Persönliche Erinnerungen an einen Freund

"Ich bin mir klar, mit meiner anarchistischen Auffassung, das wird sich nicht von heut` auf morgen vollziehen. Das ist ein langer Prozeß. Als ich 30 Jahre alt war, dachte ich, in diesem Jahrhundert, und heute, da ich 90 bin, geb` ich mir Rechenschaft darüber, wie die Entwicklung weitergeht, und ich denke, es wird noch ein weiteres Jahrhundert vergehen, ehe die Ideale verwirklicht sind, für die ich mich immer eingesetzt habe. Und da mach` ich, soweit es möglich ist, mit. Meine Gesundheit läßt es zu, meine Augen sind schlecht, aber irgendeine Kleinigkeit hat jeder mal, wenn er alt wird." (Augustin Souchy, Herbst 1982)

Am ersten Januar dieses Jahres ist Augustin Souchy gestorben. In einem Münchner Krankenhaus, an Lungenentzündung. Mit ihm starb nicht der große Mann des deutschen Anarchismus, wie vielleicht einige sagen werden, der Theoretiker, der anarchistische Analytiker, der er nie war. Eher der Chronist, der "Student in Sachen Revolution" wie er sich selbst manchmal scherzhaft nannte. Aber auch das ist zu kurz gegriffen. Anarchismus war für ihn eine Lebenshaltung und eine Bewegung, der er sich ein Leben lang verpflichtete, als Delegierter, als Journalist, als Sekretär, als Redner und Vortragsreisender - und nicht zuletzt als Mensch.

"Die Tat geht dem Wort voraus" - für einen Schriftsteller, gerade für einen anarchistischen, ein schwerwiegendes Paradoxon. Und dennoch ist es gerade dieser Satz, der sein Leben konkretisiert: einundneunzig Jahre Kampf - ein knappes Jahrhundert Niederlagen. Was bleibt da übrig? Wie läßt sich das Alter leben?

Ist es sinnvoll, die Stationen seines Lebens aneinanderzureihen? Seine Begegnungen mit Landauer noch vor dem ersten Weltkrieg, die frühen Reisen ins revolutionäre Rußland in den 20er Jahren. Seine Zusammenarbeit mit Erich Mühsam und Rudolf Rocker in der FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschland) und der IAA (Internationale Arbeiter Assoziation). Ist es sinnvoll, Reflexionen anzustellen über die Jahre im Pariser Exil, über seine Rolle im Spanischen Bürgerkrieg als Pressesprecher der Anarchosyndikalisten. Über seine Flucht nach dem Sieg des europäischen Faschismus nach Mexiko, seine Streitereien mit Fidel Castro in Cuba, seine Gespräche in Israel mit Martin Buber, seinen Einsatz bei der Revolution der Weißen Nelken in Portugal...

Am Ende das Resümee: viel erstrebt, wenig erreicht. Und dennoch: "Weißt du, früher dachte ich in Jahrzehnten, heute in Jahrhunderten. Die Geschichte wird uns letztendlich doch Recht geben!"

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Hörsaal 2014 in der Freiburger Uni. Zwei Stunden lang hat Augustin Souchy geredet über die großen sozialen Bewegungen dieses Jahrhunderts. Die geschilderte Vergangenheit bekam eine fast spürbare Nähe. Dieser lebendige Eindruck entstand weniger über die Art der Schilderung als über die Präsenz von Augustin. Die unprätentiöse Art, wie er von der Verwirklichung seiner Idee sprach, machten mich neugierig. Und diese Neugier ließ den Wunsch aufkommen, ihn kennenzulernen, vielleicht sogar einen Film mit ihm zu machen. Ich wollte ihn treffen und fuhr deshalb nach München, wo er nach Aufgabe seines langen mexikanischen Exils lebte.

Leonrodstraße. Im fünften Stock eines Industriebaus der 50er Jahre. Hochgezogen in der Zeit des konjunkturellen Aufschwungs. Von außen wie von innen an ein erstarrtes Wohnheim erinnernd. Kalt, grau. Kommunikationslos.

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Als ich dann zum ersten Mal seine Wohnung betrete, habe ich keine Sekunde das Gefühl, als Fremder einzutreten. Kein Eindringen in die behütete Privatsphäre kennzeichnet unsere erste Begegnung. Er empfängt mich als Freund, obwohl er mich nicht kennt, akzeptiert mich als Genossen, dem seine Tür immer offen steht. Es ist nichts Besonders, daß Leute kommen.

Er sitzt hinter einer elektrischen Schreibmaschine, die ihm Studenten aus Nürnberg nach einem Vortrag geschenkt haben. Neben ihm eine riesige Leselupe fest montiert auf einem Ständer. Er sieht schmächtig aus. Asketisch, zäh. Im Profil fast wie ein Vogelmensch, mit seiner charakteristischen Nase und seinem Hals. Er verschwindet fast in seinem Anzug, der ihm, na sagen wir, drei Nummern zu groß ist. Ich würde ihn, so wie er dasitzt, nie älter als 70 Jahre schätzen, und doch ist er bald 90 Jahre alt. Er wirkt sehr konzentriert, sehr ruhig und doch auf eine gewitzte Art sehr munter, fast schelmisch gespannt, auf den, der da wohl kommt.

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Zwei Dinge fielen mir sofort beim Eintritt in seine Wohnung auf. Erstens die vielen Bücher an den Wänden. Eine Gebrauchsbibliothek. Keine Zierde, kein Einrichtungsmobilar. Keine Bücherrücken, verstaubt und unberührt. Fast in jedem Buch steckte ein Zettel, abgegriffen, lose Blätter und Broschüren, Notizen, Zeitungsartikel. Und mit allem, was dort stand, verband er eine Geschichte.

Und zweitens, daß das, was sein Badezimmer sein sollte, nicht viel größer war als die Badewanne. Und für das hast du Mexiko verlassen, bist zurückgekommen in ein Land, das du nie besonders gemocht hast, dem du fast 40 Jahre Exil verdankst?

"Hätte ich einen schönen Lebensabend gewollt, dann wäre ich in Mexiko geblieben, da hast du Recht. Dort ist das Klima optimal. Es ist nie zu heiß, es regnet selten und doch ist das Land nicht ausgetrocknet. Aber ich denke hier mehr gebraucht zu werden, mich hier nützlich machen zu können. Deshalb bin ich zurückgekommen."

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Er war sich seines Alters sehr bewußt, ging damit verblüffend klar um. Zeit wurde als Faktor anerkannt, sie zu verlieren oder zu vertun als schrecklich empfunden. Auch der Gedanke an den Tod war ihm nicht fremd. Er verdrängte ihn nicht. In diesem Zusammenhang erzählte er gerne mit Schmunzeln die Geschichte, daß er bereits 1914 wegen eines Herzfehlers von einem Arzt wehruntauglich geschrieben wurde. "Aber der ist jetzt schon über 40 Jahre tot und ich lebe immer noch."

Gefragt nach dem Tod vieler Freunde und Genossen und was er dabei empfinde, antwortete er: "Ja, dann denke ich daran - sie sind gestorben für dieses Ideal, das sie gehabt haben, und sie wußten ja nicht, daß sie gerade zu diesem Zeitpunkt sterben würden. Sie haben bis zuletzt für die Sache gekämpft, waren Optimisten. Das war halt ein Unglück, das ihnen passiert ist. Als Individuen. Aber als Bewegung nicht. Denn diese besteht ja noch weiter, und sie würden ihr heute noch angehören."

Und wenn du an deinen eigenen Tod denkst? "Dann denke ich (Pause, lacht) - ich wundere mich, wie alt ich geworden bin, aber solange ich mein Denken noch in Ordnung halten kann, werde ich weitermachen, und mich für die Bewegung einsetzen."

Er hat es getan bis zum Schluß. Nach einer Operation am Grauen Star und mit zunehmendem Alter wurden seine Augen immer schlechter. Er konnte fast nichts mehr sehen in den letzten Jahren, was er aber nie akzeptieren konnte. Bevor die vielen Lupen, die er benutzte, nichts mehr halfen, lernte er Fakten, Geschichtsdaten, Namen und andere, für ihn wichtige Sachen auswendig, indem er sie abends auf Tonband sprach, anderntags immer und immer wieder hörend. So verblüfft er mit einem hervorragenden und sehr präzisen Gedächtnis, das mir oft genug besser erschien als mein eigenes.

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Ein anderes Phänomen. Er nannte den Platz eines jeden Buches, einer jeden Zeitschrift oder eines Dokuments. Wollte irgendwer von ihm z.B. etwas über Ernst Toller, Alfred Döblin, Mühsam, Landauer, Emma Goldman oder Karl Korsch wissen, so verwies er oft auf den Platz, an dem ein Buch über den Gefragten stand und nutzte die Gelegenheit sich vorlesen zu lassen. Der Verlust seiner Augenkraft hat ihn sehr getroffen. Aber er hat sich nicht aufgegeben. Junge Genossen kamen regelmäßig und lasen ihm vor, auf Spanisch, Französisch, Englisch, Schwedisch und Deutsch, halfen ihm bei seiner Korrespondenz und seinen Arbeiten an Broschüren und Büchern. Er mußte dies tun, auch wenn er es gerne tat. - Von der kleinen Abfindung als Verfolgter des Naziregimes konnte er nicht leben.

Alle Angehörigen der Legion Condor - Soldaten und Offiziere - erhielten ihrem Rang entsprechend Höchstpensionen bzw. Rentenbeihilfe oder - Versorgung, wenn sie verwundet waren. Nicht jedoch die, die auf der Seite der spanischen Republik gegen den Faschismus gekämpft hatten. Die wenigen Ausnahmen, denen "Gnadenerweise" zugestanden wurden, waren mehr als bescheiden. Jeder Blutrichter, jeder Hitlergeneral oder Beamte im "Dritten Reich" erhielt ein Vielfaches.

Augustin, der die Notwendigkeit eines Staates ein Leben lang ablehnte, klagte nie etwas von diesem ein, weder eine materielle noch eine moralische Rehabilitierung. Es stand ganz einfach nicht zur Disposition.

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Ich habe Augustin nie bewundert. Ich habe ihn ganz einfach sehr gemocht. Er wurde in den letzten Jahren für mich so etwas wie ein Wunsch-Großvater. Einer, dem ich gerne zuhörte, dessen Altersstarrsinn mich oft nervte, dessen politische Einschätzungen zu Bewegungen dieser Zeit ich nicht teilte, dessen Betriebssamkeit mich erstaunte und der mir das Gefühl vermittelte, doch nicht ganz abgeschnitten zu sein von einer Tradition, an die anzuknüpfen niemand mehr glaubt.

Ich adoptierte gerne diese Geschichten. Seine Geschichte, die in Schul- und Lehrbüchern nicht abgedruckt wurde. Eine Vergangenheit, die nur von diesen Alten aufbewahrt wurde und wird. Achtung war es, was er mit abnötigte, nicht idolische Bewunderung. Kraft können uns auch diese Alten geben.

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Wie entschieden Augustin noch in den letzten Jahren auf der Seite des Lebens stand, wurde mir klar, als er dem schon lang gefaßten Vorschlag zustimmte, mit uns eine sechswöchige Filmreise nach Spanien anzutreten. Das Spanien 1936 war für ihn die wichtigste Station seiner politischen Biographie. Es war das Land, wo er für einen kurzen Augenblick seine politischen Ideale verwirklicht sah. Der Auszug aus einem Brief an Emma Goldman im Juli 1936 kennzeichnet seine Verbundenheit mit diesem Land (...)

Als wir Augustin dann im März 1983 in München abholten, um noch einmal dorthin zu fahren, womit er soviel verbindet, hat er nicht mehr dabei, als in der Vergangenheit bei ähnlichen Situation wohl auch - einen kleinen Aktenkoffer mit dem Nötigsten drin. "Man darf sich nicht mit unnötigem Gepäck belasten, wenn man reist."

Unsere Fahrt durch die Provinzen Katalonien und Aragon, die seine letzte werden soll, wird die Suche nach dem, was geblieben ist von Revolution und Bewegung. Augustin entwickelt mit Clara Thalmann eine ungeheure, fast manische Energie zu entdecken, was es noch zu entdecken gibt. Das Telefongebäude in Barcelona, die Telefonica (um das der entscheidende Kampf zwischen Kommunisten und Anarchisten im Mai `37 stattfand), kann er wegen seiner Augenschwäche nicht mehr erkennnen. Aber spanische Genossen fragen, wo sich noch was regt, wie stark die CNT-Gruppe im Dorf heute ist, welchem Flügel der zersplitterten anarchistischen Bewegung sie angehören, wo es noch Kooperativen gibt bzw. auf dem Land Genossen, die die Franco-Zeit überleben konnten, sich mit Clara über die Gewaltfrage streiten und was sie damals alles falsch gemacht haben, mit jungen Anarchos am Büchertisch auf den Ramblas diskutieren, Erinnerungen weitergeben, die durch Ortsnamen, Landschaften oder Begegnungen wach wurden, in verrauchten Kneipen bis tief in die Nacht sitzen und erzählen und morgens wieder auf der Platte zu stehen und rufen: "Hallo, aufstehen, es ist schon 7 Uhr", im Bus mit Clara Revolutionslieder singen, oft genug mit mehr Energie, als wir selbst sie aufbrachten.

Wir merken ihm die langen Autofahrten nicht an, nicht die Hitze oder die Anstrengung, sich täglich auf neue Leute einstellen zu müssen, nicht die andauernden Filmarbeiten. Die Selbstverständlichkeit, mit der er alles wegsteckt, gibt der Reise etwas Alltägliches, alles ist so normal, wie der Schweinebraten auf dem Sonntagstisch des Bürgers.

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"Einen neuen Anzug wollt ihr mir kaufen?", fragt er ungläubig, als wir ihm diesen Vorschlag machten, weil sein einziger, fast so alt wie er und jetzt völlig hinüber ist, "ihr spinnt wohl. Ihr wollt wohl einen feinen Pinkel aus mit machen? Gebt mir ein paar neue Augen, die kann ich gebrauchen". Wir fanden dann doch einen, im Second-Hand Laden, für 50.-DM. Den hat er genommen. Am Ende unserer Reise war er voller Ideen und Ungeduld, sie in die Tat umzusetzen.

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Dann München. Einer dieser graunassen Dezembertage. Rotkreuzplatz. Augustin liegt oben, im dritten Stock. Eines dieser vielen austauschbaren Krankenhäuser, diese Mischung aus Vorkriegsarchitektur und chrompoliertem Infusionsbesteck. Er hat sich eine Lungenentzündung geholt. Abgemagert, die schwere Lesebrille über seinen eingefallenen Wangen. "Es hat mich wieder mal erwischt. Mal sehen, ob ich noch einmal davonkomme!" Er wirkt schwach, wie letztesmal, als er wegen eines Armbruchs längere Zeit im Krankenhaus verbringen mußte. Aber nicht müde, eher interessiert. Das Buch über Mühsam ist fast fertig, einige Seiten noch. Ja, und wenigstens drei Jahre brauche ich noch, grinst er selbst über diese "Optimalforderung".

Er fragt, ob die Arbeit am Film Fortschritte macht. Ich nenn ihm den Arbeitstitel: "Revolutionäre aus einer anderen Zeit". Ich bin nicht sicher, ob er den Titel nicht als Anspielung auffaßt, hier im Krankenhaus, mit seinen 91 Jahren. "Richtig, die Geschichte läßt sich nicht wiederholen. Es war eine andere Zeit, es wäre falsch, sie zu sentimentalisieren". Ein Hustenanfall unterbricht. Ich sehe, daß es ihn schmerzt. "Hör` mal, wie es pfeift. Es ist schon eine komische Maschine, so ein Körper."

Ein paar Tage später kommt die Nachricht über seinen Tod. Es wird keine Beerdigung geben. Er hat seinen Körper der Anatomie vermacht. "Zu irgendetwas müssen die alten Knochen doch noch taugen..."

Aus: Medienwerkstatt Freiburg (Hg.): Die lange Hoffnung. Erinnerungen an ein anderes Spanien. Trotzdem-Verlag 1985 (1. Auflage). Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Trotzdem-Verlags.


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