Gespräch mit Augustin Souchy

„Sie agitieren bei wilden Streiks, besetzen Wohnungen, stürmen Rathäuser, und einige berauben Banken. Ihr Ziel ist eine brüderliche Gesellschaft, eine idyllische Welt. Sie nennen sich Maoisten, Trotzkisten und Kommunisten. Man nennt sie Chaoten. Sie sind Anarchisten ..." Mit diesen Sätzen begann das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" vor einigen Jahren einen Bericht unter der Überschrift Anarchismus: Aufstand der Basis".


Herr Souchy, in Ihren Erinnerungen „Vorsicht: Anarchist!", die den Untertitel „Ein Leben für die Freiheit“ (Luchterhand) tragen, vermitteln Sie aber ein ganz anderes Porträt des Anarchismus und des Anarchisten, als der zitierte „Spiegel“-Report. Was ist - mit wenigen Worten gesagt - der Anarchismus wirklich und was wollen die Anarchisten?

Ein Gläubiger faßt die Religion anders auf als ein Ungläubiger. Der Spiegel-Report wirft mit inhaltslosen Phrasen um sich. Ernsthaft gesprochen: Es gibt mehrere Interpretationen des Anarchismus. Wörtlich übersetzt bedeutet Anarchismus Herrschaftslosigkeit. Damit kann der Leser aber wenig anfangen. Er will natürlich wissen, wie eine herrschaftslose Gesellschaft funktionieren soll. Darüber wurden Bücher geschrieben, und hierfür gibt es auch praktische Experimente. Die bedeutendsten sind die Kollektivwirtschaften während des spanischen Bürgerkrieges und die Kibbuzim in Israel. Die populärste Definition wäre: Anarchismus ist gleichbedeutend mit freiheitlichem Sozialismus. Aber ich halte nicht viel von Substantiven, die mit dem Suffix -mus enden; sie sollen alles sagen, doch vor lauter Verallgemeinerung kommt es zu wenig Konkretem. Undogmatisch betrachtet drücken die Postulate der Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die heute noch in den französischen Münzen eingeprägt sind, das aus, was die Anarchisten wollen.

Übrigens gibt es verschiedene Strömungen im Anarchismus: die individualistische (Max Stirner), die kollektivistische (Michael Bakunin) und die kommunistische (Peter Kropotkin), wobei bemerkt werden muß, daß die Unterschiede der beiden letztgenannten gering sind. Proudhon, den man den Vater der Anarchie nennt, definierte in einem Brief aus dem Jahre 1864 seine Auffassung mit folgenden Worten: „Die Anarchie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Regierungsform oder Verfassung, in welcher das öffentliche und private Gewissen, gebildet durch die Entwicklung von Wissenschaft und Recht, allein zur Erhaltung der Ordnung und Sicherstellung aller Freiheiten genügt, in welcher also das Autoritätsprinzip, die polizeilichen Einrichtungen, die Steuern usw. auf das einfachste beschränkt sind, in welcher vor allem die monarchistischen Formen, die Zentralisation - durch föderative Einrichtungen und kommunale Bräuche ersetzt - verschwinden.“


Colin Ward, ein englischer Anarchist, schrieb vor einigen Jahren, der Anarchismus sei „eine Theorie der spontanen Ordnung“. Was ist darunter zu verstehen?

Spontane Ordnung mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, ist es aber nicht. Das Wort spontan (lat. spontanem) hat eine doppelte Bedeutung, einmal plötzlich, ohne äußeren Anlaß, zum anderen freiwillig, aus innerem Antrieb. Colin Ward meint freiwillige Ordnung, den Gegensatz zur erzwungenen Unterordnung.


Wie verhält es sich aber mit einem Kernpunkt der anarchistischen Theorie: der Abscheu vor jeglicher staatlicher, kirchlicher, rechtlicher und polizeilicher Autorität?

Der Anarchismus ist eine sozio-kulturelle Bewegung, keine politische Partei zur Eroberung der Macht. Sein Bereich ist die Kritik der Herrschaft, nicht deren Ausübung. Daß Macht korrumpiert, ist allbekannt. Nähmen die Anarchisten an der Macht teil, dann würden auch sie korrupt werden. In der Nichtbeteiligung an der praktischen Politik liegt ihre Einzigartigkeit, ihre Bedeutung für den Fortschritt. Das sagt aber nicht, daß sie sich der sozialen Verantwortung entziehen.

Nach ihrem anfänglichen Teilsieg über die Franco-Generäle nahmen die spanischen Anarcho-Syndikalisten an der Regierung teil, verzichteten aber auf die Diktatur. Darin unterschieden sie sich von den marxistischen Bolschewisten in Rußland. In Barcelona wurde der Anarchist Eroles Polizeipräsident. Doch auch auf diesem Posten wurde er nicht autoritär. Als es darum ging, die Straßen von den überhandnehmenden ambulanten Händlern freizumachen, überließ er es den anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften, die das Problem in einer einzigen Vollversammlung lösten, indem sie beschlossen, daß nur die vorher organisierten Straßenhändler ihr Metier ausüben sollten. Dieser Beschluß genügte. Tags darauf waren die Straßen frei.


In dem erwähnten „Spiegel“-Report über den Anarchismus heißt es lapidar: „Alle Anarchisten lehnen neben institutionellem Zwang auch intellektuelle Lenkung ab“. In der Tat sahen die „Väter des Anarchismus“ wie Proudhon und Bakunin in den belehrten und Intellektuellen die Tyrannen der Moderne. Das hat sich bis in den deutschen Nachkriegs-Anarchismus fortgesetzt. Worin liegt die Ursache für diesen anti-intellektuellen Affekt des Anarchismus?

Ich muß Ihnen widersprechen. Proudhon und Bakunin zum Beispiel haben sich keineswegs grundsätzlich gegen die Intellektuellen gewandt, wie man beim Studium ihrer Schriften leicht feststellen kann. In der Frühzeit der internationalen Arbeiterbewegung, als die soziale Kluft zwischen Proletariat und Bourgeoisie viel größer und der Bildungsgraben zwischen beiden tiefer war, konnte ein gewisses Mißtrauen der Unterprivilegierten gegen die Oberen berechtigt erscheinen. Doch bereits auf dem Genfer Kongreß des föderalistischen Flügels der I. Internationale, nach der Spaltung zwischen Marxisten und Bakunisten, erklärten die bakunistischen Arbeitervertreter - Vorgänger der Anarchisten - daß ein Intellektueller ein ebenso guter Revolutionär sein könne wie ein Arbeiter. Der Anarchist Proudhon, Sohn eines Handwerkers, und der Anarchist Bakunin, Aristokratensprößling, waren beide Intellektuelle. Während meiner fast siebzigjährigen Militantenzeit in der internationalen anarchistischen Bewegung bin ich nie auf Mißtrauen anarchistischer Arbeiter gegen Intellektuelle gestoßen. In Deutschland genossen Gustav Landauer und Erich Mühsam, beide anarchistische Theoretiker und Intellektuelle, unter den anarchistischen Arbeitern größtes Vertrauen - und nicht nur unter diesen.


Haben sich grundsätzliche Zielvorstellungen und Strategien des Anarchismus seit seinen Anfängen im vorigen Jahrhundert verändert? Welche wären das?

Die anarchistischen Postulate vom vorigen Jahrhundert sind heute noch aktuell. Bakunin schrieb in den siebziger Jahren: „Die neue freie Gesellschaft muß vom Gottesglauben befreit sein und sich auf den Kult der Liebe und Achtung vor der Menschheit stützen. Grundlage der sozialen Neuordnung sollen die individuelle und kollektive Freiheit und das menschliche Gewissen sein. Die Monarchie, die sozialen Klassen und Rangstufen, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Privilegien müssen abgeschafft, die allgemeine Wehrpflicht und stehende Heere aufgelöst, die Frau dem Mann auf allen Gebieten gleichgestellt werden. Die öffentlichen, gerichtlichen und zivilen Funktionäre sowie die kommunalen und regionalen Vertreter oder Räte müssen direkt gewählt werden, die wirtschaftliche Struktur muß sich von unten nach oben, von der Peripherie nach dem Zentrum organisieren. Offizielle Religionen oder Staatskirchen werden abgeschafft, die völlige Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlungen und Vereinigungen wird allen garantiert. Gemeinden sind autonom und senden Vertreter in Provinzialverwaltungen. Diese wiederum können sich zu einer Nation vereinigen, aber sie dürfen nicht zwangsweise einverleibt werden. Die freien Nationen sollten sich in einem Völkerbund zur Aufrechterhaltung und Verteidigung von Frieden und Freiheit zusammenschließen“.

Und weiter: „Die politische Freiheit setzt ökonomische Gleichheit voraus. Soziale Gleichheit läßt sich aber nur erreichen, wenn vorher das Erbrecht abgeschafft wird. Das Privateigentum an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln darf nicht in Staatseigentum verwandelt, es muß Kollektiveigentum werden. An die Stelle der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung tritt eine freiwillige Kollektivwirtschaftsordnung“.

Das sind die Programmpunkte Michael Bakunins. Einige davon sind heute verwirklicht, andere müssen noch erkämpft werden. Im Gegensatz zu Karl Marx fordert Bakunin nicht die Diktatur, sondern die Abschaffung des Proletariats. Proudhons Grundsätze habe ich Ihnen bereits zitiert. Die Auffassungen Kropotkins gehen in die gleiche Richtung. Wer könnte behaupten, daß diese Auffassungen heute veraltet sind?


Ein besonderes Kapitel Ihres Buches widmen Sie dem Thema „Anarchismus und Gewalt“. Sie bestreiten darin, daß der Anarchismus eine Bewegung der Gewalt ist: „Die anarchistische Ideologie, im Grunde nichts anderes als der Entwurf für eine Gesellschaftsordnung ohne Herrschaft, schließt begrifflich Gewalt und erst recht Terror aus, denn wo es keine Herrscher und keine Beherrschten gibt, erübrigen sich Attentate und Terror“. Das bedeutet doch aber nicht, daß bis zur Erreichung dieses Zieles kein Terror, keine Gewalt angewandt wird?

Der Grundsatz der Gewaltlosigkeit ist dem Anarchismus inhärent, er gehört zum Wesen der Herrschaftslosigkeit. Würden Sie vertrauen zu einem Menschen haben, der Ihnen sagt: „Heute bin ich ein Teufel, morgen werde ich ein Engel sein“? In der anarchistischen Gesellschaftstheorie findet man nichts von Gewalt und Terror. Als Rudolf Krämer-Badoni in seinem Buch den Satz schrieb: „Der Terror geht aus der anarchistischen Ideologie hervor“, antwortete ich ihm, daß diese Behauptung ein semantischer Nonsens sei, daß Anarchismus nur bei Abwesenheit von Gewalt und Terror möglich ist. Das muß immer wieder betont werden.

Das Mißverständnis, den Anarchismus mit Gewalt und Terrot zu identifizieren, stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Es gab Attentäter, die sich Anarchisten nannten, ob sie es wirklich waren und was sie unter dem Wort verstanden, ist nicht bekannt. Als im März 1881 ein russischer Nihilist ein Attentat auf den Zaren verübte und im Juli des gleichen Jahres ein internationaler Anarchistenkongreß in London sich für die „Propaganda durch die Tat“ aussprach - in Südeuropa war vor einem Jahrhundert die Hälfte der Bevölkerung analphabetisch und schriftlicher Propaganda nicht zugänglich - war die Gedankenkette von Gewalt, Terror, Tat und Attentat bis zum Anarchismus geschlossen. Auch im 20. Jahrhundert gab es einige Attentate, die von Anarchisten begangen wurden. Unter den vielen Tausenden Anarchisten, die ich kennengelernt habe, gab es nur drei Attentäter: Alexander Berkman, Buenaventura Durruti und Simon Radowitzky. Sie wollten Schuldige bestrafen, die dank ihrer gehobenen Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie von der Justiz verschont blieben, obwohl sie für schändliche Verbrechen verantwortlich waren. Meine Gesinnungsfreunde waren nicht so naiv, zu glauben, daß Freiheit und soziale Gerechtigkeit mit Gewalt und Terror eingeführt werden können. Sie fühlten sich als Arm der Justiz und setzten ihr eigenes Leben für die Gerechtigkeit ein.


Sie betonen die Gewaltlosigkeit des Anarchismus. Wie ist dann aber der Satz Bakunins zu verstehen: „Jeder Staat ist verderblich, nur Bomben und Blut können eine Reinigung bewirken“?

Mir ist dieses Bakuninwort nicht im Gedächtnis, obwohl ich Bakunins Werke gründlich gelesen habe. Nehmen wir aber an, daß es authentisch ist, dann muß man es natürlich aus der politischen Situation zu Bakunins Lebzeiten heraus beurteilen. Richard Wagner, Bakunins Kampfgefährte beim Dresdner Maiaufstand von 1849, den man gewiß nicht als Gewaltprediger bezeichnen kann, schrieb in den vom Kapellmeister Rockel herausgegebenen Volksblättern seine berühmten Aufsätze über Kunst und Revolution, worin, er sagt: „Ich will zerstören die Herrschaft des einen über den andern. Ich will zerbrechen die Gewalt des Mächtigen, des Gesetzes und des Eigentums. Zerstören will ich die Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme teilt“.

Max Stirner, der Theoretiker des individualistischen Anarchismus, hätte nicht schärfer formulieren können. Daß die von Wagner geforderte Zerstörung nicht ohne Gewaltanwendung erreicht werden konnte, ist doch wohl klar. Dennoch wäre es falsch, Wagner als einen Gewaltapostel zu bezeichnen.

Das gleiche trifft für Bakunin zu. Seine berühmt-berüchtigten Worte: „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“ bedeuten nicht Zerstörung um ihrer selbst willen, sondern Zerstörung des Alten, des Unterdrückenden, verbunden mit Aufbau des Neuen, des Befreienden. Nur so dürfen diese Worte verstanden werden. Jede andere Interpretation trifft nicht die Intentionen Bakunins.

Es gibt anarchistische Theoretiker, die bis zum äußersten die Gewaltlosigkeit vertreten haben. Einer von ihnen ist der französische Philosoph Han Ryner. In seiner Utopie Les Pacifiques führt er uns in das von Plato erwähnte sagenhafte Atlantis, dessen in einer anarchistischen Gesellschaft lebende Einwohner sich von schiffbrüchigen Gewaltmenschen widerstandslos hinmorden ließen. Ich habe das Buch ins Deutsche übersetzt; es wurde 1926 unter dem Titel Nelti in Berlin veröffentlicht.

Jedenfalls: die anarchistische Lehre ist dogmenfrei. Wer ein Volk von seinen Unterdrückern, Autokraten, Diktatoren oder sonstigen Gewalthabern mit Gewalt befreit, braucht nicht Anarchist zu sein. Gewalt war bisher das Grundprinzip aller Archien (von der Monarchie bis zur Oligarchie) und aller Kratien (von der Aristokratie und Plutokratie bis zur Demokratie). Um die Herrschaft aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, bedarf es der Gewalt. Nur in einer Anarchie, einer Ordnung ohne Herrschaft, ist die Gewalt überflüssig.


Nun werden deutsche Terroristen wie Baader, Meinhof, Ensslin und andere in der Presse immer wieder als „Anarchisten“ bezeichnet. Waren sie Anarchisten?

Nein. Sie haben selbst mit aller Deutlichkeit in ihrer Grundsatzerklärung gesagt, daß sie Marxisten, Leninisten und/oder Maoisten sind. Daß sie trotzdem im Rundfunk, Fernsehen und auch in der Presse als Anarchisten bezeichnet werden, ist auf Ignoranz zurückzuführen. Bedauerlich, daß selbst Willy Brandt, als er noch Bundeskanzler war, im Juni 1972 bei einer Rundfunkrede die Gruppe der Baader, Meinhof und Genossen als kriminelle Anarchisten bezeichnete. Ich hatte ihn brieflich auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht. Er gab eine ausweichende Antwort. Meine diesbezügliche Korrespondenz mit ihm habe ich, wie Sie wissen, in meinen Memoiren veröffentlicht.


Es heißt bei Ihnen: „Bis auf den heutigen Tag begehen nationalrevolutionäre Terroristen, die alles andere als Anarchisten sind, Attentate, ohne daß man den Nationalismus dafür verantwortlich macht“. Würden Sie sagen, daß die Zahl der von Anarchisten begangenen Gewaltakte keineswegs höher, ja vielleicht sogar weit unter jener liegt, die von anderen Gruppierungen verübt wurden oder werden?

Jawohl, das sage ich, und das kann ich auch beweisen. Politische Attentate gab und gibt es seit Jahrtausenden, die anarchistische Lehre wurde im vorigen Jahrhundert - etwa gleichzeitig mit der marxistischen - formuliert. Der athenische Tyrann Hipparch fiel 514 vor unserer Zeitrechnung einem Attentat zum Opfer. Seitdem wurden viele Unterdrücker ermordet, ohne daß die Attentäter Anarchisten waren. Während der letzten Jahrzehnte wird die Welt von politischen Terrorakten in nie gesehenem Ausmaß heimgesucht. Die Täter sind fanatische Nationalrevolutionäre, lateinamerikanische Guerilleros, Tupamaros, arabische Fedayin, kroatische Ustaschas, nationaltürkische Studenten, Black Panthers, baskische ETA-Militante, irische Befreiungskämpfer, dazu Leninisten, Maoisten, Trotzkisten. Der millionenreiche italienische Verleger Feltrinelli, der bei einer Bombenexplosion ums Leben kam, war Maoist. Im Gegensatz dazu kann man die von den Anarchisten in einem ganzen Jahrhundert verübten Attentate an den Fingern abzählen, die nationalrevolutionären Terrorakte der letzten zehn Jahre gehen auf keine Leporelloliste.

Der Terror entspringt keiner spezifischen Ideologie. Der individuelle Terror ist eine desperate Waffe, mit der man am allerwenigsten eine freie und solidarische Gesellschaftsordnung verwirklichen kann. Der organisierte Massssenterror ist besonders reprobabel. Der stalinistische Zwangskollektivierungsterror kostete ungezählten Muschiks das Leben. Und wenn man den Bogen der Geschichte weiter spannt, darf man auch den inquisitorischen Religionsterror des Mittelalters nicht vergessen, dem Hunderttausende von „Ketzern“ und „Hexen“ zum Opfer fielen. Die anarchistische Ideologie kann weder mit dem individuellen noch mit dem Massentenor in Zusammenhang gebracht werden.


Sie zitieren Kant, der in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, Königsberg 1798, sagt: „Anarchie (ist) Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“. Was bedeutet das?

Das ist eine Frage der Semantik. Kant meinte in diesem Zusammenhang mit Gewalt das, was im französischen unter dem Wort pouvoir verstanden wird, wobei er ohne Zweifel an die besonders von Montesquieu in seinem Werk L` Esprit des Lois (Vom Geist der Gesetze) geforderte Teilung in eine legislative, eine exekutive und eine juridische Gewalt gedacht hat. Ins deutsche wurde pouvoir (lateinisch: potential) mit Gewalt, Macht, Amtsgewalt, Herrschaft, Oberherrschaft und auch Herrscher usw. übersetzt. Kant wollte mit seinem Satz ausdrücken, daß es in der Anarchie keine dieser Gewalten gebe.


Günter Bartsch, der Historiker des deutschen Nachkriegs-Anarchismus, sagt, der Anarchismus sei „Antipolitik“, also die entschiedene Leugnung von politischer Realität - von „Macht“. Dies käme einem Protest gegen die Realität überhaupt gleich. Ist das richtig?

Die Anarchisten waren stets bemüht, auf die polis, die öffentlichen Angelegenheiten, in der Richtung von Fortschritt, Freiheit und Frieden einzuwirken. Sie gaben Anstoß zu Bürgerinitiativen, lange ehe das Wort in Umlauf kam. Der 1. Mai, Weltfeiertag der Arbeit, ist der Initiative der Chicagoer Anarchisten (1886) zu verdanken. Dafür mußten fünf Anarchisten ihr Leben lassen (vier von ihnen waren gebürtige Deutsche). In Mexiko waren es die Anarchisten, die als erste die Parole Land und Freiheit lancierten und damit zu Urhebern der ersten Agrarreform Lateinamerikas (1917) wurden. In aller Welt standen die Anarchisten, zu denen sich später die radikalen Pazifisten gesellten, an der Spitze der antimilitaristischen und Antikriegsbewegung, die besonders von den deutschen Marxisten vernachlässigt oder gar sabotiert wurde. Der Widerstand gegen den spanischen Militärputsch im Jahre 1936 ging vor allem von den Anarcho-Syndikalisten aus. In Frankreich war es der Anarchist Louis Lecoin, der, ohne Abgeordneter zu sein, es fertig brachte, durch eine gezielte individuelle Aktion, den Hungerstreik, 1962 die Einführung des Zivildienstgesetzes für Militärdienstverweigerer zu beschleunigen. Polis? Antipolitikum? Direkte Aktion? As you want.


Herr Souchy, Sie kommen in Ihrem Buch zu folgendem Ergebnis: „Nach meinen geschichtlichen Kenntnissen und eigenen praktischen Erfahrungen kann keine Revolution alle sozialen Übel ein für allemal aus der Welt schaffen. Die große Französische Revolution, die den Feudalismus und die absolute Monarchie beseitigte, vermochte nicht das Aufkommen des ausbeuterischen Privatkapitalismus zu verhindern. Die Russische Revolution stürzte den Zarismus, doch die neuen Machthaber errichteten ein staatskapitalistisch-hierarchisches Diktatursystem und einen Polizeistaat, unter dem das Volk noch heute aller Freiheiten beraubt ist und soziale Ungleichheiten fortbestehen“. Sie müssen zugeben, daß dieser Zweifel am historischen Erfolg praktisch aller Revolutionen aus dem Munde eines Anarchisten überrascht. Wenn nicht Revolution, was dann?

Hier liegt wohl ein Mißverständnis vor. Nach einem Hinweis auf Degenerationserscheinungen der mexikanischen Revolution, die ich aus eigener Erfahrung kennengelernt habe, fahre ich in meinem Buch fort: „Es ist Aufgabe nachfolgender Generationen, neue Mißbräuche und gesellschaftliche Übel durch ständige Volksinitiativen zu verhindern oder auch, wenn es auf friedlichem Wege nicht geht, durch neue Revolutionen zu beseitigen. So war es in der Vergangenheit, und alles deutet daraufhin, daß es in nächster Zukunft nicht anders sein wird. Immer noch bewegt sich das Pendel der Geschichte zwischen den beiden Polen: Autorität und Freiheit“.

Revolution und Evolution sind zwei Phasen des gleichen Prozesses. Die Revolution ist eine akzelerierte Evolution, die wiederum in eine neue Revolution ausmündet, wenn sie in ihrem Bewegungsrhythmus gehemmt wird.


Das führt mich zu der Frage nach dem Verhältnis des Anarchismus zur marxistischen Theorie des „Klassenkampfes“?

Die historisch umstrittene These, nach welcher die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Klassenkämpfe ist, hat für den Freiheitskampf und den Fortschritt der Menschheit keine Bedeutung. Das Ziel, die Eroberung der politischen Macht, führte nicht zur Emanzipation des Proletariats, sondern zur Errichtung einer neuen Herrschaftselite. Die Anarchisten unterstützen seit jeher die Kämpfe der Arbeiter für bessere Lebensbedingungen und mehr Freiheit. Dazu benötigten sie keine besondere Theorie, ihr Leitmotiv war und ist Humanismus. Proudhon, dessen Buch über das Eigentum Marx zum Sozialismus bekehrte, schlug zur Abschaffung der Klassengegensätze freie Vereinigungen bzw. Genossenschaften von Produzenten und Konsumenten in Stadt und Land und deren föderative Zusammenarbeit auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vor. Das war ein Klassenkampf besonderer Art. Seitdem hat sich die Genossenschaftsbewegung im Laufe von mehr als einem Jahrhundert zu einem beachtlichen Faktor in der Volkswirtschaft entwickelt, in dessen Bereich es keinen Klassenkampf im marxistischen Sinne gibt. Mitglieder von Produktionsgenossenschaften sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Person.

In Deutschland verfocht der 1919 in Bayern ermordete freiheitliche Sozialist Gustav Landauer ähnliche Ideen. „Der Anarchismus“, sagt er, „hat keine andere Aufgabe als die: zu erreichen, daß der Kampf des Menschen gegen den Menschen, möge er welche Gestalt auch immer haben, aufhöre, auf das die Menschheit sich emporringen und im Verband des Menschengeschlechts jeder Einzelne die Position einnehmen kann, die er kraft seiner natürlichen Anlagen herauszustellen vermag“.

Daß Bakunin und Kropotkin ihr ganzes Leben an der Seite der unterdrückten Klassen und Völker kämpften, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Weniger bekannt dürfte die Stellungnahme Max Nettlaus, des Historikers des Anarchismus, zu dieser Frage sein. In seiner 1897 in London veröffentlichten Schrift „Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf“ fordert er die Arbeiter auf, sich selbst als verantwortliche Produzenten zu fühlen, die Herstellung von Mordwaffen zur Kriegsführung zu verweigern, keine minderwertigen Häuser in den Proletarierquartieren der Großstädte zu bauen, keine Waren von schlechter Qualität zu fabrizieren, Lebensmittelverfälschung und unfaire Reklame zu brandmarken. Aktionen dieser Art, an denen die Organisationen der sich als Produzenten verantwortlich fühlenden Arbeiter und die Konsumvereine teilnehmen müßten, würden dem Klassenkampf einen höheren Humanitätswert verleihen.

Schließlich dürfen auch die bereits erwähnten fünf anarchistischen Klassenkämpfer, die Märtyrer von Chicago, nicht vergessen werden, die 1886 für ihren Einsatz um den Achtstundentag ihr Leben lassen mußten. Mein Resume: der angewandte Marxismus führte, wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, zur anonymen Vermassung - Ziel des Anarchismus ist die individuelle Freiheit, gepaart mit Verantwortlichkeit.


Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, daß Sie zu der Erkenntnis gekommen seien, „daß Verstaatlichung der Produktionsmittel die Ausbeutung nicht beseitige und eine staatlich geplante Bedarfswirtschaft die soziale Ungleichheit nicht aufhebe“. Und schließlich: „Aufs Ganze gesehen wird sich auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung das Lohnsystem nicht völlig beseitigen lassen, und wenn die soziale Gerechtigkeit als Maßstab dient, ist das Lohnsystem als solches kein Übel“. Bedeutet das nicht - streng genommen - eine Absage an die Vorstellungen der klassischen anarchistischen Theoretiker?

Als Feind der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ist der Anarchismus natürlich auch Gegner der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital. Über die Frage des Arbeitswertes und Lohnes gibt es mehrere quer durch die einzelnen Richtungen gehende Theorien. Der individualistische Anarchist Benjamin Tucker sah in den Monopolen - Landmonopol, Geldmonopol, Machtmonopol usw. - die Grundursache der sozialen Übel. Proudhon schlug ein zinsloses Kreditsystem mit dazu gehöriger Tauschbank vor. Nach Meinung des kommunistischen Anarchisten Kropotkin können die Einwohner eines Dorfes auf der Grundlage kollektiven Landeigentums ihre gemeinsame Wirtschaft ohne Lohn und ohne Geld regeln. Kropotkin arbeitete aber kein Wirtschafts- oder Gesellschaftsmodell für ein ganzes Land aus. Ein solches hätte nur, wie er mir 1920 in Rußland sagte, mit staatlicher Gewalt eingeführt werden können, was im Widerspruch zur Freiheit, zum Anarchismus selbst, stünde.

Die heute noch kursierenden Gesellschaftstheorien des Sozialismus, Anarchismus, Kommunismus etc. wurden im vorigen Jahrhundert aufgestellt. Angesichts des technischen, industriellen und sozialen Fortschritts, den es seither gegeben hat, müssen diese Theorien aufs neue überprüft werden.

Der Auffassung, daß Theorien einer ständigen Überprüfung bedürfen, war auch Proudhon. Als Marx ihn zur Mitarbeit an einem Korrespondenzblatt einlud, erwiderte er ihm in einem Brief vom 17. Mai 1846, er würde nur mitarbeiten, „wenn jede Ausschließlichkeit und jeder Mystizismus verbannt, wenn niemals eine Frage als erschöpft betrachtet wird, und wenn wir, nachdem unser letztes Argument vorgebracht worden ist, falls erforderlich, mit Eloquenz und Ironie von vorne anfangen. Unter dieser Bedingung bin ich bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, anderenfalls nicht“. Mit dieser Bedingung war der dogmatische Marx freilich nicht einverstanden.

Zu Proudhons und Marxens Zeit konnten nur die Ideologien miteinander verglichen werden. Heute sind wir in der Lage, die erdachten Theorien mit der konkreten Wirklichkeit zu konfrontieren und die soziale Revolution auf ihren sozialistischen Wahrheitsgehalt und Inhalt zu prüfen. Gerade das ist es, mit dem ich mich seit mehr als 50 Jahren beschäftige. Aus meinem Erfahrungsschatz will ich zwei Beispiele im Zusammenhang mit der von Ihnen gestellten Frage über das Lohnsystem anführen:

1. In den während des spanischen Bürgerkrieges gegründeten Colectividades (landwirtschaftliche Kollektivwirtschaften) führte man einen einheitlichen Lohn für alle, einschließlich für den Dorfarzt, ein. Der Leitgedanke war, jeder nach seinen Bedürfnissen, das bedeutete Bezahlung nach Anzahl der Familienmitglieder. Nach Abschluß des Erntejahres erhielt jeder den gleichen Anteil vom eventuellen Überschuß. In den kollektivierten Industrie- und Handelsunternehmen wurden die hohen Direktorengehälter abgeschafft, die mittleren Ingenieurlöhne aber beibehalten, da man die qualifizierten Arbeitskräfte benötigte. Die Einkommensunterschiede waren reduziert worden. Die Betriebsangehörigen übernahmen selbst die Leitung. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit war aufgehoben. Ich befand mich während des ganzen Bürgerkrieges im Lande und habe dies alles persönlich miterlebt.

2. In den israelischen Kibbuzim, die zum Teil durch Gustav Landauers anarcho-sozialistisches Ideal inspiriert waren, wurde das Lohnsystem ganz abgeschafft. Die Kibbuzstruktur entsprach Kropotkins kommunistischem Anarchismus. Zur Zeit der Ernte aber war man gezwungen, Lohnarbeiter fürs Pflücken der Zitrusfrüchte einzustellen. Es kam zu theoretischen Auseinandersetzungen unter den Kibbuzmitgliedern. „Die Einstellung von Lohnarbeitern richtet die idealistische Grundlage des Kibbuz zugrunde“, sagten die alten Kibbuzniks. „Wenn wir die gewünschten Löhne zahlen und die Lohnempfänger als Kameraden behandeln, sind wir keine kapitalistischen Ausbeuter“ erwiderten die Neuerer, die in der Mehrheit waren. Ich habe die Diskussionen an Ort und Stelle angehört. Als später die meisten Kibbuzim Industrieunternehmen gründeten, veränderte sich die organisatorische Struktur. Die Lohnarbeit, anfangs Ausnahme, wurde zur Regel. Eine kapitalistische Ausbeutungsgesellschaft ist der Kibbuz dennoch nicht geworden.


Sie sprachen gerade von der Form des Kibbuz, der ja eine zionistische Schöpfung darstellt. Das führt zu der Frage: Welche Position bezieht der Anarchismus gegenüber dem Zionismus?

Zu Zeiten Theodor Herzls, des Begründers des Zionismus, verstand man unter Zionismus das Recht der Juden auf ein bzw. ihr Heimatland. Mit Gründung des Staates Israel ist dieses Ziel erreicht.
Damit ist das Problem des historischen Zionismus gelöst.

Die Frage, wie die jüdische Volksgemeinschaft oder der Staat Israel aufgebaut sein sollte, ist politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Natur. Hierüber hatte man bereits bei der Staatsgründung, 1948, verschiedene Meinungen. Martin Buber und Professor Magnes setzten sich für einen binationalen Staat von Juden und Palästinensern nach dem Beispiel Kanadas ein, wo die Nachkommen englischer und französischer Einwanderer friedlich miteinander leben. Ben Gurion und seine Anhänger waren für einen Judenstaat. Sie hatten die Mehrheit. Israel ist ein reiner Judenstaat geworden. Bald kam es zum Konflikt mit den ansässigen Palästinensern, der zu einem Krieg zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten führte. Das ist nicht spezifisch zionistisch. Kriege zwischen Staaten und Nationen sind nicht neu in der Völkergeschichte.

Die Fragestellung ist nicht, ob die Anarchisten pro- oder contrazionistisch eingestellt sind, sondern welche Auffassung sie über Kriege und zu Problemen von ethnischen Minderheiten in einem Nationalstaat haben. Theoretisch ist die Frage leicht zu beantworten. Man braucht nur zu sagen, daß es in einer anarchistischen Weltordnung keine Staaten, keine Unterdrückung, keine Probleme benachteiligter Minderheiten geben wird. Eine derart abstrakte Antwort würde aber niemanden zufriedenstellen. In theoretischen Lehrbüchern findet man keine konkreten Antworten auf aktuelle Fragen. Kriege in der Theorie abzulehnen ist leicht, bei einem bereits ausgebrochenem Krieg für die eine oder die andere Partei Stellung zu beziehen, ist eine andere Sache.

Karl Marx entschied sich während des deutsch-französischen Krieges von 1870-1871 für Deutschland. „Die Franzosen brauchen Prügel“, schrieb er seinem Freund Friedrich Engels. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges erklärten sich Peter Kropotkin und eine Anzahl westlicher Anarchisten gegen Deutschland, die damals stärkste Militärmacht. Im Zweiten Weltkrieg waren Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und Liberale Gegner der nazifaschistischen Diktatoren. Den Einmarsch der Roten Armee in Ungarn und in die Tschechoslowakei verurteilten Sozialisten und Anarchisten, Demokraten und Liberale, während die Kommunisten ihn billigten. Bei dem gegenwärtigen arabisch-israelischen Konflikt stehen die Anarchisten im allgemeinen an der Seite Israels. Krieg und Feindschaft dauern nicht ewig. Deutschland und Frankreich stritten Jahrhunderte um den Besitz von Elsaß und Lothringen. Heute sind Deutsche und Franzosen Freunde. So hoffen wir Anarchisten, daß auch Juden und Araber, Nachkommen des gleichen Stammvaters Abraham, in nächster Zukunft ihren Bruderkrieg beenden und als friedliche Nachbarn nebeneinander und miteinander leben mögen.


Ähnlich wie die Freimaurerei wurde auch der Anarchismus von der Kirche immer erbittert bekämpft. Schließen sich Anarchismus und Christentum grundsätzlich aus oder sind Modelle ihres Zusammenwirkens denkbar?

Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihre Frage unter Hinweis auf persönliche Erlebnisse beantworte. Zunächst aber eine ideologische Vorbemerkung: Mit dem Glauben an einen über den Wolken thronenden Gottvater, der seinen eigenen Sohn kreuzigen, begraben und danach, wohl aus Reue, zum Himmel aufsteigen läßt, wo er heute noch an seiner Rechten sitzen soll, mit diesem Glauben haben die Anarchisten nichts zu tun. Doch die Toleranz, Schwester der Freiheit, erlaubt Anarchisten, auch mit gläubigen Christen lauteren Charakters, die weder Ausbeuter noch Diktatoren sind, friedlich zusammenzuleben. Es gab und gibt von der Nächstenliebe ausgehende Christen, die den anarchistischen Grundsatz von Nichtherrschen und Nichtbeherrschtseinwollen anerkennen. Ich erinnere an Leo Tolstoj, den man einen christlichen Anarchisten nannte. Die ersten Christen lebten überdies in communicatio, in Gütergemeinschaft. In dem nach dem Ersten Weltkrieg in Oberhessen von Eberhard Arnold gegründeten Rhönbruderhof lebten christliche und anarchistische Antimilitaristen in harmonischer Gemeinschaft unter Verzicht auf Privateigentum an Produktionsmitteln. Als die Brüder zur Hitlerzeit Deutschland verlassen mußten, gingen sie nach England, wo sie ihr christlich-anarchistisches Gemeinschaftsleben fortsetzten. Während des Zweiten Weltkrieges gezwungen, als Deutsche England zu verlassen, fanden sie in Paraguay Asyl, wo sie drei Bruderhöfe mit je 200 Personen gründeten. Dort habe ich sie in den fünfziger Jahren besucht. Unter ihnen fand ich einen Genossen, den ich früher in der anarchistisch-antimilitaristischen Bewegung Berlins gekannt hatte. Ich blieb vierzehn Tage bei ihnen. Obwohl ich ihre metaphysischen Ansichten nicht teilte, fühlte ich mich als Bruder und wurde von ihnen auch als solcher behandelt.

Ein anderes Beispiel über die sozial-kulturelle Kompatibilität gläubiger Christen und atheistischer Anarchisten: 1976 befand ich mich auf einer Vortragsreise in Amerika. In New York, Philadelphia, Minneapolis, New Orleans und Tampa fanden meine meist von anarchistischen Gruppen veranstalteten Vorträge in Kirchen statt. In der Community Church, New York, wo ich einen Vortrag über den spanischen Bürgerkrieg hielt, hing das Bild eines spanischen Milizionärs über der Kanzel. Tags vorher, am 18. Juli 1976, hielt in der gleichen Kirche Pastor Bruce A. Southworth eine Predigt über Anarchismus und Politik in Amerika. Diese Predigt wurde sogar vom New York Times-Sender ausgestrahlt.

Mit einem Wort: es ist selbstverständlich möglich, daß Anarchisten und Christen in weltlichen Dingen friedlich zusammenwirken können.


Herr Souchy, irgendwo in Ihrem Buch steht der warnende Satz: „Die internationale Arbeiterbewegung kann aus der Russischen Revolution nur eine Lehre ziehen: wie sie nicht handeln darf, wenn sie Wohlstand und Freiheit für alle erreichen will!“ Auf welchem Weg, glauben Sie, befindet sich die internationale Arbeiterbewegung heute?

In meiner aus dem Jahre 1920 stammenden Warnung ging es mir darum, aufgrund meiner Erfahrungen im revolutionären Rußland der internationalen Arbeiterbewegung zu sagen, daß eine Parteidiktatur - auch im Namen des Proletariats und mit Lenin an der Spitze - keine sozial gerechte gesellschaftliche Neuordnung einführen könne. In den verflossenen 58 Jahren hat sich meine Diagnose und Prognose als richtig erwiesen. In der Sowjetunion hat sich bis zur Gegenwart strukturell nichts geändert. Rußland ist das konservativste Land der Welt geworden. Rede-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit gibt es nicht, Nonkonformisten und Dissidenten werden verfolgt, in Gefängnisse, Konzentrationslager, Verbannungsorte und psychiatrische Anstalten geschickt. In der industriellen Entwicklung hinkt das große Land immer noch hinter dem Westen her. Daß es im Wettrüsten zum zweiten oder gar zum ersten Land der Welt aufrückte, ist kein Ruhm, sondern eine Schande für ein sich sozialistisch nennendes Land, wo immer noch, 60 Jahre nach der Revolution, Käuferschlangen vor den Geschäften stehen und der Lebensstandard der Arbeiter der niedrigste aller Industrieländer ist. Auch Kropotkins 1920 in einem Brief an die Arbeiter des Westens ausgesprochene Hoffnung, die unter dem Zarismus unterdrückten Völkerschaften würden in einer freien Föderation autonomer Völkerschaften vereinigt werden, hat sich nicht erfüllt.

Ihre Frage nach dem heutigen Wege der internationalen Arbeiterbewegung steht in keinem direkten Zusammenhang mit der damaligen Situation. In den Jahren 1917-1920 lebten wir in einem revolutionären Klima. Wir alle, allen voran Lenin und Trotzki, glaubten, die Weltrevolution stehe vor der Tür. Wer könnte heute behaupten, daß die Industrieländer an der Schwelle einer neuen Revolution stehen? Wer sollte die Revolution machen, die Arbeiter? Sechsstundentag, sechs Wochen Jahresferien, Pensionsalter mit 60 Jahren liegen ihnen näher, dazu vielleicht noch Mitbestimmung bis zur eventuellen Selbstverwaltung, Vermögensbildung (in Deutschland), Lohnempfängerfonds (in Schweden) usw. usw. sind die Arbeiterbewegungszielsetzungen der nächsten Jahrzehnte. Wie so oft vorher hat auch das zwanzigste Jahrhundert gezeigt, daß langlebige Evolutionsperioden kurzfristige Revolutionsphasen ablösen. Das ist der alternierende Evolutions-Revolutionsablauf der Geschichte.


Als Sie 1920 in Moskau weilten, stellten Sie Lenin die Frage nach der Haltung der kommunistischen Partei zu den Anarchisten. Lenins Antwort lautete: „In der ersten Phase der Revolution sind die Anarchisten nützlich, ja von unschätzbarem Wert. Wenn sie aber in der zweiten Phase die revolutionäre Staatsmacht nicht respektieren, müssen sie als Konterrevolutionäre betrachtet werden.“ Würden Sie sagen, daß diese Leninsche Strategie, die sich ja keineswegs nur auf Anarchisten bezog, auch heute noch die Grundstrategie der kommunistischen Bewegung ist?

Lenins Nachfolger beschreiten den Weg ihres Meisters. Stalins Strategie war das non plus ultra der Diktatur, die sich fälschlich proletarisch nennt. Der grusinische Autokrat mordete nicht nur Tausende und aber Tausende Muschiks, die sich seiner Zwangskollektivierung widersetzen wollten, sondern auch seine eigenen Parteigenossen, die seiner Macht im Wege standen. Über der Roten Armee, die 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierte, schwebte Lenins Geist. Wer vom rechten Glauben abweicht, muß mit Gewalt bekehrt werden (Das erinnert mich an die Religionskriege). Nicht anders machte es Fidel Castro. Im „kommunistischen“ Kuba werden Zehntausende, die sich nicht fügen wollen, in Gefängnissen und Arbeitshäusern gehalten. Das schändlichste Beispiel des Leninisten Castro ist die Verurteilung von Hubert Matos zu 20 Jahren Zuchthaus. Matos, Kampfgefährte Castros aus der Sierra Maestra, wagte es, gegen die kommunistische Indoktrinierung des Militärs zu protestieren. Dafür sitzt er seit 17 Jahren immer noch hinter Gittern. Für Lenins Strategie, die von seinen Anhängern heute noch befolgt wird, gilt das geflügelte Wort: „Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein.“


Wie beurteilen Sie unter diesem Gesichtspunkt den sogenannten „Eurokommunismus"?

Das Wort Eurokommunismus erinnert mich an die Nomenklatur socialismus asiaticus, mit der Karl Kautsky Anfang der zwanziger Jahre den Bolschewismus kennzeichnete. Damals stand die kommunistische Weltbewegung im Aufstieg, heute befindet sie sich in einem Zersetzungsprozeß. Die Divergenzen im kommunistischen Lager kann man, mutatis mutandis, mit dem Liturgiedisput in der katholischen Kirche vergleichen, mit dem Unterschied jedoch, daß der Papst gegenüber dem konservativen Bischof Lefebvre den fortschrittlicheren Standpunkt einnimmt, während im Kommunistenstreit der Kreml an alten Dogmen festhält und die Eurokommunisten einen neuen Weg beschreiten wollen.

Es handelt sich um eine theoretisch-strategische Auseinandersetzung. Die Kremlideologen gehen von der marxistischen These aus, nach welcher die Akkumulation des Kapitals in immer weniger Hände bei gleichzeitig immer größerer Verelendung der Massen zur Todeskrise des Kapitalismus führe, auf die sich die kommunistischen Parteien als Vorhut des Proletariats vorbereiten müssen, um zur gegebenen Zeit ihre Parteidiktatur errichten zu können. Dazu kommt noch der Machtanspruch Moskaus. Der Kreml fühlt sich immer noch als Generalstab im Eroberungskrieg für den Weltkommunismus. Nun hat aber die Entwicklung des 20. Jahrhunderts gezeigt, daß die marxistische Verelendungstheorie falsch ist (Darauf hat bereits Bernstein hingewiesen). In den westeuropäischen Industrieländern und auch in Nordamerika sind Sozialrevolutionen a la russe nicht zu erwarten. Die kommunistischen Parteien müssen in dieser Situation mitwirken an Reformen der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung, um für die Gunst der Wähler erfolgreich werben zu können. Das tun sie auch. Die italienische KP verhandelte lange Zeit über einen Pakt mit den Christdemokraten, den sie historischen Kompromiß nennt. Die französische KP, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit den Sozialisten in einer Volksfrontregierung, war auch kürzlich um ein Wahlbündnis mit der rechts von ihr stehenden sozialistischen Partei bemüht. Die spanische KP hat offiziell die Monarchie anerkannt und ist bereit, an der Wiederherstellung der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie mitzuwirken. Ihr Führer, Santiago Carrillo, moskauhöriger Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes während des Bürgerkrieges, hat sich heute mit Moskau überworfen. Auch sein Vorgänger Jesus Hermandez, Parteivorsitzender und Minister in der republikanischen Regierung während des Bürgerkrieges, wurde abtrünnig und schrieb ein Buch: Ich war ein Minister Stalins. Doch wer die Geschichte der kommunistischen Parteien kennt, hat Grund, mißtrauisch zu sein, auch gegen Apostaten.

Übrigens sind die Eurokommunisten unter sich auch nicht einig. Näher betrachtet gibt es einen italienischen, einen französischen und einen spanischen Kommunismus. Wenn - was anzunehmen ist - das russische Volk spätestens im kommenden Jahrhundert das Joch seiner Diktatoren abschüttelt, wird es wohl auch keinen Eurokommunismus mehr geben. Und das wäre kein Verlust, da auch die eurokommunistischen Parteien immer noch nicht expressis verbis erklärt haben, daß sie jegliche Diktatur ablehnen. Die Völker können sich den allgemeinen Wohlstand, die soziale Gerechtigkeit und jedermanns Freiheit auch ohne kommunistische Parteien erkämpfen.


Sie berichten in Ihrem Buch, wie sehr sich gerade die deutsche Sozialdemokratie in entscheidenden Situationen der Geschichte fehlverhielt. So waren die deutschen Sozialdemokraten lange vor Beginn des Ersten Weltkrieges die Hauptgegner einer konsequent antimilitaristischen Strategie, wie sie beispielsweise von den französischen Sozialisten gefordert und praktiziert wurde. Überhaupt betrieben die Sozialdemokraten eine Politik ohne revolutionäre Zielsetzung: „Sie trieben nicht den Gang der Entwicklung vorwärts, sondern ließen sich von den Ereignissen treiben.“ Welche Schlußfolgerungen lassen sich nun aus dem historischen Verhalten oder Fehlverhalten der deutschen Sozialdemokratie für deren gegenwärtige politische Strategie ableiten? Könnte man sagen, daß sich die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Grundstruktur bis heute nicht verändert hat? Ist es vielleicht das Schicksal dieser Sozialdemokratie „antirevolutionär“ zu sein?

Eine Revolutionspartei war die deutsche Sozialdemokratie nie. Ihr Vorsitzender zur Zeit des Zusammenbruchs des Kaiserreiches, Friedrich Ebert, nachmaliger Präsident der Weimarer Republik, haßte die Revolution „wie die Pest“. Gewiß half die SPD beim Aufbau der Demokratie, aber sie war ein Koloß auf Lehmfüßen, der nicht vermochte, die Demokratie gegen den Ansturm Hitlers zu verteidigen. Formaldemokratie gibt es auch in der heutigen Bundesrepublik, freilich mit Mängeln und Übeln. Gewiß sind von den zehn Forderungen des Kommunistischen Manifestes aus dem Jahre 1848 neun verwirklicht. Dafür gibt es jedoch Sozialprobleme anderer Art, die einer Lösung harren. Jedenfalls ist die Situation zur Zeit nicht revolutionär. Es geht heute auch nicht um die Frage revolutionär oder antirevolutionär, sondern um gewaltsamen oder friedlichen Fortschritt. Daß alle sozialen Probleme auf den Barrikaden gelöst werden können, daran glauben gegenwärtig auch nicht mehr die Anarchisten.

Für die SPD müßte es sich heute darum handeln, die politische Demokratie mit der Wirtschaftsdemokratie zu ergänzen, wenn sie ihr Ziel, die soziale Demokratie, erreichen will. Das kann aber nur erreicht werden, wenn die Macht des Monopolkapitals gebrochen wird. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Nehmen wir an, die Kommunisten würden im Bonner Bundestag die Mehrheit erringen - ich weiß natürlich, daß dies zur Zeit eine abstrakte Hypothese ist - und versuchen, eine Wirtschafts- und Sozialordnung nach dem Modell der DDR einzuführen. Die Folge wäre ein politisches Virement a la Hitler bei umgekehrten Rollen mit eventuellem Einmarsch der Roten Armee. Und dann?

Die Sterilität des östlichen Staatskommunismus einerseits und die Entwicklung der Gemischt- oder Pluralwirtschaft im Westen andererseits haben gezeigt, daß eine gerechte Sozialordnung nicht durch eine einzige Gewaltrevolution erreicht werden kann, daß sie Stück für Stück, Tag für Tag in zähen Kämpfen errungen werden muß. Zur Zeit sind Arbeitslosigkeit und Inflation zwei große Übel, die innerhalb der kapitalistischen Privatwirtschaftsordnung schwer zu beseitigen sind. Seit Jahren suchen im Auftrag von Regierungen, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften Tausende von Sachverständigen nach Mitteln zur Beseitigung dieser Übel. Bisher vergeblich. Selbst über die Ursachen sind sich die „Gelehrten“ nicht einig. Dennoch liegt die Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Reichweite: Verkürzung der Arbeitszeit an Stelle von Arbeiterentlassungen. Utopie? Realität, antwortet die Geschichte. Im Jahre 1900 betrug die wöchentliche Arbeitszeit 65 bis 70 Stunden, heute beträgt sie 40 Stunden. Das heißt, 25 bis 30 Stunden weniger! William Morris, der in seinem Ende des vorigen Jahrhunderts veröffentlichten Buche „Kunde von nirgendwo“ eine tägliche Pflichtarbeit von 2 Stunden voraussah, dürfte recht behalten.

Einer blutigen Revolution bedarf es nicht, um die kapitalistische Monopolwirtschaft zu beseitigen. Entschlossenes Handeln aber ist erforderlich. Sozialdemokraten und Gewerkschaften sind zu einer solchen Aktion aufgerufen. Dazu freilich sind Tatkraft und jener Wagemut erforderlich, den Danton mit dem Wort audace! nochmals audace und immer wieder audace ausdrückte. Werden SPD und DGB diesen Wagemut aufbringen? Ich bezweifle es.


An zahlreichen Stellen Ihres Buches weisen Sie auf das enge Zusammenwirken der Anarchisten mit der Gewerkschaftsbewegung hin, wenn es darum geht, gemeinsame soziale oder politische Ziele zu erreichen. Das trifft doch aber in der Hauptsache wohl nur fur die Vergangenheit zu. Wie steht es heute mit gemeinsamen Initiativen von Anarchisten und Gewerkschaften?

Die Anarchisten bemühten sich stets um den Kontakt mit den Gewerkschaften, war doch die Befreiung der Arbeiterklasse wichtigstes Anliegen der allgemeinen Menschheitsbefreiung, das Ziel des Anarchismus. Ich erinnere mich an ein Gespräch über dieses Thema mit Peter Kropotkin 1920 in Rußland. Der alte Anarchist war begeistert über den Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und bedauerte, zu alt zu sein, um an dieser großen Bewegung noch mitwirken zu können.

Ich habe bereits in einem anderen Zusammenhang die fünf Anarchisten erwähnt, die 1887 in Chicago für ihren Einsatz im Gewerkschaftskampf der Arbeiter mit dem Leben büßen mußten. In Deutschland hatten die Anarchisten in den großen von den Sozialdemokraten dominierten Gewerkschaften wenig Einfluß, nur mit den kleinen syndikalistischen Verbänden hatten sie Kontakte. In England und den skandinavischen Ländern sind die Gewerkschaften meist kollektiv den Arbeiterparteien angeschlossen. In Frankreich stammt die gewerkschaftliche Grundsatzerklärung, die famose Charte d' Amiens von 1905, aus der anarchistischen Ideologie. Heute ist die alte CGT (Gewerkschaftsbund) in den Händen der Kommunisten. In Spanien gab es seit Anfang unseres Jahrhunderts zwei rivalisierende Gewerkschaftsbünde, die sozialistische UGT und die anarcho-syndikalistische CNT. Beide wurden von Franco aufgelöst. Heute gibt es mehrere gewerkschaftliche Landesorganisationen. Die CNT ist aufs neue erstanden und nach wie vor anarchistisch eingestellt. Ich möchte noch auf die Argentinische Arbeiterföderation FORA hinweisen, die bereits im vorigen Jahrhundert von Anarchisten gegründet wurde und jahrzehntelang der stärkste Gewerkschaftsbund des Landes war, bis er von der Diktatur Peron aufgelöst wurde. Auch heute noch gibt es nur die von Peron gegründeten Staatsgewerkschaften...

Worin besteht nun der prinzipielle Unterschied zwischen Syndikalismus und Anarchismus? Das Wort syndicalisme bedeutet in Frankreich nur Gewerkschaftsbewegung. In Deutschland versteht man unter Syndikalismus eine besondere, mit dem Anarchismus verwandte Gewerkschaftsrichtung. Das Verhältnis zwischen beiden könnte man mit Schillers Worten fixieren: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, wobei Anarchismus als Körper verstanden werden könnte. Anarchismus ist das Ideal, das Ideelle, der Inhalt, Syndikalismus das Konkrete, das Organisatorische, die Form.

Seinen Ursprung hat der Syndikalismus im bakunistischen Flügel der I. Internationale (1866-1872). Er fand in Frankreich, Spanien, Italien, Portugal und Lateinamerika besondere Verbreitung. In Deutschland wurde die Freie Arbeiter-Union (Anarcho-Syndikalisten) von Hitler aufgelöst, seitdem gibt es bei uns keine syndikalistischen Gewerkschaften mehr.

In syndikalistischer Sicht sollen die Gewerkschaften nicht nur den Kampf für die soziale Hebung der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft führen, sondern gleichzeitig auch die Keimzellen einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung sein. Der Anarcho-Syndikalismus ist, wenn man so will, ein dritter Weg neben der Sozialdemokratie und dem Kommunismus. Diese wollen ihr Ziel durch friedliche oder gewaltsame Eroberung der Staatsgewalt erreichen, die sozialistische Neuordnung von Staats wegen einführen. Die Syndikalisten streben danach, die Lohn- und Gehaltsempfänger durch Übernahme der Betriebe, durch Gründung von Kollektivwirtschaften und Genossenschaften aller Art eine neue,sozial gerechte Ordnung aufzubauen.

Während des spanischen Bürgerkrieges wurde die syndikalistische Doktrin zu einem großen Teil verwirklicht. Ich befand mich seinerzeit im Lande und habe dabei von Anfang bis Ende mitgemacht. Und da ich 1920 ein halbes Jahr in Rußland war, hatte ich die Möglichkeit, die spanische Sozialrevolution mit der russischen zu vergleichen. Welch ein Unterschied! In Rußland wurde alles von den Bolschewisten durch Verordnungen und Dekrete staatlich eingeführt, im republikanischen Spanien warteten die Anarcho-Syndikalisten nicht auf Befehle von oben. Auf Belegschaftsversammlungen wurde beschlossen, die Betriebe in Kollektiveigentum umzuwandeln, die hohen Direktorengehälter abzuschaffen, die Arbeitslöhne zu erhöhen, die Arbeitszeit zu verkürzen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Auf dem Lande beschlossen Landarbeiter, Pächter und zahlreiche Kleinbauern freiwillig den Grund und Boden der Dorfgemarkung gemeinsam zu bebauen, die Landprodukte gemeinsam zu verkaufen und den Erlös unter alle gleichmäßig aufzuteilen. In einigen Dörfern schaffte man das Geld im Innern der Gemeindewirtschaft ganz ab. In den Industriebetrieben machte man rasch Fortschritte und gründete sogar neue Industriezweige in Katalonien.

Ein ähnliches Sozialexperiment begann bereits vorher in Israel. Jüdische Einwanderer bauten ihre Siedlungen auf kollektivistischer Basis auf. Privateigentum an Land und Produktionsmittel gab es nicht. Man organisierte kollektive Arbeitsgruppen, alle aßen im gemeinsamen Speisesaal, jeder bewohnte sein eigenes Haus, erhielt Kleidung gratis und das gleiche Bücher- und Feriengeld. Es gab weder Reiche noch Arme, kein hoch und kein niedrig, Traktorenführer, Lehrer, Arzt und Verwalter hatten das gleiche Lebensniveau. Das Lehrwesen war vorbildlich, nicht wenige Städter schickten ihre Kinder in die Kibbuzschule. Die Kibbuzniks bekannten sich weder zum Anarchismus noch zum Syndikalismus. Es gab - und gibt - Kibbuzim von Sozialisten, Kommunisten und auch religiösen Juden. 1950 und 1960 habe ich die Gemeinschaftssiedlungen Israels - jeweils mehrere Monate - besucht, ihren organisatorischen Aufbau studiert und in spanischer Sprache ein Buch darüber veröffentlicht. Die anarchosyndikalistischen Grundsätze, die in den spanischen Colectividades oder den israelischen Kibbuzim ihren Niederschlag finden, sind keine Utopien. Im freiheitlichen Kollektivismus sind philosophischer Anarchismus und ökonomischer Syndikalismus in einer harmonischen Symbiose vereint.


Auch das jugoslawische Selbstverwaltungs-Experiment ist stark von anarchistischen Ideen inspiriert, wie sie in den Colectividas während der dreißiger Jahre in Spanien und später in den israelischen Kibbuzim verwirklicht wurden. Worauf führen Sie die schwere Krise zurück, in die das jugoslawische Selbstverwaltungs-Modell mehr und mehr geraten ist?

Die Kibbuzim wurden von jüdischen Einwanderern freiwillig gegründet. Auch die Kollektivwirtschaften während des spanischen Bürgerkrieges verdankten ihre Existenz der freien Initiative der werktätigen Bevölkerung in Stadt und Land. In beiden Fällen gab es keine Anordnung von oben, keinen Befehl, keinen Gehorsam. Das war freiheitlich, anarchistisch, ohne Herrscher noch Beherrschte. Das jugoslawische Selbstverwaltungsgesetz wurde von einer marxistischen Regierung erlassen. Das war autoritär. Wie es zur jugoslawischen Selbstverwaltungsreform kam, darüber berichtet Milovan Djilas in seinem Buch „Die unvollkommene Gesellschaft“. Das kommunistische System, das nach Abzug der deutschen Truppen in Nachahmung des russischen Modells eingeführt worden war, funktionierte nicht. „Das Land erstickte unter dem Unkraut der Bürokratie“, schrieb Djilas. „Die Parteiführer selbst wurden von Zorn und Entsetzen erfaßt über die unausrottbare Willkür der Apparate, die sie selbst geschaffen hatten und die ihnen ihre Herrschaft erhielten. Nach dem Konflikt mit Stalin entdeckte ich bei erneuter Lektüre des Kapitals von Karl Marx, daß in der künftigen Gesellschaft die unmittelbaren Produzenten in freier Vereinigung selbst über die Produktion und die Verteilung entscheiden“. Djilas erzählt weiter, daß ihm dabei der Gedanke kam, in Jugoslawien diese Idee von Marx zu verwirklichen und daß es ihm gelungen sei, auch Tito davon zu überzeugen.

Im Juni 1950 wurde das Gesetz zur Leitung der staatlichen Wirtschaftsbetriebe durch das Arbeitskollektiv verkündet. Später kamen weitere gesetzliche Ergänzungen hinzu. Nach diesem Gesetz wurde die Wirtschaftsleitung dezentralisiert. Die Wirtschaftsführer und Fabriksdirektoren wurden nicht mehr von Belgrad für das ganze Land eingesetzt, sondern von den regionalen und kommunalen Ämtern bestimmt. Die Arbeiter bzw. Belegschaftsversammlungen haben nicht das Recht, ihre eigene Leitung zu wählen. Die Steuern, die der Betrieb vom Gewinn an den Staat abzuführen hat, wurden von 49 auf 29 Prozent herabgesetzt. Bei Investitionskapitalanleihen von den gleichfalls sich selbst verwaltenden Banken mußten oft bis zu 30 Prozent Zinsen bezahlt werden. Wurden unrentable Unternehmen stillgelegt, dann verloren die Arbeiter ihre Beschäftigung; die Arbeitslosenkrise nahm bedrohliche Formen an. Zur gleichen Zeit gab es im kapitalistischen Westen Vollbeschäftigung. Die Grenzen wurden geöffnet, 800.000 arbeitslose Jugoslawen hatten 1970 im Westen Arbeit gefunden, 274.000 waren im Lande selbst als erwerbslos registriert.

Das Selbstverwaltungsgesetz gibt den Arbeitern theoretisch ein Recht auf Gewinnbeteiligung. Wie es damit in der Praxis aussieht, geht aus einer Rede Titos in Split hervor über die in der Belgrader Tageszeitung Politika vom 7. Mai 1962 berichtet wurde. „Es gibt Fälle“, sagte Marschall Tito, „in welchen das Spitzengehalt zwanzig Mal höher ist als der Grundlohn, und wo die niedrigen Lohnempfänger sich mit einer Gewinnbeteiligung von 3.000.- Dinar begnügen müssen, während die Direktoren bis zu 80.000-Dinar erhalten“.

Diese wenigen Beispiele - in einer Aufsatzreihe der historischen Zeitschrift „Damals“ habe ich ausführlicher hierüber berichtet - zeigen die Unzulänglichkeiten der jugoslawischen Selbstverwaltung. Von den drei Selbstverwaltungswirtschaften, die ich von innen her kennengelernt habe, - das israelische, das spanische und das jugoslawische - ist letzteres das dürftigste.

Zum Schluß ein kleines Erlebnis. Bei einem Besuch auf dem Staatsgut Blje bei Osijek, Ostkroatien, zeigte mir die Frau des Landwirtschaftsingenieurs ihr schönes Einfamilienhaus mit einem Volkswagen in der Garage und einem Obstgarten im Hintergrund. Sie erzählte mir, daß sie die Ferien mit ihrem Mann in einem herrlichen Badeort an der Adria verbringe. Als ich danach bei einem Rundgang durch die zum Gut gehörende Fleischkonservenfabrik eine Arbeiterin fragte, ob auch sie in den Ferien an die Adria reisen werde, sah sie mich erstaunt an und brachte schließlich gepreßt hervor, daß sich das doch nur die von oben leisten können.


Herr Souchy, wie beurteilen Sie vom anarchistischen Standpunkt die heute überall entstehenden Bürgerinitiativen?

Bürgerinitiativen propagierten bereits anfangs unseres Jahrhunderts die Anarcho-Syndikalisten unter dem Namen „direkte Aktion“. Nach dem Zweiten Weltkrieg veranstaltete die pazifistische Jugendbewegung erst in England und danach auch in Deutschland Friedens-Ostermärsche. Später sprach man in der sozialistischen Jugend Deutschlands von außerparlamentarischen Aktionen.

Heute sind Bürgerinitiativen in Umlauf gekommen. Die Namen haben sich geändert, die Initiativen selbst sind geblieben. Es geht um das Recht zur direkten Mit- und Selbstbestimmung aller sozialen Gruppen in den öffentlichen Angelegenheiten und vor allem bei Schicksalsfragen der Menschheit. Initiativen von der Basis rufen das Volksgewissen zur Wachsamkeit gegenüber den Regierenden auf, sie sind Mahnung und Warnung gegen Bürokratisierung und Korruption. Sie geben Anstöße zur Regeneration der Institutionen, erfüllen die Formaldemokratie mit freiheitlichem Geist und neuem sozialen Inhalt.

Ich habe mich 1911 zum ersten Mal an einer Volksinitiative beteiligt. Die Aktion ging vom Sozialistischen Bund in Berlin aus. Wir verbreiteten eine Broschüre mit dem Titel „Abschaffung des Krieges durch Selbstbestimmung des Volkes“. Geplant war ein deutscher Arbeitertag, auf welchem Aktionen gegen einen Krieg beschlossen werden sollten. Die Tagung konnte nicht stattfinden, denn bereits die Broschüre wurde polizeilich beschlagnahmt. Der Autor konnte nicht angeklagt werden, denn die Schrift war anonym erschienen. Erst 1919 wurde er der Öffentlichkeit bekannt. Es war der Anarcho-Sozialist Gustav Landauer.

Das Verhängnis nahm seinen Lauf. 1914 Weltkrieg I., den unsere Initiative vergeblich zu verhindern suchte. Danach Diktaturen, 1939 Weltkrieg II. (Diktaturen gleich welcher Art sind Vorschulen des Krieges, beider Ziel ist Ausbreitung und Festigung der Herrschaft). Greift die Volksinitiative nicht ein, dann droht ein Weltkrieg III. Nicht der Kreml, nicht das Pentagon, weder der oberste Soviet noch das weiße Haus, aber auch keine Parlamente dürfen und sollen in Zukunft das Recht haben, Kriege zu erklären. Schaubühnen von Elitegremien a la SALT können das Verhängnis nur aufschieben. Werden sie es verhindern können? Die Entscheidung über eine so schicksalschwere Frage, wie der Krieg es ist, muß der Initiative der Völker überlassen bleiben, von jedem Volke selbst getroffen werden. Eine international kontrollierte Volksabstimmung, der eine von langer Hand vorbereitete gleichfalls international kontrollierte Aufklärungskampagne voranzugehen hat, muß die alleinige Instanz sein, über den Krieg zu entscheiden.

Das ist die wichtigste Bürgerinitiative der Gegenwart, für die ich plädiere. Utopie? War nicht im Jahre 1900 die 40-Stundenwoche auch eine Utopie? Eines Tages muß begonnen werden. Die Völker müssen sich endlich über die Köpfe ihrer Führer hinweg mündig machen. Es ist Zeit, höchste Zeit! Bürgerinitiativen zur Erhaltung des Weltfriedens gehören zum Waffenarsenal des Anarchismus.


Auf einer der ersten Seiten Ihres Buches steht der bemerkenswerte Satz, „daß die Freiheit aller nur erreicht werden kann, wenn sie sich auf das Selbstbewußtsein jedes Einzelnen stützt“. Was heißt heute „Selbstbewußtsein des Einzelnen“? Ist Freiheit in diesem Sinne überhaupt erreichbar, vor allem unter den Bedingungen der industriell-technologischen Welt?

Bei den Marxisten wird die Vokabel Klassenbewußtsein großgeschrieben, ist es doch die geistige Vorbereitung zur proletarischen Klassenherrschaft. Die jede Herrschaft ablehnenden Anarchisten ziehen das Wort Selbstbewußtsein vor. Ohne Selbstbewußtsein gibt es keinen Freiheitsdrang. Ein historisches Beispiel hierfür: Im alten Inkareich, dem ersten autoritären Planwirtschaftsstaat der Welt, fehlte den Indios jegliches Selbstbewußtsein. Von individuellem Eigenleben völlig entfremdet, bebauten sie mit angelernten und aufoktroierten Lobgesängen auf ihren Gott-Kaiser, dessen Felder und Ackergrund. Das Bewußtsein der persönlichen Menschenwürde war ihnen fremd. Der Geist der Rebellion existierte nicht in ihrem Bewußtseinsinhalt. Der Autoritätsglaube war zum Mystizismus erstarrt.

In Europa verlief die Entwicklung anders. Es gab und gibt Freiheitskämpfe, die in Etappen zwischen Evolution und Revolution verlaufen. Immer wieder kommt es zu Konfrontationen zwischen dem Freiheitsstreben der Menschen und den gesellschaftlichen Institutionen, dem gesetzlich Festgelegten und dem menschlich Wandelbaren. Die Freiheit wird vielfältig ausgelegt. Freiheit wofür, Freiheit wozu? Was ist sie: Ein Gefühl, eine Idee, ein Ideal, ein politisches Postulat, eine soziale Kategorie? Unbehagen und Schmerz, wenn man sie entbehrt, Freude und Glück, wenn man sie besitzt. Oft steht sie auf dem Kriegsfuß mit den von äußeren Mächten stipulierten Vorschriften. Philosophen aller Zeiten haben sie verschieden interpretiert. Thomas Hobbes, der Theoretiker des Absolutismus, für den der Mensch des Menschen Wolf war (homo homini lupus), verstand unter Freiheit Nichtvorhandensein von Hindernissen. William Godwin, der englische Theoretiker des Anarchismus zur Zeit der großen französischen Revolution, stellte die Freiheit einem unabhängigen Urteil gleich. Goethes Worte: „Im tiefsten gebunden wird man stets am freiesten sein“ mögen für die persönlichen Beziehungen von zwei verwandten Seelen zutreffen, für die sozialen Verhältnisse in einer Autokratie oder Diktatur haben sie keine Geltung. Die französischen Enzyklopädisten deuteten die Freiheit in verschiedenen Varianten. Bakunin und nach ihm auch Rosa Luxemburg verstanden darunter den Respekt vor der Freiheit des anderen. Freie Handlungen von Autokraten und Diktatoren bedeuten Unterdrückung für die Beherrschten.

Ausübung der eigenen Freiheit findet ihre Grenzen durch Verletzung der Freiheit des andern, eine Erkenntnis, die der Freiheitsdichter J. H. Mackay in den Vers kleidete: „Die Freiheit des andern ist Freiheit des einen, und die Freiheit küßt alle nur oder keinen“.

Nach einem Vortrag über den Anarchismus im Nationalradio von Montreal, Kanada, fragte mich eine Hörerin durchs Telefon, was ich unter Freiheit verstünde. Die vereinbarte Sendezeit legte mir Zeitbeschränkung auf. Ich wies kurz darauf hin, daß es im Englischen Sprachgebrauch zwei Wörter für die Freiheit gebe, liberty und freedom. Diese ist abstrakt, jene konkret. Liberties sind die vielen kleineren und größeren Freiheiten, die man sich unwidersprochen nimmt, freedom muß errungen und verteidigt werden. Der Gegensatz zwischen dem Freiheitsstreben des Einzelnen und dem von Gesetzen Erlaubtem besteht heute wie ehedem und läßt sich nicht leicht aus der Welt schaffen. Wir kennen unsere heutigen Freiheiten. Das Ausmaß zukünftiger Freiheiten hängt von unserem Selbstbewußtsein und von den Kämpfen ab, die wir für sie auszufechten bereit sind.


Ihrer Überzeugung: „Die schlechteste Demokratie ist der besten Diktatur vorzuziehen“, steht der berühmt-berüchtigte Ausspruch des marxistischen Philosophen Georg Lukacs entgegen: „Der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus“...

Beide Sentenzen sind typisch für die Denkart ihrer Autoren. Der Marxist denkt in dogmatischen, der Anarchist in freiheitlichen Kategorien. Mehr habe ich hierzu nicht zu sagen.


Anmerkung:  Das Gespräch führte Adelbert Reif 1977

Originaltext: Mytze, Andreas W. (Hg.): europäische ideen, Heft 39, 1978. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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