Plädoyer für freiheitlichen Sozialismus (Buchbesprechung)

Eine Sammlung von Interviews, Vorträgen und Texten des Anarchisten Augustin Souchy rekonstruiert ein ereignisreiches Leben. Von Sebastian Friedrich

Im zurückliegenden Jahrhundert ereignete sich eine Reihe von Revolutionen. Im Sinne eines sozialen und freiheitlichen Fortschritts erwiesen sich dabei die wenigsten als „Lokomotiven der Geschichte“. Herrschaft wurde zumeist durch die Etablierung neuer Herrschaft ersetzt, die manches Mal das Maß der Unterdrückung im Vergleich zum Beseitigten überstieg. Diese Erfahrungen delegitimieren keinesfalls radikale Veränderungswünsche. Im Gegenteil: Reflexionen der gescheiterten Revolutionen und der vergangenen Fehler eröffnen Potenziale für Zukünftiges. Für die Analyse vergangener Fehler ist allerdings Material jenseits herrschender Deutungen notwendig. Ansätze liefern in hervorragender Weise die Erfahrungen derjenigen, die die Revolutionen kritisch begleiteten. Der Anarchist Augustin Souchy war jemand, der viele einschneidende Ereignisse des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebte, was ihm den Ruf „Student der Revolution“ einbrachte.

Beim Unrast Verlag erschien im Jahr 2010 in der Reihe „Klassiker der Sozialrevolte“ ein Band mit insgesamt 33 Interviews, Vorträgen und Aufsätzen des 1892 geborenen und 1984 verstorbenen Souchy.

Abwendung von der Russischen Revolution

Insbesondere sein Aufenthalt in der Sowjetunion im Jahr 1920 beeinflusste Souchy stark. Anfänglich war er ein Verteidiger der Revolution, wandte sich aber nach und nach von ihr ab. Er bezeichnete die Beseitigung des Zarismus durch die Revolution von 1917 als sozialpolitische Notwendigkeit, die Errichtung der bolschewistischen Diktatur allerdings als tragischen Fehler (S. 132). Der Sowjetunion sei es nach der anfänglichen Phase lediglich um den Erhalt der Herrschaft gegangen, Russland habe sich in ein konservatives Land gewandelt. Unterdrückungsinstitutionen der Vergangenheit wurden abgeschafft und neue Einrichtungen in der Folge gebildet, „durch welche man die Freiheiten aufs neue knebelte“ (S. 31). Während seiner Reise diskutierte Souchy unter anderem mit Lenin, Peter Kropotkin und Grigori Sinowjew. Er positionierte sich stets für die Selbstverwaltung und gegen die Parteiendiktatur. Die erhoffte Selbstverwaltung der Sowjets fand er im revolutionären Russland nicht vor. Souchy besichtigte Fabriken und sah, dass staatlich eingesetzte Beauftragte die Fabriken verwalteten und von Arbeiter_innenselbstverwaltung keine Rede sein konnte.

Das Scheitern der russischen Revolution offenbarte sich für Souchy – ähnlich wie bei Emma Goldman und Alexander Berkman – spätestens bei der mörderischen „Abwehr“ der Tscheka beim Kronstädter Matrosenaufstand. Das Kronstädter Revolutionskomitee kämpfte für die Macht der Räte, gegen die der Partei. Trotzki soll in der Folge verkündet haben: „Ich werde Euch wie Fasane niederknallen!“ (S. 116) Im Zuge der Vollstreckung der Todesurteile im Schachty-Prozess im Jahr 1928 formulierte Souchy für die Zeitung Der Syndikalist: „Die Verhältnisse in Rußland werden noch so lange Anlaß zur Kritik geben, wie der Staat nicht vom Schauplatze des wirtschaftlichen Lebens abtritt. Zerstörung der zentralen Staatsmacht ist Voraussetzung für die Gesundung des wirtschaftlichen Lebens in Sowjetrußland und erste Grundbedingung für die Befreiung des Proletariats.“ (S. 112)

Das Werk der Arbeiter_innen in Spanien

Ganz anders als die gescheiterte Revolution in Russland stellte sich für Souchy der Revolutionsversuch in Spanien dar, wo traditionell anarchistische Ideen stärkere Gewichtung hatten. Souchy hielt sich von 1936 bis 1939 in Spanien als Leiter der CNT-Außeninformation auf und hatte somit in der Spanischen Revolution eine zentrale Rolle. Unter allen sozialen Revolutionsversuchen im 20. Jahrhundert sah er die Spanische Revolution als diejenige, bei der die im Kommunistischen Manifest proklamierte Devise „Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein!“ am ehesten verwirklicht wurde.

In Spanien ging es um die Selbständigkeit der Arbeiter_innen – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Die Tat ging dem Wort voraus. So wurden die Kollektivierungen von den Bäuerinnen und Bauern sowie den Arbeiter_innen selbst beschlossen und umgesetzt – auch wenn von Ort zu Ort und sogar innerhalb von Dörfern in unterschiedlicher Weise. Die Beschreibungen, wie ohne „Übergangsperiode“ die Industrie, die Lebensmittelversorgung und die Landwirtschaft kollektiviert wurden, speisen sich aus Beobachtungen vor Ort und sind sehr anschaulich geschildert (auch wenn sich einige kleinteilige Beispiele mehrmals im gleichen Wortlaut im Buch finden und sich dadurch zuweilen eine gewisse Eintönigkeit einschleicht). An einigen Stellen kommen Erinnerungen an die Beschreibungen von Hanns Erich Kaminski auf. Dieser leider mittlerweile weitgehend vergessene Journalist war 1936 zu Beginn der Revolution in Spanien und schrieb dazu das ebenfalls auf kritisch-lesen.de rezensierte Werk „Barcelona. Ein Tag und seine Folgen“ – mit zutiefst beeindruckenden Schilderungen des Alltags während der Revolution.

In der Einleitung erläutern die Herausgeber, dass auch die Erfahrungen mit dem Parteikommunismus in Spanien ein zentrales Ereignis für die starke Positionierung Souchys gegen autoritäre Formen des Kommunismus waren. Allerdings kommen in den vorliegenden Beiträgen die Auseinandersetzungen zwischen SU-orientierten Kommunist_innen und anderen Kommunist_innen und Anarchist_innen während der Spanischen Revolution aufgrund der Textauswahl ein wenig zu kurz.

Auf der Suche

Souchy bewegte sich nicht nur in der Sowjetunion und in Spanien, vielmehr war er Zeit seines Lebens ein Suchender anarchistischer Praxen. Er war etwa in Israel, um sich ein Bild von den Kollektivsiedlungen dort zu machen, in Kuba oder in der Kolonie Primavera in Paraguay. Krieg und Militarismus stand er immer ablehnend gegenüber. So kritisierte er beispielsweise die Kultivierung des militaristischen Geistes in Ländern des „real existierenden Sozialismus“, der sich etwa in Begriffen wie „Arbeitsbrigaden“, „Arbeiter-Bataillone“ und „Ernte-Schlachten“ ausdrückte. Souchy unterstreicht: „Sozialismus und Militarismus haben inhaltlich nichts miteinander zu tun.“ (S. 226)

Das Spätwerk Souchys ist geprägt von der Bilanzierung seiner Erfahrungen und dem Versuch, anarchistische Positionen in der politischen Kultur des Kapitalismus zu verankern. Teilweise drängt sich der Eindruck auf, dass bei aller nachvollziehbaren Abgrenzung zum Bolschewismus die Potenziale zur Freiheit im Kapitalismus zu positiv gezeichnet werden.

Dennoch liefert das Leben von Souchy einen positiven Bezugspunkt für heutige und künftige Auseinandersetzung. Er ist kein Vertreter einer bestimmten Schule und war immer bereit, seine Positionen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Seine Kritik am Dogmatismus und seine pragmatische, aber nicht beliebige Grundhaltung zu Freiheit und Gleichheit ist ebenso wie seine stets an der Praxis orientierte Analyse die Stärke seines Wirkens, dem das Buch gerecht wird.

Allerdings stören das Bild einige Schwächen. So findet sich in der eigentlich kenntnisreichen Einleitung kaum ein Wort zur Auswahl der Texte und zum Aufbau des Bandes. Außerdem hätte die Zahl der Texte auch deutlich geringer ausfallen können, da einige Aufsätze und Vorträge sich sehr wenig voneinander unterscheiden und kaum Neues zu Tage fördern. Hinzu kommt ein auffällig nachlässiger formaler Umgang. Mehrere offensichtlich durch die Herausgeber eingefügte Fußnoten brechen mitten im Satz ab, außerdem ziehen sich Orthographie und Interpunktionsfehler durch den Band, obwohl eingangs notiert wird, dass offensichtliche Druck- und Schreibfehler stillschweigend korrigiert wurden. Der schwerwiegendste Fehler findet sich indes bereits auf dem Buchcover, auf dem der Name Souchys falsch geschrieben steht.

Die beschriebenen Kritikpunkte sollen allerdings nicht schmälern, dass der Band einen ausgezeichneten Blick in die Diskussionen und Verläufe anarchistischer Ideen und Kämpfe liefert und somit ein sehr ansprechendes Zeugnis des Anarchismus darstellt.

Augustin Souchy 2010: Anarchistischer Sozialismus. Unrast, Münster. ISBN: 978-3-89771-919-4. 273 Seiten

Originaltext: https://www.kritisch-lesen.de/2012/04/pladoyer-fur-freiheitlichen-sozialismus/


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