Augustin Souchy - Mein Besuch bei Peter Kropotkin

Nach Beendigung des II. Kongresses der Komintern, im Sommer 1920, an dem ich als Gastdelegierter der deutschen Anarchosyndikalisten (FAUD) teilnahm, sollte ich endlich den grand old man persönlich kennenlernen, dessen Werke mir soviel bedeuteten und über dessen Herzensgüte und gewinnendes Wesen mir gemeinsame Freunde so viel berichtet hatten. Der Besuch bei Peter Kropotkin war der Höhepunkt meiner halbjährigen Rußlandreise. Sein Buch "Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur" hatte ich mir mitgenommen. Das gab mir die Möglichkeit, während meines fünftägigen Aufenthalts in seinem bescheidenen Häuschen in Dmitrov bei Moskau durch die Gespräche mit ihm meine Kenntnisse über dieses Thema zu vertiefen. Der Empfang war herzlich noch ehe ich ihm den Empfehlungsbrief von Rudolf Rocker übergeben hatte. Welch ein Kontrast zwischen Kropotkins warmer Menschlichkeit und dem kalten Machtmenschen Lenin!

Im Gespräch mit Kropotkin erhielten die Revolutionsprobleme humane Züge. Beim siedenden Samowar erzählte mir der Alte von seinen Deutschstunden im fürstlichen Elternhaus. Trotz seiner 79 Jahre erinnerte er sich noch an die Worte des Goetheschen "Erlkönigs". Als er sich erhob und, leicht auf- und abschreitend, in fließendem Deutsch zitierte: "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind" - stand ich unter dem magischen Eindruck, einen leibhaftigen Erlkönig vor mir zu haben.

Am meisten beschäftigte uns das Schicksal der russischen Revolution. Peter Alexejewitsch beklagte sich bitter über die Machtkonzentration in den Händen der kommunistischen Partei und über die diktatorischen Regierungsmethoden. Freie Soviets gebe es nicht mehr. In dem kleinen Dmitrov seien praktisch nur die Belegschaften der wenigen Betriebe berechtigt, Delegierte in den Lokalsoviet zu wählen, wobei die Wahlen noch manipuliert würden. Er selbst habe nicht die Möglichkeit, über die öffentlichen Angelegenheiten mitzuberaten und mitzubeschließen.

Kropotkin sagte weiter, Rußland benötige autonome Gemeinderäte, freie Kommunalsoviets, die sich in ihren Kreisen und Gauen zum gegenseitigen Nutzen frei zusammenschließen. Freie Vereinigungen selbständiger lokaler Einheiten (Gemeinden) seien viel besser imstande, die gemeinsam interessierenden Probleme zu lösen, als ein staatlich zentralisierter Verwaltungsapparat. Das zeige sich besonders in Zeiten schlechter Ernte, wenn Versorgungsschwierigkeiten auftreten.

Er habe Lenin vorgeschlagen, freie Föderationen von Kantonalverbänden zuzulassen, doch seine Anregung sei nicht beachtet worden. Lenin behaupte, das Ziel der Kommunisten und der Anarchisten sei letztlich das gleiche; er selbst aber sei anderer Meinung. Unter der gegenwärtigen Parteidiktatur werde die Staatsmacht nicht abgebaut, sondern mehr und mehr verstärkt. Halte diese Tendenz an, dann entferne sich Rußland immer mehr von den ursprünglichen Zielen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, den Idealen der grossen Französischen Revolution, die nach einem Jahrhundert Entwicklung der sozialistischen Bewegung zu erfüllen die Russische Revolution berufen sei. Das russische Volk habe sich durch die Revolution von der zaristischen Zwangsjacke befreit, doch die kommunistische Partei lege ihm eine neue Zwangsjacke an.

Als ich mich von ihm, seiner Frau Sophie und seiner Tochter Sascha verabschiedete, sagte er: "Wir werden Freunde bleiben, das fühle ich". Fünf Monate später starb er, kurz vor der Vollendung seines achtzigsten Lebensjahres. Sein Ideal, "an Stelle eines vom Kreml beherrschten autokratischen Riesenreiches eine Föderation freier Gemeinden und freier Städte erstehen zu lassen", ist nicht Wirklichkeit geworden.

Post scriptum, 1980  

Vor kurzem wurde mir die Frage gestellt, ob Kropotkins Ideen nicht von der Entwicklung überholt sind. Ich erwiderte: im Gegenteil, Kropotkins Ideologie hat die Zukunft für sich; sein kommunistischer Anarchismus wird sich, in einer Revolutionsepoche rascher, bei ruhiger Entwicklung langsamer, durchsetzen. Hierzu einige erklärende Bemerkungen:

1. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Thomas H. Huxley wies Kropotkin auf die gegenseitige Hilfe hin, die, seiner Meinung nach, im Kampf ums Dasein im Darwinistischen Sinne für die Existenz der Menschheit von größter Bedeutung ist. Diesem Thema widmete er ein besonderes Buch, das den Titel trägt: "Gegenseitige Hilfe". Die in dieser Schrift dargelegten Gedanken haben Wert für die Gegenwart und Zukunft.

2. Kropotkins Warnung vor dem Verfall der Revolution durch die Diktatur hat sich bewahrheitet. In Rußland zeigte sich das Trügerische der marxistischen Postulate. Kropotkins Ideen einer freien, sozial gerechten Gesellschaftsordnung, die zum Teil während des spanischen Bürgerkrieges verwirklicht worden waren und heute in den israelischen Kibbuzim praktiziert werden, sind wegweisend für die Zukunft.

3. Die Ideale Kropotkins sind praktisch leichter durchführbar als ein gesetzlich zwangsweise eingeführter Staatssozialismus, der nichts anderes als ein maskierter Staatskapitalismus ist. In seinen Schriften "Die Eroberung des Brotes", "Gesetz und Autorität", "Die historische Rolle des Staates", "Der moderne Staat", "Die Entwicklung der anarchistischen Ideeen", "Syndikalismus und Anarchismus", in seinem Aufruf an die Jugend und in seinem letzten Werk über die "Ethik" entwickelte er Gedankengänge, die als Wegweiser für die Zukunft gelten können.

Eine spezifisch anarchistische Massenbewegung gibt es heute nicht, doch Kropotkins antiautoritäre Ideen erfassen immer weitere Kreise der freiheitlich sozialistischen Jugend.

Aus: Peter Kropotkin - Unterredung mit Lenin sowie andere Schriften zur russischen Revolution, Verlag „Die Freie Gesellschaft“, Hannover 1980. Gescannt von anarchismus.at


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