nur zu Gunsten einer privilegierten Klasse, wie zur Unterdrückung einer minder berechtigten gemacht sind. Nur eine Fessel soll den Menschen binden, und sie wird es auch tun, ob alle Polizei- und andere Schranken fallen: die klare, helle Vernunftseinsicht jedes Einzelnen. Sie wird ein zuverlässiger Schutz sein für das Individuum, weil sie nicht auf roher Gewalt basiert, sondern auf jenem Elemente, das den Menschen emporhebt über die Tierwelt, der er doch, leider, noch in gar vielen Punkten scheusslich nahe steht.

Sicher ist aber, dass nicht jeder imstande ist, die Last der Freiheit zu tragen. Nietzsches Ausspruch, dass mancher seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Knechtschaft wegwarf, ist nicht bloss ein glänzendes Paradoxon. Nicht die Knechtung an und für sich ist das Verderbliche, sondern der Knechtessinn, die Sklavengesinnung, die durch sie grossgezogen wird. Nur ein Leben in voller Freiheit heisst Leben. Zu einem solchen Leben aber ist vieles nötig, was heute nur den Wenigen und Wenigsten bekannt ist. Aufgabe der Schule ist es daher, nicht an „stramme Disziplin", wie der militärstumpfsinnige Ausdruck lautet, zu gewöhnen, sondern zu einem Leben in der Freiheit und für die Freiheit zu erziehen.

Gewisse Eigenschaften sind zum Dasein im blendenden Lichte der Freiheit vollkommen unerlässlich. Ich meine vor allem Klarheit, eine Klarheit, so lauter und golden wie die Sonne. Dieser herrlichen Eigenschaft können sich die Heutigen nicht erfreuen, weil ihnen nichts weniger als die Grundbedingungen, unter denen jene erwachsen, fehlen und fehlen müssen. Mut, Stolz und Aufopferungsfähigkeit für grosse Ziele, Menschen, Ideen, also Selbstlosigkeit in einem bisher noch kaum geahnten Masse, Fernstenliebe, nicht Nächstenliebe sind die Wurzeln, aus denen jene Stütze der Freiheit emporwächst. In der Jugend, dem wachsenden und strebenden Teile der Menschheit, gilt es, all dies Herrliche zu wecken. Sie soll ihren geistigen und körperlichen Mut erproben und stählen in mannigfaltigem Kampfe. Nichts sei ihrem prüfenden Angriff vorenthalten. Nichts sei vor allem dem Bereich ihrer suchenden Fragen entzogen. Nichts Heiliges soll es geben, vor dem das hell und offen ins Leben sehende Kinderauge scheu sich senken müsste. Licht flute herein in erwärmenden Strömen, und Krieg sei erklärt allem Halbdunkeln, Verschwommenen, Unklaren.

Freilich gibt es Fragen, deren Beantwortung nicht nur Kindern, sondern auch den Reifen schlechterdings unmöglich ist, wenn man nicht mit plump-täppischem Hiebe den Knoten durchhauen will. Da lehrt sie suchen und denken, schon die Kleinen. Zeigt ihnen die Wege, auf denen sie später selbst fortzustreben vermögen, fort und vorwärts, dem Feuer, der Wahrheit entgegen. Aber lehrt sie auch erkennen, dass vor Unübersteigbarem Halt machen noch lange nicht feige sein heisst. Lehrt sie, dass es Stolz und nicht Bescheidenheit, diese in unserem heutigen Gebrauchssinne so eklig kriecherische Tugend ist, die uns vor Überlegenen die Waffen strecken lässt. Lehrt sie, freudig, zukunftsfroh dem zujubeln, der, wenn auch auf scheinbar abstrusem und pietätslosem Wege nach Erkennen, nach dem Morgenrot ringt. Sie sollen sich freudig, nicht wie kriechende Hunde, nicht als elende Sklaven, vor dem wahrhaft Grossen beugen lernen. Dies erst ist wahre Gerechtigkeit, jene Gerechtigkeit, die nicht nur dem Kleinen sein Teil lässt, sondern vor allem auch einsieht, was dem Grossen, dem Überlegenen zukommt.

Glaubt wohl jemand ernsthaft, dass nach Verwirklichung unserer Ideale, das Leben nichts Schweres mehr bieten könne? Ich unterstehe mich nicht, jemanden für so unvernünftig zu halten. Nein, auch wir werden das Leben nicht unerträglich langweilig machen können. Das wäre es aber, wenn ihm die Würze des Leides und Kampfes genommen würde. Der Kampf soll, und er wird bleiben. Nur wird es kein Kampf von Bestien um Bestienbedürfnisse mehr sein. Um Edleres, als bisher verehrt wurde, wird man sein Leben zu Markte tragen. Das Leben wird schwer bleiben. Und diese Erkenntnis soll nicht getötet werden. Im Gegenteil, schon in der Schule soll an die Stelle des heutigen, sumpfigen Gemütlichkeitsoptimismus ein kampflustiger, überwindungsfroher Pessimismus treten. Das Lachen auch soll heilig gesprochen werden wie die Lehre von der Schwere des Daseins. Zu einem Samenkorn soll der werden, aus dem die Freude am Atmen, trotz des Leides, selbst um des Leides willen, stets aufs neue kräftig emporkeimt. (Nietzsche.)

Zeigt der Jugend, wie der Genuss des Grossen, Schönen, Herrlichen in der Wert die Welt unvergleichlich schön macht. Lehrt sie, dass wir keine Zeit haben, an jenseitigen Wolkenkuckucksheimen zu bauen, dass es gilt, der Erde zu leben, auf ihr dem Paradiese entgegenzuarbeiten. Weckt Mut und Stoltz, dass sie den blutlosen Neid, die krämerhaft scheele Kleinlichkeit in Grabe tragen helfen. Gross soll der Mensch vom Menschen denken lernen! Nicht soll er in ihm, wie es trotz alles Geschwätzes von christlicher Gesinnung heute geschieht, eine gehässige Bestie erblicken. Nicht als ob man sich so ausdrückte, bewahre! Dazu fehlt ja der warme Mut der Ehrlichkeit: aber man handelt in diesem Sinne.

Mit dem Alten, dem Urphilisterium, ist wenig mehr anzufangen. Aber die Jugend, die doch zum Teil noch frisch und empfänglich ist, die gilt es zu gewinnen, wenn unsere Ideen Raum und Aussicht auf Verwirklichung gewinnen sollen. Der sogenannten „Elternliebe", die an grausamer Tyrannei, besonders auf geistigem Gebiet, oft das Höchste leistet, heimkommen, dürfte schwer halten; denn die alleinseligmachende Papa- und Mamaoberhoheit duldet keine ketzerischen Eingriffe in ihr Reich. Sind aber die Jungen erst der engsten Haft entronnen, dürfen sie es wagen, ihr Gehirn seinen eigenen Gedankengang gehen zu lassen, dann sind sie eben meist geistig schon so verkrüppelt, wie ihre besorgten Erzeuger.

Suchen wir in die Schule einzudringen. Freilich wird es manchen harten Strauss mit Behörden und Behördchen setzen; mancher wird sein Leben kümmerlich fristen, um Amt und „Würde" (?) kommen müssen; aber das wissen wir doch schon lange, dass wir das Land erkämpfen müssen, ohne auf die geringste Schonung von Seiten des Gegners rechnen zu können oder auch nur zu wollen. Wir lassen uns nicht abschrecken. Für die Zukunft, für die Fernsten arbeiten wir, dass ihnen eine hellere Sonne leuchten möge als uns, die wir in mürrischer Dämmerung sehnend nach dem Lichte ringen. In diesem Ringen aber erwächst der Schule eine grandiose Aufgabe, an die zu denken den „Schulmännern" unserer Zeit allerdings auch noch nicht im Traume einfallt.

A.

Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 12, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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