Rudolf Rocker - Auf der Suche nach neuen Wegen (1928)

Ich habe bereits in früheren Nummern des "Fanal" eine Anzahl Artikel veröffentlicht, in denen versucht wurde, den gegenwärtigen Zustand der anarchistischen Bewegung einer Analyse zu unterziehen und Mittel und Wege anzudeuten, wie die Krise, die sich fast überall in unsren Reihen bemerkbar macht, meiner Meinung nach überwunden werden kann. Ich habe mich damals hauptsächlich darauf beschränkt, Kritik zu üben an dem trockenen Doktrinarismus, der viele unsrer Genossen erfaßt hat und habe den Standpunkt vertreten, daß diese Passivität zuerst zu überwinden sei, bevor wir in der Lage sind, erfolgreich an die Probleme heranzutreten, welche durch den Weltkrieg und die Revolutionen in Rußland und Zentraleuropa aufgerollt wurden.

Daß in unsrer Bewegung schon seit langem nicht mehr alles ist, wie es sein sollte, darüber sind sich die meisten von uns vollkommen klar, welche die Bewegung in den verschiedenen Ländern mit einiger Aufmerksamkeit verfolgen. Überall, wo die Bewegung noch nicht vollständig in alten, von der Zeit überwundenen Anschauungen versteinert ist, die jeden lebendigen Geist abtöten und kein Interesse erwecken können für all die neuen Fragen, die das Leben uns stellt, macht sich unter unseren Kameraden das Bedürfnis bemerkbar, die Bewegung nach neuen Richtlinien umzuformen und den großen Problemen Rechnung zu tragen, die von allen Seiten auf uns einstürmen. Wir dürfen aber an diesen Problemen nicht achtlos vorübergehen, wenn wir nicht hoffnungslos einer weltfremden Ideologie verfallen wollen, deren Träger zwar nicht müde werden, stets die großen Endziele des Anarchismus im Munde zu führen, aber für die nächsten und notwendigsten Forderungen des sozialen Lebens nicht das geringste Verständnis aufbringen. Eine Bewegung verdient nur dann diesen Namen, wenn ihre Anhänger genug geistige Regsamkeit besitzen, an alle Probleme des modernen Lebens heranzutreten und stets bereit sind, ihre Ideen praktisch zu betätigen, wo immer ihnen durch die Erscheinungen des täglichen Geschehens Gelegenheit dazu gegeben ist. Nur eine solche Taktik schafft und erhält eine Bewegung. Wo sie nicht geübt wird, kann man überhaupt nicht von einer Bewegung reden, sondern nur von einem geistlosen Dahinvegetieren, das für die Verbreitung unsrer Ideen vollständig belanglos ist. Die stete phonographenhafte Proklamierung sogenannter "Endziele" hat nicht den Wert eines ausgeblasenen Eies, wenn den Anhängern einer Idee die praktische Betätigung fehlt, die allein imstande ist, ihre geistige Entwicklung zu fördern. Überall, wo Ideen nur noch alter Traditionen halber gehegt und gepflegt werden und lediglich die Routine dafür sorgt, daß sie nicht sterben können, ist das ein Zeichen, daß der lebendige Geist aus den Reihen ihrer Anhänger verschwunden ist und durch einen toten Doktrinarismus ersetzt wurde.

Das haben die besten unsrer Kameraden in den verschiedenen Ländern gut verstanden, und es ist ein erfreuliches Zeichen, daß die Stimmen derer, welche danach streben, der Bewegung neue Perspektiven ihres Wirkens zu erschließen, immer stärker werden und sich immer häufiger hören lassen. Man fühlt die Notwendigkeit, für die neuen Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechende Lösungen zu finden, um auf diese Weise die zerstreuten Elemente zu sammeln und ein gemeinschaftliches Vorgehen zu ermöglichen.

Nun ist auch unsre alte, unermüdliche Genossin Emma Goldman mit bestimmten Vorschlägen hervorgetreten, die den Zweck verfolgen, eine Einigung der aktiven Kameraden in den verschiedenen Ländern zu erzielen und der Bewegung neue Aktionsmöglichkeiten zu eröffnen. In einem von ihr veröffentlichtem Rundschreiben heißt es:

"Mir scheint, daß unsre alte, vor dem Kriege erschienene anarchistische Literatur nicht länger imstande ist, eine Antwort auf alle Forderungen zu geben, welche uns die Gegenwart gestellt hat. Ohne mich hier in nähere Erörterungen einlassen zu wollen, ob die anarchistische Literatur die Frage der praktischen Anwendung unsrer Ideen bisher überhaupt eingehend und richtig behandelt hat, stelle ich vielmehr die andere Frage, ob die Zeit nicht endlich gekommen ist für eine neue und volkstümlichere Interpretation dieser Ideen, wobei hauptsächlich auf die Erfahrungen des Weltkrieges, der russischen Revolution und der sich aus diesen Ereignissen ergebenden Entwicklungstendenzen des sozialen Lebens Gewicht zu legen wäre.

Ich bin der Meinung, daß zusammen mit dem heute fast allgemein zugestandenem Bankerott der sozialistischen Arbeiterparteien und der wachsenden Überzeugung von dem Durchfall des Bolschewismus und der revolutionären Parteidiktatur, sich die Aussichten für die anarchistische Propaganda wesentlich verbessert haben. Man will die Bedeutung des Anarchismus kennen lernen und fordert eine Erklärung unserer Ideen, die jeder klar verstehen kann; vor allem kommt es dem Neuling darauf an, zu wissen, wie sich der Anarchismus in der Praxis betätigen wird und mit was für Mitteln seine Ziele erreicht werden können.

Genügt es, Menschen, die sich für unsre Ideen interessieren, auf unsre alte Literatur zu verweisen? Ich bin nicht dieser Meinung. Diese Betrachtungen, die ich hier nur ganz kurz angedeutet habe, drängten mir die Überzeugung auf, daß eine der dringendsten Notwendigkeiten für uns die Belebung einer neuen anarchistischen Literatur sein muß, die sich in ihren Ausführungen speziell auf die letzten Erfahrungen unsrer gesellschaftlichen Entwicklung stützt: auf die russische Revolution, die revolutionären Ereignisse in Deutschland, die neuesten Entwicklungsphasen des Kapitalismus und auf die modernen Formen, welche der Industrialismus heute in den verschiedenen Ländern annimmt.

Die fundamentale Aufgabe einer solchen Literatur müßte meiner Meinung nach darin bestehen, daß in erster Linie folgende Fragen behandelt würden:

  1. Stellung der Anarchisten zum modernen Leben und seinen neuen Erscheinungsformen auf politischem, industriellem und landwirtschaftlichem Gebiet.
  2. Die Probleme der anarchistischen Propaganda in bezug auf die neuen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und auf die veränderten Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.
  3. Rechtfertigt die moderne Phase des Kapitalismus die alte sozialistische und anarchistische Auffassung über die soziale Revolution?
  4. Benötigt die alte Auffassung über die soziale Revolution nicht dringend einer Revision? Mit anderen Worten: Hat man bisher die destruktive Seite der Revolution nicht allzu sehr in den Vordergrund gestellt auf Kosten ihrer konstruktiven Bedeutung? Ist es daher nicht dringend notwendig, eine klarere Vorstellung über den Charakter der sozialen Revolution zu schaffen und einen besseren Ausgleich zwischen ihrer konstruktiven und destruktiven Seite herzustellen?
  5. Charakter einer anarchistischen oder einer vom Geiste des Anarchismus getragenen Revolution, mit Bezug auf die Fragen der politischen Parteien, der Diktatur und des Staates in der Zeit der Revolution.
  6. Die Aufgaben der Arbeitergewerkschaften und die Rolle des Anarcho-Syndikalismus in der Zeit der Revolution.
  7. Der Charakter und die Methoden einer Revolution, die sich im freiheitlichem Geiste vollzieht und der Verwirklichung einer anarchistischen Gesellschaft zustrebt.
  8. Mittel und Wege, die uns schon heute, jetzt gleich, in diesem Augenblick befähigen, in anarchistischem Sinne erzieherisch zu wirken und die nötigen Vorbereitungsarbeiten zu leisten, um die Revolution im Geiste anarchistischer Ideengänge zu befruchten. - Wie kann eine Wiederholung des bolschewistischen Experiments in der kommenden Revolution vermieden werden?
  9. Schaffung einer neuen Literatur, welche diese Fragen in direkter, konzentrierter und volkstümlicher Weise behandelt."

Soviel uns bekannt ist, hat bereits eine ganze Reihe bekannter Genossen aus der anarchistischen Welt zu diesen Vorschlägen Stellung genommen, und wir werden nicht verfehlen, ihre Meinungen später den Lesern des "Fanal" bekanntzugeben. Emma Goldmann bemerkt noch ausdrücklich, daß die angedeuteten Probleme noch mit einer ganzen Reihe anderer Fragen verknüpft sind, die natürlich in derselben Weise behandelt werden sollen, um die Bewegung mit neuem Geiste zu erfüllen.

***

Nun sind auch die spanischen Kameraden mit bestimmten Vorschlägen an die Öffentlichkeit getreten, was von umso größerer Bedeutung ist, als Spanien und die spanisch sprechenden Länder Südamerikas bisher die einzigen Länder gewesen sind, in denen der Anarchismus auf breitere Massen gewirkt hat und als wirkliche Massenbewegung angesprochen werden kann. Spanien kann in dieser Hinsicht den Anarchisten der ganzen Welt als Vorbild dienen. Es ist das Land, wo die Anarchisten von Anfang an an allen Kämpfen der Arbeiterschaft und ihrer gewerkschaftlichen Organisationen aktiv Anteil genommen haben. Nur auf diese Weise waren sie imstande, die proletarischen Organisationen mit ihrem Geiste zu erfüllen und den furchtbarsten Verfolgungen der Reaktion Trotz zu bieten. Aus diesem Grunde versteinerte die Bewegung in jenem Lande niemals in einem toten Doktrinarismus, weil sie stets Beziehungen zum praktischen Leben hatte und ihre Ideen immer wieder im täglichen Kampfe erproben konnte.

Nun hat unser Bruderorgan "Despertad", das der "Confederacion General del Trabajo" angeschlossen ist, die Initiative zur Herausgabe eines neuen "Certamens" ergriffen, an dem sich auch Genossen anderer Länder beteiligen sollen. Um dem deutschen Leser eine Vorstellung zu geben, was ein Certamen bedeutet, sei hier kurz gesagt, daß ein Certamen eine Art literarisches Preisausschreiben ist, das von der Bewegung inszeniert wird. Die Gruppen und Organisationen im ganzen Lande finden sich zu diesem Zwecke bei gewissen Gelegenheiten zusammen, um das Certamen so vielseitig und interessant wie möglich zu gestalten. Jede Gruppe stellt gewisse Fragen zur öffentlichen Diskussion, an deren erschöpfender und klarer Beantwortung ihr besonders gelegen ist. Ein zu diesem Zwecke ernanntes Komitee macht alle Fragen durch Rundschreiben und in der Presse bekannt. Ein besonderer Ausschuß prüft alle eingelaufenen Antworten, von denen die besten in einem eigenen Sammelbande veröffentlicht werden. Meistenteils sucht man das Interesse noch dadurch zu heben, daß jede Gruppe für die beste Beantwortung der von ihr gestellten Fragen besondere Preise ausgesetzt, die gewöhnlich aus Büchern, anderen Gegenständen oder barem Gelde bestehen.

Auch bei dieser Gelegenheit zeigt sich das Solidaritätsgefühl im schönsten Lichte, indem die größeren Organisationen in den Städten, die über reichere Mittel verfügen, den kleineren Gruppen, besonders in den ländlichen Distrikten, bei der Ausschreibung ihrer Preise finanziell behilflich sind. Natürlich sind diese Preise bloß als Ansporn gedacht.

Wie die Redaktion von "Despertad" mitteilt, war es unser alter Genosse Max Nettlau, der erst vor kurzem von einer längeren Reise aus Katalonien zurückgekehrt ist, welcher den spanischen Genossen die Herausgabe des neuen Certamens warm ans Herz gelegt hat. Die Gruppe "Solidaridad" hat denn auch sofort die Initiative ergriffen und folgende Fragen zur Beantwortung den Genossen vorgeschlagen:

  1. Der freiheitliche Sozialismus und die Rationalisierung der Arbeit.
  2. Beziehungen des Anarchismus zum revolutionären Syndikalismus.
  3. Das ethische Prinzip in der Aktion.
  4. Unsere Gründe gegen den Militarismus und den Nationalismus; die Ursachen, warum die antimilitaristische und antinationale Propaganda bisher keine größeren Erfolge aufzuweisen hat.
  5. Das technische Problem in Zeiten revolutionärer Umgestaltungen.
  6. Stärke und Schwächen der anarchistischen Propaganda. Wege, die letzteren auszumerzen.
  7. Tätigkeit der Anarchisten, um den Triumph der Diktatur in revolutionären Perioden zu verhindern.
  8. Rolle der Arbeitersyndikate als Verwaltungsorgane während einer siegreichen Revolution.
  9. Vorstellung einer freien, anarchistischen Gesellschaft der Zukunft.

Die Initiatoren stellen außer diesen Hauptfragen noch mehrere andere Probleme zur Diskussion, doch sind die ersten neun Punkte die weitaus wichtigsten.

Wir sehen aus alledem, daß die aktiven Kameraden in den verschiedenen Ländern ernstlich dabei sind, neue Mittel und Wege ausfindig zu machen, um die Bewegung mit neuem Leben zu erfüllen und ihr neue Gebiete ihrer Tätigkeit zu erschließen. Wir werden es uns angelegen sein lassen, die Leser des "Fanal" über alle wichtigen Erscheinungen dieser Art auch in der Zukunft auf dem Laufenden zu erhalten.

Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 11, August 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)


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